Lübecker Totentanz

Lübecker Totentanz

Der Lübecker Totentanz war eine der bekanntesten und wirkungsmächtigsten Totentanz-Darstellungen. Er wurde beim Luftangriff auf Lübeck in der Nacht zum 29. März 1942 vollständig zerstört.

Vorkriegsaufnahme des Lübecker Totentanzes (Kopie von 1701) (ohne Inschriften)
Vorkriegsaufnahme des Lübecker Totentanzes (Kopie von 1701) (ohne Inschriften)

Inhaltsverzeichnis

Entstehung und Gestalt

aus einem Prospekt anno 1842 entnommen: Ausführliche Beschreibung und Abbildung des Todtentanzes in der St. Marien-Kirche zu Lübeck. käuflich zu erwerben beim Küster, Mengstraße 206. Das Bild nach der Kopie 1701 von Anton Wortmann
Lage des Totentanzes in der Marienkirche

Der Lübecker Totentanz entstand 1463 wohl unter dem Eindruck des schwarzen Todes, der Pest, in der Marienkirche zu Lübeck, nachdem ein erster Totentanz wohl in La Chaise-Dieu angefertigt wurde. Er bestand aus mittelniederdeutschen Reimversen und zugehörigen Bildern auf Leinwand und befand sich in der später nach ihm so benannten Totentanzkapelle im nördlichen Querschiff. Die Kapelle diente zur Entstehungszeit des Totentanzes als Beichthaus und enthielt entsprechendes Gestühl mit abgetrennten Sitzen für die Beichte hörenden Geistlichen; der Fries erinnerte die hier zur Beichte kommenden Menschen an ihre Vergänglichkeit.

Das Werk wird im allgemeinen Bernt Notke zugeschrieben und auf eine mittelniederländische Vorlage zurückgeführt. Der Fries erstreckte sich als fortlaufende Bilderwand oberhalb des Gestühls der Kapelle in einer Länge von fast 30 Metern und einer Höhe von zwei Metern. Er zeigte vor der Kulisse der Stadt Lübeck und der sie umgebenden Landschaft 24 (2 mal 12) Paare in Lebensgröße – jeweils eine Todesfigur und eine Standesfigur in hierarchischer Abfolge der Ständegesellschaft. In den Versen spricht jeweils die Person den Tod an. Dieser antwortet und wendet sich dann im letzten Vers seiner Antwort dem nächsten „Tanzpartner“ zu.

Verteilung des Totentanzes in der Kapelle

Der Reigen begann mit dem Papst, gefolgt vom Kaiser und der Kaiserin (einer von zwei weiblichen Figuren), dem Kardinal und dem König (an der Westwand: 1).

An der Nordwand folgen der Bischof (2), der Herzog (1799 bei Erweiterung des Nordportals entfernt), der Abt und der Ritter (3).

Die eindrucksvollste Figurenfolge bestand aus Kartäusermönch, Edelmann (seit 1701: Bürgermeister), Domherrn, Bürgermeister (seit 1701: Edelmann) und Arzt vor der Silhouette der Stadt Lübeck (4).

Es folgten an der Ostwand Wucherer, Kaplan, Kaufmann (seit 1701: Amtmann), Küster, Amtmann (im Sinne von: Mitglied eines Amtes, Handwerker; seit 1701: Kaufmann) (5).

Nach einer Unterbrechung durch die heute nicht mehr vorhandene Oldesloe-Kapelle erschienen an der Nordwand des massiven Querschiff-Mittelpfeilers Klausner und Bauer (6).

Den Abschluss bildeten an der Westseite des Pfeilers, dem Anfang gegenüber, ein junger Herr, ein junges Mädchen und schließlich das Kind in der Wiege (7).

Bis auf die Abschlusswand wechseln sich in der Regel geistlicher und weltlicher Stand ab – Arzt und Küster zählen dabei zu den geistlichen Standespersonen.

Kopie

1701 war der Totentanz in einem so schlechten Zustand, dass sich die Vorsteher der Marienkirche entschlossen, statt einer weiteren Reparatur das Gemälde komplett kopieren zu lassen. Gleichzeitig wurden die nicht mehr verständlichen und nur noch zum Teil lesbaren mittelniederdeutschen Verse durch hochdeutsche Reime ersetzt. Vorher schrieb der Pastor und Polyhistor Jacob von Melle die zu diesem Zeitpunkt noch erhaltenen Verse „zum Gedächtnis, und dem Alterthum zu Ehren“ ab und erhielt sie so der Nachwelt. Der Kirchenmaler Anton Wortmann schuf die Kopie der Figuren, während der Präzeptor am Waisenhaus zu St. Annen Nathanael Schlott die neuen hochdeutschen Verse als barocke Alexandriner konzipierte. Dabei erhielten die Verse auch Überschriften, die die jeweiligen Sprecher kennzeichneten. Im Gegensatz zum alten Dialog war es nun der Tod, der jeweils die Personen ansprach. Außerdem gab es offenbar zwei Umstellungen: Zum einen wurden aufgrund eines Missverständnisses des mittelniederdeutschen Wortes Amtmann (das so viel wie Handwerker bedeutet) die Beschriftungen dieser Figur und des Kaufmanns vertauscht. Politischen Gründen, nämlich einem gewachsenen Selbstbewusstsein des Stadtpatriziats verdankte sich die andere Umstellung, in der Edelmann und Bürgermeister ihre Plätze tauschten, was den Bürgermeister um zwei Plätze in der sozialen Hierarchie aufrücken ließ.

1799 wurde das Nordportal der Marienkirche vergrößert. Dieser Baumaßnahme fielen der Herzog und der ihm vorausgehende Tod zum Opfer.

Trotz seines Charakters als Kopie war der Totentanz weithin berühmt und wurde vielfach veröffentlicht. Wie vielen anderen Touristen wurde dem Briten Thomas Nugent der Totentanz als Attraktion vorgeführt, der darüber in seinen Travels through Germany (1768) berichtete.

1783 gab Ludwig Suhl, zu diesem Zeitpunkt Lehrer am Katharineum sowie Leiter der Stadtbibliothek und später einer der Begründer der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit, eine Reihe von acht Kupferstichen mit dem Totentanz und beiden Versüberlieferungen heraus.[1]

1853 reinigte Carl Julius Milde den Totentanz und fertigte bei dieser Gelegenheit Ansichten an, die 1866 als Lithographien zusammen mit einem Text des Historikers und Bibliothekars Wilhelm Mantels herausgegeben wurden. Dies war der Beginn einer historisch-kritischen Beschäftigung mit dem Kunstwerk und seiner Überlieferung. Mantels erkannte als erster die Ungereimtheiten in der Wiedergabe der mittelniederdeutschen Verse bei von Melle und stellte dazu Überlegungen an, die in der Mehrzahl bis heute akzeptiert sind.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte man die Kapelle und den Totentanz mit einer massiven Holzverschalung gegen Sprengbombeneinwirkung gesichert, jedoch nicht bedacht, dass dies gegen Brandbomben nicht nur nichts helfen würde, sondern die Zerstörung sogar beförderte. So verbrannte der Totentanz beim Bombenangriff auf Lübeck in der Nacht zum Palmsonntag 1942 vollständig. Eine genauere Vorstellung vermittelt heute nur noch die Fotodokumentation des Lübecker Fotografs Wilhelm Castelli.

Zwei von Alfred Mahlau 1955/56 gestaltete Fenster in der Kapelle erinnern heute an dieses untergegangene Kunstwerk.

Das Fragment in Tallinn

Notkes Totentanz-Fragment in Tallinn (Nikolaikirche)

In der Nikolaikirche von Tallinn ist das Fragment (ca. 1/4) eines gleichartigen Totentanzes mit heute noch 13 Figuren erhalten. Die Forschung hat lange darum gestritten, ob es sich dabei um einen Ausschnitt, ein Fragment des originalen Lübecker Totentanzes handelt (so die These von Carl Georg Heise, 1937). Heute hat sich jedoch als Konsens durchgesetzt, dass dies das Fragment einer späteren (um 1500), für Tallinn angefertigten, eigenhändigen Replik Notkes ist. Seit Mitte der 1980er Jahre ist dieser Totentanz wieder in der Antoniuskaplle der Nikolaikirche aufgestellt.

Rezeption und Adaption

Literatur

Musik

Fragment einer Abzeichnung des Totentanzes durch Carl Julius Milde von 1852

Malerei und Grafik

  • Herwig Zens: Der Neue Lübecker Totentanz, eine „Paraphrase“
  • Tympanonfenster von Markus Lüpertz
  • Aloys Ohlmann: 14 Serigrafien Kirchzartener Totentanz zum Lübecker Totentanz von Hugo Distler von Aloys Ohlmann

Im weiteren Sinn gehört dazu auch Horst Janssens Hommage à Tannewetzel, die er zur Vorstellung des Buches von Joachim Fest: Der tanzende Tod schrieb und am Neujahrstag 1986 in der Marienkirche vor 3000 Zuhörern als Rede über den Freund Hein hielt.

Video/Film

  • Eckhard Blach: Der Tanz mit dem Tod (1987)
  • Herbert Link: Der mit dem Tod tanzt

20. Jahrhundert

  • Einer der schwerwiegendsten Impfzwischenfälle der Medizingeschichte wird ebenfalls immer wieder Lübecker Totentanz genannt.

Literatur

  • Rolf Paul Dreier: Der Totentanz - ein Motiv der kirchlichen Kunst als Projektionsfläche für profane Botschaften (1425-1650), Leiden 2010, ISBN 978-90-90251-11-0 (inklusiv CD-Rom: Verzeichnis der Totentänze, auch auf www.totentanz.nl). Speziell zum Totentanz von Lübeck (1463) Seiten 79-131.
  • Ludwig Suhl: Kurze Nachricht vom Lübeckischen Todtentanze. Lübeck 1783 (Digitalisat)
  • Hartmut Freytag (Hrsg.): Der Todtentanz in der Marienkirche zu Lübeck. Nach einer Zeichnung von C.J. Milde, mit einem erläuterndem Text von Professor W. Mantels. Neudruck der Ausgabe Lübeck: Rathgens 1866, mit einem Nachwort von Hartmut Freytag. Lübeck 1989. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage 1993. Dritte, erneut vermehrte und verbesserte Auflage 1997
  • Hartmut Freytag (Hrsg.): Der Totentanz der Marienkirche in Lübeck und der Nikoliakirche in Reval (Tallinn). Edition, Kommentar, Interpretation, Rezeption. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1993 (Niederdeutsche Studien Band 39) ISBN 3-412-01793-0
  • Maike Claußnitzer, Hartmut Freytag, Susanne Warda: Das Redentiner – ein Lübecker Osterspiel. Über das Redentiner Osterspiel von 1464 und den Totentanz in der Marienkirche in Lübeck von 1463. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 132 (2003), S. 189–238.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Digitalisat

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