Globale Betreuungskette

Globale Betreuungskette

Als globale Betreuungskette bezeichnet man in der Soziologie eine staatenübergreifende Umverteilung von Betreuungsaufgaben innerhalb Bevölkerungsgruppen. Der Begriff wurde von Arlie Russell Hochschild geprägt und wurde vor allem in seiner englischsprachigen Form global care chain bekannt.

Bei der globalen Betreuungskette übernehmen Arbeitsmigrantinnen (es handelt sich laut Hochschild fast ausschließlich um Frauen) Betreuungs-, Pflege- und Haushaltsaufgaben im Zielland, während zugleich ihre eigenen Kinder im Heimatland bleiben und dort von Familienangehörigen oder Angestellten betreut werden.

Diese Betreuungsketten werden als Faktor der Globalisierung angesehen.

Inhaltsverzeichnis

Beschreibung

Die Migrantinnen übernehmen dabei Aufgaben im Bereich der Reproduktionsarbeit. Sie sind beispielsweise Institutionen wie zum Beispiel Krankenhäusern tätig, etwa arbeiten philippinische Ärztinnen als Krankenschwestern in den USA. Ebenfalls arbeiten sie in Privathaushalten als Haushaltshilfe, Kinderfrau oder Altenpflegerin. So werde die traditionelle Rollenverteilung zwischen einem männlichen Familienernährer und einer Hausfrau und Mutter zu einer hierarchischen Rollenverteilung unter Frauen aus verschiedenen Schichten oder Regionen abgewandelt.

Laut Hochschild steht bei der globalen Betreuungskette die Emotionsarbeit im Vordergrund.[1]

Die Betreuungskette besteht auch im Heimatland fast ausschließlich aus weiblichen Betreuungspersonen: Im Herkunftsland bleibt Studien zufolge die im Ausland arbeitende Mutter die Hauptverantwortliche für die Betreuung der eigenen Kinder, indem sie in ihrem Heimatland für eine Stellvertretung sorgt, etwa durch die älteste Tochter oder gegen Bezahlung durch eine andere Verwandte. Es kommt somit nicht zu einer Umverteilung der Betreuungsaufgaben zwischen den Geschlechtern, sondern die Aufgaben werden global innerhalb des weiblichen Geschlechts neu verteilt.[2] So entsteht eine Betreuungskette aus drei oder mehr Frauen, wobei in jeder Stufe die Betreuung der Geldwert der Betreuung abnimmt und die letzte Betreuerin oft unbezahlt tätig ist.[3]

Im selteneren Fall, dass die Kinder im Herkunftsland in der Obhut des Vaters verblieben sind, werden sie oft sukzessiv bei anderen Verwandten untergebracht.[4]

Grauzone

Im Fall der illegalen Migration ist den Migrantinnen ein Recht auf Familienzusammenführung im Allgemeinen von vornherein versagt.[5] Zugleich besteht eine Grauzone mit illegal eingewanderten Familien und zumindest zu einem Teil auch alleinstehenden Müttern mit Kindern, die ohne Arbeitserlaubnis insbesondere in Privathaushalten, der Altenpflege oder der Gastronomie arbeiten. In Deutschland schicken sie ihre Kinder meist nicht in einen Kindergarten oder zur Schule, da sie keine Aufenthaltsberechtigung vorweisen können.[6][7][8]

Ursachen

Bezüglich der Ursachen für Betreuungsketten wird zwischen Push- und Pullfaktoren unterschieden.

Unter den Pull-Faktoren, also als Faktoren, die im Zielland wirksam werden, wird vor allem eine erhöhten Nachfrage nach haushaltsnahen und pflegerischen Dienstleistungen in industrialisierten Ländern genannt. Sie wird mit der dort zunehmenden Beteiligung von Frauen an der Erwerbsarbeit bei zugleich fortbestehender weiblicher Zuschreibung von Reproduktionsaufgaben in Zusammenhang gestellt.[9]

Zu den Push-Faktoren, die im Herkunftsland wirksam werden, zählen ökonomische Krisen, Arbeitslosigkeit und Armut sowie teilweise ethnische oder sexuelle Diskriminierung und Kriege in den Herkunftsländern.[9] Einige Autoren weisen darauf hin, dass die Arbeitsmigration für Frauen eine Möglichkeit darstellen kann, patriarchalischer Kontrolle in der Familie und der Gesellschaft im Herkunftsland zu entkommen.[10]

Wirkungen

Die Mutterschaft manifestiert sich bei den Betreuerinnen weniger durch physische Nähe zu den eigenen Kindern als vielmehr vorrangig über finanzielle Unterstützung, insbesondere auch zur Bezahlung der Ausbildung der Kinder. Für die Migrantinnen erweist sich die Strategie der Arbeitsmigration in ein Industrieland oft als erfolgreich für den ökonomischen und sozialen Wohlstand der Familie und verhindert zumindest die unmittelbare Armut.[4] Als vorrangiges Problem globaler Betreuungsketten wird jedoch die oft damit einher gehende jahrelange Trennung der Mütter von ihren Kindern und die daraus entstehende psychische Folge einer Entfremdung zwischen Mutter und Kindern genannt.[9] Wenn die Familienstruktur mehrfach geändert werden muss, wird in Einzelfällen auch von einer Traumatisierung der Kinder gesprochen.[4]

Familien, in denen mindestens ein Mitglied der engen Familie im Ausland lebt, werden auch als transnationale Familien bezeichnet. Es werden sowohl positive als auch negative Auswirkungen dieser Lebenssituation auf die Kinder beobachtet. Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass Kinder aus transnationalen Familien signifikant bessere Schulergebnisse aufweisen als ihre Klassenkameraden, was sich teilweise durch ihren besseren sozioökonomischen Status erklären lässt.[11] Studien unter mexikanischen Familien zeigen, dass Mütter mehr Schuld und Schmerz über die Trennung von ihren Kindern ausdrückten als Väter, dass dieser Leidensausdruck aber von Müttern erwartet werde und ihnen andernfalls vorgehalten würde, die Familie im Stich zu lassen.[12] Ergebnisse mehrerer Studien zeigen größere negative Auswirkungen auf die Kinder, wenn die Mütter im Ausland arbeiteten, als wenn die Väter dies taten; dieser Effekt erkläre sich dadurch, dass die Mütter auf die Kindererziehung besser vorbereitet seien und dieser Aufgabe mehr Aufmerksamkeit widmeten als die Väter.[13]

Die globale Betreuungskette führt zwar einerseits zu einem konstanten Geldfluss in die Herkunftsländer, wird aber vor allem als Auslöser für neue soziale Ungleichheit und Abhängigkeit bewertet.[14]

Einzelnachweise

  1. Arlie Russell Hochschild: The nanny chain. Abgerufen am 22. November 2009 (PDF, engl.).
  2. Helma Lutz: Vom Weltmarkt in den Privathaushalt, Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung, Opladen 2007. Darin: Kapitel 6. Zitiert nach Helma Lutz: Intime Fremde. Migrantinnen als Haushaltsarbeiterinnen in Westeuropa. Eurozine, 31. August 2008, abgerufen am 22. November 2009 (Zuerst veröffentlicht in: L'Homme 1/2007).
  3. Petra Rostock: Gleichstellungshindernis Reproduktionsarbeit: Löst die Beschäftigung von HausarbeiterInnen das Vereinbarkeitsdilemma? In: gender politik online. April 2007, abgerufen am 22. November 2009 (PDF). S. 8 f
  4. a b c Tine Rostgaard: The equal sharing of care responsibilities between women and men. In: EGM/ESOR/2008/EP.6. Vereinte Nationen, 19. September 2008, abgerufen am 22. November 2009 (PDF, engl.). S. 4 f
  5. Helma Lutz: Intime Fremde. Migrantinnen als Haushaltsarbeiterinnen in Westeuropa. Eurozine, 31. August 2008, abgerufen am 22. November 2009 (Zuerst veröffentlicht in: L'Homme 1/2007).
  6. Julia Paz de la Torre: Lateinamerikanische Immigrantinnen und ihre Integration in den deutschen Dienstleistungssektor. Abgerufen am 22. November 2009 (PDF, Veröffentlicht in: Traumwelt. Migration und Arbeit, Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt (Hrsg.), Berlin, S. 37-43). S. 4
  7. Barbara Eritt: Statistisch nicht belegbar - aber real. Frauen in der Illegalität. In: nah und fern. Ein Material- und Informationsdienst für Ökumenische Ausländerarbeit, Nr. 20. September 1996, abgerufen am 22. November 2009 (PDF).
  8. Ohne Papiere. In: Greenpeace Magazin 6/2006. Abgerufen am 22. November 2009.
  9. a b c Dagmar Vinz: Importieren Länder der “Ersten Welt” heute Liebe und Kinderbetreuung? www.no-racism.net, 28. Januar 2005, abgerufen am 22. November 2009 (Zuerst erschienen in ZAG Nr. 45, 2004).
  10. N. N. Sorensen: Narratives of longing, belonging and caring in the Dominican diaspora, In J. Besson & K. Fog Elwig (Eds), Caribbean narratives of belonging: fields of relations, sites of identity, 2005, S. 222–241, Caribbean: Macmillan, S. 227;
    P. Gardiner Barber: Envisaging power in Philippine migration, In J. Parpart, S. Rai & K. Staudt (Eds), Rethinking empowerment, S. 41–60, London: Routledge, 2002;
    J. H. Bayes, M. E. Hawkesworth & R. M. Kelly: Globalization, democratization and gender regimes, In R.M Kelly, J.H. Bayes, M. Hawkesworth & B. Young (Eds), Gender globalization and democratization, (pp. 1-14). Lanham: Rowman and Littlefield Publishers Inc., 2001, S. 4.
    Alle drei zitiert nach Katharine Laurie: Gender and transnational migration: Tracing the impacts `home´. In: Atlantic Metropolis Centre, Working Paper Series, Working Paper No. 17. Abgerufen am 22. November 2009 (PDF, engl.). S. 7
  11. Katharine Laurie: Gender and transnational migration: Tracing the impacts `home´. In: Atlantic Metropolis Centre, Working Paper Series, Working Paper No. 17. Abgerufen am 22. November 2009 (PDF, engl.). S. 13 f
  12. J. Dreby: Honour and virtue: Mexican parenting in the transnational context, Gender and Society, Vol. 20, Nr. 1, S. 32–59, 2006;
    R.S. Parreñas: Children of global migration: Transnational families and gendered woes, Stanford: Stanford University Press, 2005;
    Beide zitiert nach Katharine Laurie: Gender and transnational migration: Tracing the impacts `home´. In: Atlantic Metropolis Centre, Working Paper Series, Working Paper No. 17. Abgerufen am 22. November 2009 (PDF, engl.). S. 10 und S. 16
  13. Katharine Laurie: Gender and transnational migration: Tracing the impacts `home´. In: Atlantic Metropolis Centre, Working Paper Series, Working Paper No. 17. Abgerufen am 22. November 2009 (PDF, engl.). S. 17
  14. Tine Rostgaard: The equal sharing of care responsibilities between women and men. In: EGM/ESOR/2008/EP.6. Vereinte Nationen, 19. September 2008, abgerufen am 22. November 2009 (PDF, engl.). S. 4 f und S. 10

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