Hans Henny Jahnn

Hans Henny Jahnn
Hans Henny Jahnn (ganz links) bei der Gründung der Deutschland-Abteilung des PEN-Clubs, 1948

Hans Henny Jahnn eigtl. Hans Henry Jahn (* 17. Dezember 1894 in Stellingen; † 29. November 1959 in Hamburg) war ein deutscher Schriftsteller, Orgelreformer und Musikverleger. Literarisch zählt er zu den „großen produktiven Außenseitern des [zwanzigsten] Jahrhunderts“.[1]

Inhaltsverzeichnis

Leben

Gedenktafel am Standort von Hans Henny Jahnns Geburtshaus in der Högenstraße, Hamburg-Stellingen

Der Sohn eines Schiffbauers besuchte ab 1904 die Realschule in St. Pauli, wo er auch Gottlieb Harms (1893–1931, später Musikschriftsteller) kennenlernte, dann ab 1911 die Oberrealschule Kaiser-Friedrich-Ufer in Hamburg-Eimsbüttel, auf der er 1914 sein Abitur machte. Jahnn emigrierte 1915 zusammen mit Harms nach Norwegen, um dem Ersten Weltkrieg zu entgehen. Ende 1918 kehrte er zunächst nach Hamburg zurück, zog dann für kurze Zeit aufs Land bei Eckel. Hier lebte er mit Gottlieb Harms und Franz Buse (1900–1971, damals Bildhauer). Auch andere Personen, wie Ellinor Philips (1893–1970), Jahnns spätere Ehefrau, wohnten dort.

Obwohl sich Jahnn öffentlich nie dazu bekannte und heiratete, gilt als eindeutig erwiesen, dass er von Jugend an homosexuelle Beziehungen unterhielt,[2] unter anderem zu Harms, der seine große Liebe war und neben dem er bestattet liegt.

1919 gründeten Jahnn, Harms und Buse gemeinsam die Künstlergemeinschaft Ugrino. Sie entstand – wie viele ähnliche Gruppen in der Weimarer Republik – aus dem Bedürfnis nach neuer Sinnstiftung und als Alternative der von vielen als enttäuschend empfundenen Situation nach dem Ersten Weltkrieg. Die Gemeinschaft Ugrino wollte Kunstwerke aller Art erhalten und neue schaffen. Insbesondere sollten auf einem eigenen Grundstück, das teilweise auch gekauft wurde, Sakralbauten errichtet werden (Architekt: Jahnn). Letztlich blieben aber die meisten Pläne der Gemeinschaft Ugrino unausgeführt. Erfolgreich war die Gründung des Ugrino-Verlags (1921) zusammen mit Gottlieb Harms, in dem Werke barocker und vorbarocker Komponisten erschienen, die von der Fachwelt anerkannt werden.

Gleichfalls im Jahr 1919 veröffentlichte Jahnn das Drama Pastor Ephraim Magnus, für das er 1920 mit dem renommierten Kleist-Preis ausgezeichnet wurde (UA 1923). Weitere Dramen folgten. Manche Presseorgane taten sich schwer mit Jahnns Stücken, stellten sie doch oft extreme Gefühlslagen und Handlungen dar (Inzest, Homosexualität, Verstümmelung …). Die Stücke wurden teils heftig kritisiert, teils aber auch aus berufenem Munde (Thomas Mann) aufs höchste gelobt.

Obwohl Jahnn seit Beginn der 1930er Jahre vor der NSDAP gewarnt hatte und der Radikaldemokratischen Partei (RDP), einer Abspaltung der DDP, beigetreten war,[3] wollte er doch nicht endgültig emigrieren und den Kontakt mit Deutschland nicht verlieren. Er war überzeugt, dass er als Schriftsteller nur in Deutschland seinen Lebensunterhalt sichern konnte. Darum blieb er z.B. Mitglied der Reichsschrifttumskammer. Die Nationalsozialisten standen ihm feindlich gegenüber (aufgrund seiner Stücke wurde er in der Presse u. a. als „Kommunist und Pornograph“ bezeichnet) und durchsuchten mehrfach seine Wohnung in Hamburg. Darum verließ Jahnn im Frühjahr 1933 Deutschland und hielt sich während der nationalsozialistischen Diktatur meist im Ausland auf, kehrte aber immer wieder für kurze Zeit nach Deutschland zurück. Seit 1934 wohnte er auf Bornholm in Dänemark, wo seine Schwägerin Sibylle, gen. Monna Harms, auf Jahnns Rat einen Bauernhof erworben hatte, den er bis 1950 bewirtschaftete. Auf Bornholm verfasste er auch den größten Teil seines Hauptwerkes Fluß ohne Ufer, einer gewaltigen Trilogie von über 2000 Seiten, deren letzten Band Epilog er nicht abschloss.

Seine Dramen „Spur des dunklen Engels“ und „Neuer Lübecker Totentanz“ wurden von seinem Patensohn Yngve Jan Trede vertont, dessen musikalische Hochbegabung Jahnn erkannte und förderte.

1950 kehrte er zurück nach Hamburg und setzte sich vor allem gegen die Entwicklung von Atombomben und die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik ein. Jahnn war Mitbegründer und erster Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg. 1956 reiste er nach Moskau, am 29. November 1959 erlag er im Blankeneser Krankenhaus Tabea einem Herzleiden. Der Freund und Arzt Prof. Dr. Gotthold Möckel war in den letzten Stunden bei ihm.

Grab von Hans Henny Jahnn

Sein Grab befindet sich auf dem Nienstedtener Friedhof. Die Grabanlage hat Jahnn gemäß den Vorgaben der Ugrino-Satzung entworfen. Auch seinen schweren, wachsversiegelten, mit Metall ausgekleideten Sarg aus überdickem Holz hatte er sich zu Lebzeiten nach der Ugrino-Satzung konstruieren lassen. Bei der Beerdigung mussten die Träger den Sarg auf dem Weg zum Grab alle drei Schritte absetzen.[4]

Sein letzter, wiederum unvollendeter Roman Jeden ereilt es erschien erst postum 1968, die Erzählung Die Nacht aus Blei, ein Auszug daraus, erschien schon im Jahr 1956.

Literarisches Werk

Jahnn, der ein bedingungsloser Pazifist war, hat einmal den Menschen als „Schöpfungsfehler“ bezeichnet. In seinen Aufsätzen, Reden und in seinen Romanen beobachtet er mit wachsendem Entsetzen das Ausmaß an Grausamkeit und Destruktivität, dessen der Mensch fähig ist. Rettung sucht er in der Natur, deren Schönheit und Harmonie er in grandiosen Landschaftsschilderungen (etwa in seinem Roman Fluß ohne Ufer) unermüdlich schildert. Zugleich kann er nicht übersehen, dass auch die Natur grausam sein kann. Versöhnung, so seine Hoffnung und der Antrieb seines Schreibens, kann allein die Kunst bewirken.

Bestimmend „für das ganze Jahnnsche Werk [ist der] zentrale Gedanke einer antichristlichen Schöpfungsmythologie“, die vom altbabylonischen Gilgamesch-Epos beeinflusst und „ontogenetisch als präödipal anzusehen ist“. Eine „strikt antizivilisatorische Position“ manifestiert sich darin mittels folgender Motivkomplexe: anarchische, naturreligiöse Mythen (versus christliche Tradition), altägyptische Totenmythologeme (versus deutsche Tradition des Hellenismus), „elementarische Fesselung des Menschen an seine Fleischlichkeit, in der Trieb, Sakralität und Barbarei verschmolzen werden“ (versus humanistisches Menschenbild), archaisch-zeitlose Landschaften, in denen Mensch, Tier und Natur in ungeschiedener Einheit leben (versus auf bürgerlicher Aufklärung beruhende, fortschrittsorientierte Zivilisation).[1] Jahnns „erotischer Radikalismus“[5] zeigt sich im rekurrenten Motiv der Sodomie und in dem „in nahezu allen Werken gebrochenen Inzesttabu“, in den Sadismen sowie in den „vielfältig homosexuellen Beziehungen und Motiven“.[6]

Sprachlich gelingt Jahnn erstmals mit dem Perrudja-Fragment „die epische Integration seiner widersprüchlichen ideologischen Orientierungen, wie er auch Anschluß gewinnt an wichtige Neuerungen des modernen Romans“: „sichere Handhabe des inneren Mongologs, der Symbol- und Motivtechnik“, Einbeziehung des neu entdeckten Unbewussten.[7]

Jahnns in vieler Hinsicht ungewöhnliches literarisches Werk lässt sich laut Ulrich Greiner durch die folgenden Strukturmerkmale näher bestimmen:

Reduktion des Menschen: Jahnn versteht die simple Wahrheit, dass der Mensch Teil der Natur sei, wörtlich und radikal. Der Mensch ist nicht über das Tier erhaben. Beiden gleich ist die Empfindung des Schmerzes, und das Leben ist ein universaler und permanenter Schmerz, mit dem Unterschied freilich, dass die Tiere den Schmerz ohnmächtig erdulden, während der Mensch planvoll und umsichtig Schmerz zufügt: sich selber und seinesgleichen, den Tieren und der gesamten Natur. Schlachthof und Krieg sind die beiden Seiten eines unbegreiflichen Willens zur Lebensvernichtung. Im ersten Kapitel der „Niederschrift“ (Band II des Romans Fluß ohne Ufer) geht der Komponist Gustav Anias Horn in den Stall, bettet sein Haupt an den Hals der Stute Ilok und weint. Perrudja (Held des gleichnamigen Romans) liebt ein Pferd: „Perrudja kroch heran, biß lose in das samtene Fell, barg seinen Kopf zwischen den Schenkeln und träumte, träumte sich alle Stürze der Welt.“ Weil das Tier nicht unter, sondern neben dem Menschen steht, als ein rätselhaft Anderes, ist jene Tierliebe, die gemeinhin Sodomie heißt, weder obszön noch lächerlich, sondern allenfalls auf bestürzende Weise vergeblich. In dem Drama Medea berichtet Jasons Sohn von seiner ersten Begegnung mit Kreons Tochter. Er reitet auf einer Stute, sie auf einem Hengst. Die Reiterin holt ihn ein. Ehe er sich's versieht, besteigt der Hengst die Stute und bringt den Reiter in die drangvollste Lage. Was in dieser Szene an Männerängsten und Menschenphantasien enthalten ist, ist klar. Deshalb eignet sich Jahnns Werk nicht für die Psychoanalyse. Auf fast unschuldige Weise ist es offenkundig und folgt allen Triebregungen. Jahnn reduziert den Menschen auf das biologische Material, weil das Kreatürliche die Basis ist und der geistige Überbau eine Übersteigerung, die den Ruin der Schöpfung bedeutet. Jahnns Werk ist ein Protest gegen das anthropozentrische Weltbild.[8]

Verweigerung der Moral: Der Leichtmatrose Alfred Tutein ermordet Ellena, die Verlobte Gustavs (im Holzschiff, Band I von Fluß ohne Ufer). Er stößt ihr das Knie in den Mund und erdrosselt sie. Den Leichnam versteckt er in den Laderäumen der „Lais“. Aus Furcht, der Verwesungsgeruch könnte zur Aufdeckung des Verbrechens führen, übergießt er die Tote mit Holzteer. „Über das Antlitz Teer. Über die Brüste Teer. In den unordentlich bekleideten, aufgedunsenen Schoß Teer. Er behing die Wehrlose mit den groben Fetzen, zog ihr einen weiten Mehlsack über den Oberkörper. Und entleerte den Rest der Kanne über das hingestauchte Bündel aus Sacktuch, Papier und Fleisch.“ Die Tat hat kein Motiv. „Alfred Tutein sagte mit erstickter Stimme, alle Schuld sei plötzlich. Sie eile den frevelhaften Entschlüssen voraus. Gedanken, das sei Traum. Wie kriechende Schnecken. Die handelnden Hände hinterließen das Sichtbare. Er brach verstört ab.“ Nach dem Untergang der „Lais“ finden die Schiffbrüchigen Rettung an Bord eines Frachters. Dort gesteht Tutein sein Verbrechen dem Verlobten Ellenas. In der Niederschrift erinnert sich Gustav: „Ich preßte meine Lippen auf seinen willenlosen Mund. Ich spürte das warme fade Fleisch, das sich staunend meinem Kuß öffnete. Ich roch den Angstschweiß des Mörders. Ich taumelte vor Glück.“ Die Moral ist das sekundäre System. Jahnn legt bloß, was darunter liegt. Wir seien, sagte er einmal, nur „der Schauplatz der Ereignisse.“ Das heißt nicht, dass es Schuld nicht gibt. Es heißt nur, dass wir nicht wissen, was der Mensch ist. Jahnn folgt der schrecklichen Erkenntnis des Sophokles, dass vieles ungeheuerlich sei, nichts aber ungeheuerlicher als der Mensch. Jahnns Werk ist das unablässige, verzweifelte Bemühen, diese Dunkelheit zu durchdringen, das Nichtverstehbare zu verstehen.[8]

Verweigerung der Sublimation: Im Versuch, den Prozess des Menschen von unten her zu erkunden und auf das unbestreitbare Faktische zurückzugehen, verweigert Jahnn Sublimation schlechterdings. Der Trieb, die Gier, die Aggression sind unmittelbar. Der Mensch ist Körper zuerst, und dann vielleicht Geist. In Jahnns Werk sind alle Konflikte körperliche Konflikte, alle Erkenntnisse körperliche Erkenntnisse. Das geht sehr weit: Die Wunde, das Loch im Leib, bedeutet die Öffnung des Individuums (des Mannes) für die Welt (etwa in dem späten Prosastück Die Nacht aus Blei). Dass Erkenntnis Verletzung sei, hat niemand so radikal verstanden wie Jahnn. Und die innigste Verschmelzung von Tutein und Gustav ist nicht der homosexuelle Akt, sondern der Blutaustausch, der realiter vollzogen und mit medizinischer Genauigkeit beschrieben wird. Weil der Mensch Leib ist, bietet die (vor allem christliche) Vorstellung, nach dem Tod bleibe die Seele und der Rest verwese, keinen Trost. Tuteins Einbalsamierung gehört zu den peinvollsten und gewaltigsten Kapiteln im Fluß ohne Ufer. Wie Elias Canetti hat auch Jahnn den Tod nie anerkannt. Während Canetti den Kampf philosophisch-literarisch führte, hat Jahnn ihn materialistisch-praktisch geführt. Dass die Niederlage unvermeidlich ist, wussten beide, aber Jahnns Strategie hat den einen Vorzug, Leben und Tod konkret körperlich zu verstehen und nicht ins Metaphysische zu flüchten. Er war ein Heide.[8]

Überhöhung des Menschen: Im Widerspruch dazu entwirft Jahnn Allmachtsvisionen. Nichts war ihm ferner als das Pragmatische und der Kompromiss. Der durch Zufall zum Milliardär gewordene Perrudja plant die Weltherrschaft zur Rettung der Menschheit, einschließlich Krieg und höherer Zuchtwahl. Im entscheidenden Moment aber lässt er ab von seinem Projekt, erkennt die Hybris und wendet sich nach innen. Ein Gott, der aufgibt. Einer anderen Erlösungsphantasie folgt Jahnn im Fluß ohne Ufer. Die Symphonie, um deren Vollendung Gustav Anias Horn ringt, trägt den Titel „Das Unausweichliche“. Sie ist der Versuch, die Schöpfungstragik Musik werden zu lassen. Ihre Anfänge hat Horn bei seinen Wanderungen über die Klippen der norwegischen Fjorde gefunden, in abgerissenen Birkenrinden, deren feines Engramm eine natürliche Hieroglyphenschrift enthält, die Horn in Notenschrift übersetzt: ein anderes Lied von der Erde, eine Nachbildung des Schöpfungsgesetzes. Der Roman enthält Notenbeispiele aus Horns Symphonie. Es sind Jahnns eigene Kompositionen.[8]

Exzess der Aporien: Gustav Anias Horn wird ermordet. Die Erlösung wird vereitelt. Es gibt keinen Trost. „Es ist, wie es ist, und es ist fürchterlich.“ Kein Gott ist vorstellbar, die Aufklärung ein Fiasko, der Fortschritt ein katastrophaler Witz. Wohin Jahnn auch immer denkt, welchen Weg auch immer seine schmerzlichen Helden einschlagen, welche Vision auch immer im Augenblick aufleuchtet: Die Aporie ist unauflösbar, der Roman nicht abschließbar, die Kunstanstrengung ein Scheitern.[8]

Aufhebung literarischer Gesetze: Perrudja erschien 1929, im selben Jahr wie Döblins Berlin Alexanderplatz. So verschieden Jahnn und Döblin auch sind, an literarischer Kühnheit kommen sie einander gleich. Thomas Manns Doktor Faustus, die Geschichte des Komponisten Adrian Leverkühn, erschien 1947. Fluß ohne Ufer, geschrieben 1935 bis 1947, erzählt die Geschichte des Komponisten Gustav Anias Horn. Berlin Alexanderplatz und Doktor Faustus gehören zum literarischen Kanon. Jahnns Romane versanken in der Vergessenheit. Daran hat Jahnns Verstoß gegen die Gesetze des Erzählens seinen Anteil. Fluß ohne Ufer ist nicht nur die Geschichte eines Komponisten. Der Roman selber ist ein symphonisches Werk, gehorcht musikalischen Gesetzen, nicht literarischen. Das Holzschiff ist die Ouvertüre, in der alle Themen anklingen, die in der Niederschrift erst entfaltet und erläutert werden. Narrative Wahrscheinlichkeit und psychologische Plausibilität interessieren Jahnn nicht. Der Schiffszimmermann Klemens Fitte (im Holzschiff), den Jahnn ungeheuer plastisch als ungebildeten, vitalen, seiner selbst nicht bewussten Menschen schildert, der „dem Rechnen mißtraute um des schlechten Ergebnisses willen, das allüberall zu bemerken war“, erzählt einer staunenden Matrosenschar die Geschichte von Kebad Kenya, der sich bei lebendigem Leib bestatten ließ, einen Text, in dem sich Jahnnsche Phantasmagorien mit ältesten Mythen mischen. Weder ist glaubhaft, ein Klemens Fitte könnte das erzählen, noch, dass die Mannschaft dieser dunklen, gottlosen Legende auch nur eine Minute zuhörte - noch weiß der Leser, was das soll. Erst viel später, getragen vom „Fluß ohne Ufer“, sieht er das Motiv wiederkehren, in verdeutlichter Form. Das hohe Tempo und die fieberhafte Überreiztheit der Ouvertüre weichen in der Niederschrift einer sich steigernden Retardierung, bis zum wahnwitzigen April-Kapitel, das in Norwegen spielt. Wahnwitzig ist es, weil hier die Mittelachse des Projekts liegt, das Auge das Taifuns, in dem scheinbar alles ruht und selbst die Beziehung Tutein-Gustav suspendiert ist zugunsten grandioser, selbstvergessener Beschreibungen von Landschaft und Mensch, als ob der Autor aus dem Auge verloren hätte, worum es geht - ein Largo larghissimo, in dem die Motive bis zur Unhörbarkeit verklingen.[8]

Aus diesen Gründen ist Jahnns Werk schwer einzuordnen, es sperrt sich gegen übliche Klassifizierungen. Als politischer Publizist war Jahnn ein Grüner, bevor es die Grünen gab. Er kämpfte in den frühen fünfziger Jahren gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands, gegen die Zerstörung der Umwelt und auch gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie, weil er die Lagerung des atomaren Mülls schon damals für unverantwortlich hielt.

Orgelbau und Harmonik

Schon als Jugendlicher befasste sich Jahnn mit dem Orgelbau. Er setzte sich für die Restaurierung wertvoller norddeutscher Barockorgeln ein (z. B. der Arp-Schnitger-Orgel in St. Jacobi, Hamburg) und forderte eine Neuorientierung des Orgelbaus unter Berücksichtigung harmonikaler Gesetzmäßigkeiten, wie sie bereits Schnitger gekannt habe. Obwohl etwa Albert Schweitzer, mit dem Hans Henny Jahnn korrespondierte, ähnliche Forderungen stellte, fand Jahnn nur mühsam Resonanz; auch sein Ruf als Autor umstrittener Theaterstücke machte es ihm zeitweise schwer, Auftraggeber zu finden. Dennoch wirkte er bei annähernd einhundert Orgelprojekten als Berater, Planer und Konstrukteur mit: Über eintausend Mensurenblätter (Kurvenmensuren) und Zeichnungen im Nachlass zeugen davon.

Die von Karl Kemper 1931 gebaute, von Orgelbaumeister G. Christian Lobback 1991 restaurierte Hans-Henny-Jahnn-Orgel der Heinrich-Hertz-Schule in Hamburg (der ehemaligen Lichtwarkschule) erklingt heute regelmäßig in Konzerten. Die meisten Jahnn-Orgeln allerdings befinden sich nicht mehr in spielfähigem Zustand. Die ebenfalls 1931 entstandene Orgel der Ansgar-Kirche zu Hamburg-Langenhorn, von der Firma P. Furtwängler & Hammer nicht getreu den jahnnschen Plänen gebaut, wurde 2008 restauriert und am 20. September des gleichen Jahres geweiht. Zu Jahnns Auseinandersetzung mit Orgel und Orgelbau trat die bereits erwähnte Beschäftigung mit dem harmonikalen Weltbild. Dem bedeutenden deutschen Privatgelehrten Hans Kayser, dem Begründer der harmonikalen Grundlagenforschung im 20. Jahrhundert, verdankte der Orgelbauer und Orgelreformer Jahnn entscheidende Anregungen – aber auch der Schriftsteller: Perrudja, Jahnns in den späten 1920er Jahren verfasster, wohl bekanntester Roman, zeigt deutlich Kaysers prägenden Einfluss.

Benennungen

Werke

Werkausgaben

  • Werke und Tagebücher in sieben Bänden. Mit einer Einleitung von Hans Mayer. Hrsg. von Th. Freeman und Th. Scheuffelen. Hamburg 1974
  • Werke in Einzelbänden (Hamburger Ausgabe). Hrsg. von Uwe Schweikert. Hamburg 1985 ff.

Prosa

  • Perrudja, Roman, 1. Teil 1929, 2. Teil unvollendet
  • Fluß ohne Ufer, Romantrilogie
    • Das Holzschiff, 1949, überarbeitete Fassung 1959
    • Die Niederschrift des Gustav Anias Horn nachdem er 49 Jahre alt geworden war, 1949/50
    • Epilog, aus dem Nachlass veröffentlicht 1961
  • Die Nacht aus Blei, Erzählung, 1956
  • Ugrino und Ingrabanien, Romanfragment, aus dem Nachlass veröffentlicht, 1968
  • Jeden ereilt es, Roman. Fragment aus dem Nachlass, 1968

Dramen

Auswahlbände

  • Dreizehn nicht geheure Geschichten, Erzählungen, Hamburg 1954
  • Eine Auswahl aus dem Werk. Mit einer Einleitung von W. Muschg. Freiburg i. Br. 1959
  • Das Hans Henny Jahnn Lesebuch. Hrsg. von U. Schweikert. Hamburg 1984

Sonstiges

Literatur

  • Rolf Italiaander, Hans Henny Jahnn: Das Buch der Freunde Diese Schrift wurde im Auftrag der Freien Akademie der Künste in Hamburg zum ersten Todestag des Dichters (29. November 1960) zusammengestellt ISBN 3-937038-03-5 (10) ISBN 978-3-937038-03-2 (13)
  • Der Uhrenmacher. Dem Andenken meines Urgroßvaters Matthias Jahnn (aus Niederschrift), in: Westfalen-Spiegel, Ardey Verlag GmbH, Dortmund, April 1953 (2. Jg., Ausgabe B) Seite 11-12
  • Elsbeth Wolffheim: Hans Henny Jahnn Reinbek 1989 (rororo-Bildmonografie) 432
  • Thomas Freeman: Hans Henny Jahnn Hamburg 1986
  • Hanns Henny Jahnn: Ugrino Jochen Hengst und Heinrich Lewinski. Revonnah Verlag Hannover 1991. ISBN 3-927715-08-5
  • Nanna Hucke: „Die Ordnung der Unterwelt“. Zum Verhältnis von Autor, Text und Leser am Beispiel von Hans Henny Jahnns „Fluß ohne Ufer“ und den Interpretationen seiner Deuter. Münster 2009. ISBN 978-3-86582-943-6, sowie open access: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-opus-87759
  • Reiner Niehoff: Hans Henny Jahnn. Die Kunst der Überschreitung München 2001
  • Hans Mayer: Versuch über Hans Henny Jahnn Aachen 1994 ISBN 3-89086-998-X
  • Rüdiger Wagner: Der Orgelreformer HHJ Hg. Hans Heinrich Eggebrecht, Musikwissenschaftliche Verlags-Gesellschaft, Stuttgart 1970
  • dsb.: Hans Henny Jahnn. Der Revolutionär der Umkehr, Orgel, Dichtung, Mythos, Harmonik Hg. Hans Heinrich Eggebrecht, ebd. Murrhardt 1989
  • G. Christian Lobback: Der Orgelbauer HHJ und das harmonikale Gesetz in: Uwe Schweikert (Hg): „Orgelbauer bin ich auch“ Hans Henny Jahnn und die Musik Igel, Paderborn 1994 ISBN 3927104892 (S. 11-18)
  • Ist der Mensch zu retten? Begleitpublikation zur Ausstellung der Jahnn-Wochen der Freien Akademie der Künste in Hamburg im Herbst 1984 anlässlich des 90. Geburtstages und 25jährigen Todestages Hans Henny Jahnns (1984, 102 Seiten,ca. 80 Abb.)
  • Zeitgenosse Hans Henny Jahnn: Ist der Mensch zu retten? Hamburger Literaturtage 1984, Dokumentation der Hamburger Hans-Henny-Jahnn-Wochen, veranstaltet von der Freien Akademie der Künste in Hamburg mit Unterstützung der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg anlässlich des 90. Geburtstages und 25jährigen Todestages Hans Henny Jahnns (1985) ISBN 3-937038-19-1 (10) ISBN 978-3-937038-19-3 (13)
  • G. Christian Lobback: HHJ und sein Bild von der Orgel Zs. Musik und Kirche 6/1994, S.323-328, Bärenreiter-Verlag
  • Walter Muschg: Gespräche mit HHJ Aachen 1994 ISBN 3-89086-899-1
  • Richard Anders: Begegnung mit Hans Henny Jahnn Aachen 1988 ISBN 3-89086-903-3
  • Ulrich Bitz & Jan Bürger & Alexandra Munz: Hans Henny Jahnn – Eine Bibliographie Aachen 1996 ISBN 3-89086-815-0
  • G. Christian Lobback: Klangpolarität und Klanggewichtung der Orgel bei Hans Henny Jahnn Vortrag 2. Juni 2004, Arbeitstagung der Vereinigung der Orgelsachverständigen in Deutschland, Elsa- Brändström-Haus Blankenese
  • Thomas Lipski: Hans Henny Jahnns Einfluß auf den Orgelbau. Phil.-Diss. Münster 1995, Hildesheim 1997 ISBN 3-487-10321-4. Vgl. Google-Buchsuche.
  • Lotti Sandt: Hans Henny Jahnn. Zur Literatur, Harmonik und Weltanschauung des Schriftstellers und Orgelbauers Verlag: Kreis der Freunde um Hans Kayser Bern/Walter Ammann, Bern 1997 ISBN 3-906643-16-6.
  • Adolf Meuer: Jahnns hinterlassenes Schauspiel „Der staubige Regenbogen“. Piscator inszenierte die Uraufführung in Frankfurt in: Kultur und Gesellschaft. Mitteilungs- u. Ausspracheblatt für Mitglieder und Freunde des Demokratischen Kulturbundes Deutschlands, Frankfurt a. M. 1961 (Nr. 5), Seite 13
  • Werner Helwig & Hans Henny Jahnn: Briefe um ein Werk. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1959
  • Werner Helwig: Bei Hans Henny Jahnn auf Bondegaard. In: Merian-Heft „Bornholm“, 1969
  • Werner Helwig: Die Parabel vom gestörten Kristall (biographisch-autobiographische Erinnerungen an H. H. Jahnn). von Hase & Koehler, Mainz 1977, ISBN 3-7758-0925-2
  • Michael Walitschke: Hans Henny Jahnns Neuer Lübecker Totentanz Stuttgart 1994
  • Theater der Freien Hansestadt Bremen (Hg): HHJ.: DIe Krönung Richards III Bremen, Spielzeit 1978/79 (ein inhaltsschweres Programmheft mit vielen Archivalien, insbes. aus der Staatsbibliothek Hamburg, vorrangig aus der Entstehungszeit) 127 S. ohne ISBN. (Premiere 9. Dezember 1978)
  • Jan Bürger: Der gestrandete Wal. Das maßlose Leben des Hans Henny Jahnn. Die Jahre 1894–1935. Aufbau-Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-351-02552-1.
  • Toni Bernhart: „Adfection derer Cörper“. Empirische Studie zu den Farben in der Prosa von Hans Henny Jahnn. Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden 2003, ISBN 3-8244-4547-6.
  • Diethelm Zuckmantel: Tradition und Utopie. Zum Verständnis der musikalischen Phantasien in Hans Henny Jahnns Fluß ohne Ufer. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-631-53007-2
  • Sozialgeschichte der deutschen Literatur von 1918 bis zur Gegenwart, hg.v. Jan Berg, Hartmut Böhme e.a., Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-596-26475-8

Weblinks

 Commons: Hans Henny Jahnn – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Quellen

  1. a b Sozialgeschichte der deutschen Literatur, S. 341
  2. http://www.zeit.de/1986/01/Mann-ohne-Ufer?page=1 (Link nicht mehr abrufbar)
  3. zu Jahnns RDP-Mitgliedschaft, siehe: Stephan Reinhardt (Hrsg.): Die Schriftsteller und die Weimarer Republik. Ein Lesebuch. Berlin 1982, S. 202
  4. „Der Friedhofsführer - Spaziergänge zu bekannten und unbekannten Gräbern in Hamburg und Umgebung“ von B. Leisner und N. Fischer, Abschnitt „Begräbnis mit Hindernissen - der Friedhof Nienstedten“
  5. Sozialgeschichte, S. 253
  6. Sozialgeschichte, S. 342
  7. Sozialgeschichte, S. 341
  8. a b c d e f Ulrich Greiner: Die sieben Todsünden des Hans Henny Jahnn. Zum 100. Geburtstag am 17. Dezember 1994. Veröffentlicht in; Die Zeit vom 11. November 1994.

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