Korporatismus

Korporatismus

Korporatismus (italienisch: corporativismo) bezeichnet ein politisches und ökonomisches System, in dem die einzelnen Interessengruppen (Korporationen), vornehmlich der Arbeitgeber und Arbeiternehmer, nicht in einem feindschaftlichen, von Streiks und Klassenkämpfen geprägten Verhältnis stehen, sondern Löhne und Arbeitsbedingungen in friedlichem Einvernehmen aushandeln. Das Wort „Korporatismus“ entstammt dem lateinischen Wort „Corporatio“, was so viel wie „Körperschaft“ bedeutet.

Inhaltsverzeichnis

Historisches Auftauchen

Der Korporatismus tauchte erstmals im italienischen Faschismus unter Benito Mussolini auf, wurde dann aber später auch im Austrofaschismus unter Engelbert Dollfuß, im Nationalsozialismus unter dem Namen „Volksgemeinschaft“ und von Salazar in Portugal unter dem Namen „Estado Novo“ übernommen. Mussolinis Vorbild war der „moderne Kapitalismus“ des brasilianischen Diktators Getúlio Dornelles Vargas in den 1920er Jahren.

Der Korporatismus versucht Klassenkonflikte durch eine Anzahl von institutionellen Mechanismen zu lösen. Soziale Gruppen sollen ihre Interessen in jeweils eigenen Verbänden zusammenfassen, etwa in Bauernverbänden, Unternehmerverbänden, Gewerkschaften. Die zusammengefassten Interessen der verschiedenen Verbände sollen dann zusammengebracht und harmonisiert werden. Einige Spielarten des Korporatismus setzen dabei auf direkte Verhandlungen, bei anderen soll der Staat eine übergeordnete Entscheidungsinstanz bilden, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist.

Einerseits entstand er aus einer Reaktion auf die verheerenden Wirtschaftskrisen Anfang des 20. Jahrhunderts, welche ein weltweites Misstrauen gegen die freie Marktwirtschaft und den klassischen Liberalismus hervorgerufen haben und vielerorts eine Rückbesinnung auf die mittelalterliche Ständeordnung hervorriefen. So ist der katholische Korporatismus in der Enzyklika Quadragesimo anno von 1931 enthalten. Ziel der daraus abgeleiteten Sozialpolitik ist die Wiedererrichtung von Berufsgruppen und -verbänden als Bausteine der gesellschaftlichen Ordnung.

Andererseits soll der Korporatismus den konfliktorientierten sozialistischen und kommunistischen Klassenkampf vermeiden und friedliche Verhandlungen zwischen den Korporationen an seine Stelle setzen. Ein weiterer theoretischer Einfluss war der Syndikalismus, dem Mussolini in frühen Jahren anhing.

Ein weiterer präfaschistischer Theoretiker war Adam Müller, Berater des Fürsten von Metternich. Müller wollte der „Zwillingsgefahr“ des Egalitarismus der französischen Revolution und des Laissez-faire-Kapitalismus englischer Herkunft (Manchesterliberalismus) mittels einer dritten Ideologie Einhalt gebieten. Durch die Aversion gegen die freie Marktwirtschaft der meisten deutschen Aristokraten gewannen Müllers Schriften großen Anklang.

In Italien wurde die faschistische Ideologie vor allem von Alfredo Rocco vorangetrieben, der später unter Mussolini einen großen politischen Aufstieg verzeichnen konnte. Er ließ die italienische Wirtschaft in 22 Korporationen aufteilen, die alle in der Camera dei Fasci e delle Corporazioni vertreten waren.

Historisches Muster des Korporatismus war wohl insbesondere die Körper-Gleichnis-Rede von Konsul Agrippa Menenius Lanatus, der mit dieser demagogischen Rede zu Beginn des Ständekampfes zwischen den Plebejern und den Patriziern Roms anlässlich der ersten secessio plebis 494 v. Chr. die auf den Mons Sacer (heiligen Berg) generalstreikend aus Rom "ausgewanderten" Plebejer zur Rückkehr nach Rom und zur erneuten Unterjochung unter die Herrschaft der Patrizier überredete.

Formen des Korporatismus

Klassischer Korporatismus

Der klassische Korporatismus oder auch staatlich-autoritäre Korporatismus ist eine „von oben“, von staatlicher Seite, aufgezwungene Form des Korporatismus. Seine Merkmale sind eine begrenzte Anzahl gebildeter Zwangsverbände mit verbundener Zwangsmitgliedschaft, in Anlehnung an das mittelalterliche Zunftwesen. Die einzelnen Verbände stehen in keinerlei Konkurrenz zueinander und sind nach ihren funktionalen Aspekten voneinander abgegrenzt. Innerhalb ihrer Aufgabenbereiche verfügen sie über ein bestimmtes Repräsentationsmonopol, was mit der Erfüllung bestimmter staatlicher Auflagen in Verbindung steht. Dies betrifft insbesondere die Wahl des Führungspersonals, der Artikulierung von Ansprüchen oder Interessen. Die Arbeit der Verbände ist bereits auf ein fest vordefiniertes Gemeinwohl ausgerichtet. Es ergibt sich also nicht wie im Pluralismus aus einem Gruppenkonsens, sondern durch staatliche Festsetzung.

Formen des staatlich-autoritären Korporatismus findet man vorwiegend in totalitären Regimen wieder.

Neokorporatismus

Hauptartikel: Neokorporatismus

Der Neokorporatismus, liberaler Korporatismus oder auch gesellschaftlich-liberaler Korporatismus ist eine „von unten“, von gesellschaftlicher Seite, erwirkte Form des Korporatismus. Er zeichnet sich insbesondere durch die freiwillige Einbindung frei gebildeter Interessenverbände in staatshoheitliche Aufgabenfelder aus. Begrenzungs- und Zentralisierungstendenzen innerhalb bestimmter Aufgabenbereiche werden nicht durch staatliche Festsetzung erreicht, sondern allein durch die Gesellschaft bestimmt. Seinen Ausdruck findet diese Form des Korporatismus im sogenannten Tripartismus, das heißt in der Konzertierung von Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden.

Vor allem in Deutschland und anderen sozialen Marktwirtschaften verbreitetes Merkmal der politischen Kultur: Die Arbeitgeber und Arbeitnehmer tragen ihre Auseinandersetzungen zum Beispiel über unterschiedliche Lohnforderungen nicht durch Streik und andere Mittel des Arbeitskampfes aus, sondern versuchen im Interesse der Nationalökonomie (des „Standorts“) möglichst reibungslos zu einer Einigung zu gelangen. Kritiker werfen dabei vor allem den Gewerkschaften vor, die Interessen ihrer Mitglieder nicht nachdrücklich genug zu vertreten.

Den gesellschaftlich-liberalen Korporatismus findet man insbesondere in Konkordanzdemokratien vor. Ein Beispiel hierfür wäre auch das österreichische Modell der Sozialpartnerschaft

Kritik am Korporatismus

Innerhalb der Korporatismuskritik ergeben sich unterschiedliche Felder von Vor- und Nachteilen für den Staat und die Wirtschaft. Insbesondere betrifft dies den Neokorporatismus, da er von größerer Aktualität ist als die klassische Form.

Vor allem der klassische Korporatismus wird von Wirtschaftsliberalen als eine staatlich kontrollierte Planwirtschaft angesehen, deren Unterschied zur kommunistischen Planwirtschaft nur darin bestehe, dass die ursprünglichen Unternehmer nicht enteignet, sondern in das Plansystem integriert werden. Dadurch ergeben sich staatlich geschützte Kartelle, wodurch Wohlfahrtsverluste gegenüber einem freien Markt entstehen.

Von Vorteil innerhalb des Neokorporatismus erweist sich in erste Linie die Steigerung der Regierbarkeit. Ein Staat kann ohne Informationen aus Wirtschaft und Gesellschaft nur schlecht auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren und ist somit auf die Informationen aus Interessenverbänden angewiesen. Es kommt also zu einer Entlastung staatlicher Behörden bzw. Ministerien, da die Interessenverbände ihr Wissen zur Verfügung stellen. Des Weiteren treten Verbände innerhalb ihrer Aufgabenfelder als gemeinwohlorientierte Steuerungsinstanzen auf. Trotzdem besteht eine Tendenz zur Institutionalisierung, eine Eigenschaft des Delegationsprinzips. In der Folge zeigt sich Korporatismus als Mechanismus, der ursprünglich als Vertreter von Interessen bestimmte Delegierte dazu bringt, sich mehr am Verhandlungserfolg mit den Korporierten der Verhandlungsgegner zu orientieren, als an der Vertretung seiner Basis.

Als ein erheblicher Nachteil erweist sich die Gefahr der „Gefangennahme“ staatlicher Behörden, sowie der Prozess der „Deparlamentarisierung“. Ein Prozess, der die Arbeit von Interessen allein nur noch auf die Exekutive verlagert und das Parlament zu umgehen scheint. Ziel ist es dabei, bereits im Referentenstadium auf einzelne Gesetzesentwürfe einzuwirken. Dies betrifft insbesondere die Interessenarbeit traditioneller Verbände (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) innerhalb der Wirtschaftspolitik. Es besteht also das Problem, dass es lediglich zur Erfüllung eines partikularen Gemeinwohls zu Gunsten organisierter Spitzenverbände kommt.

Siehe auch

Literatur

  • Heidrun Abromeit: Interessenvermittlung zwischen Konkurrenz und Konkordanz. Opladen 1993, S. 146–176
  • Ulrich von Alemann, Erhard Forndran (Hrsg.): Interessenvermittlung und Politik. Westdeutscher Verlag 1983
  • Ulrich von Alemann, Rolf. G. Heinze (Hrsg.): Verbände und Staat. Vom Pluralismus zum Korporatismus. Opladen 1979
  • Realino Marra, Aspetti dell’esperienza corporativa nel periodo fascista, "Annali della Facoltà di Giurisprudenza di Genova", XXIV-1.2, 1991-92, S. 366-79
  • Roland Czada: Konjunkturen des Korporatismus. Zur Geschichte eines Paradigmenwechsels in der Verbändeforschung. In: Wolfgang Streeck (Hrsg.): Staat und Verbände. (= PVS-Sonderheft 25). Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, S. 37–64 Online-Version
  • Clemens Jesenitschnig: Gerhard Lehmbruch – Wissenschaftler und Werk. Eine kritische Würdigung. Tectum, Marburg 2010, ISBN 978-3-8288-2509-3, Kapitel 4 (zur Genese der modernen sozialwissenschaftlichen Analyse von „Korporatismus“)
  • Bernhard Weßels: Die Entwicklung des deutschen Korporatismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26-27, 2000, S. 16–21 Online-Version

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