Abgeordnetenhaus (Österreich)

Abgeordnetenhaus (Österreich)

Das Abgeordnetenhaus war das Unterhaus des österreichischen Reichsrates. Der Reichsrat bestand neben dem Abgeordnetenhaus noch aus der Krone und dem Oberhaus, dem Herrenhaus.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Das provisorische Abgeordnetenhaus in der Währinger Straße in Wien, despektierlich als „Schmerlingtheater“ bezeichnet und 1861–1883 genutzt, im Jahre 1861

Das Abgeordnetenhaus tagte, damals noch für die Gesamtmonarchie zuständig, wie das Herrenhaus zum ersten Mal am 29. April 1861.[1] 1867 wurde die Zahl der von den Landtagen zu entsendenden Abgeordneten in der Dezemberverfassung mit 203 festgelegt; davon entfielen 54 auf Böhmen, 38 auf Galizien, Lodomerien und Krakau, 22 auf Mähren und 18 auf Österreich unter der Enns.[2]

Die Sitzungen fanden bis 1883 im provisorischen Gebäude in der Währinger Straße in Wien statt. Der historische Sitzungssaal des Abgeordnetenhauses im neu erbauten Parlamentsgebäude, der zuletzt für 516 Abgeordnete von der Bukowina bis Dalmatien Platz bot, wurde am 4. Dezember 1883 zum ersten Mal für eine Sitzung genutzt. Heute wird der Saal normalerweise nur für die Sitzungen der Bundesversammlung anlässlich der Angelobung des Bundespräsidenten und für andere Staatsakte, bei denen beide Kammern des Parlaments versammelt sind, genutzt.

Kurienwahlrecht von 1873

1873 wurde die Zahl der Abgeordneten von 203 auf 353 erhöht. Die zuvor jährlich von den Landtagen gewählten Mandatare wurden seit der Wahlreform von 1873 durch direkte Wahlen für eine Wahlperiode von sechs Jahren ermittelt. Dabei galt Kurienwahlrecht. Es bestanden vier Kurien, in die die Wähler nach ihrem Stand und Vermögen eingeordnet wurden. Die Kurie der Großgrundbesitzer umfasste 85 Abgeordnete, die der Handels- und Gewerbekammern 21, Groß- und Mittelbauern (Landgemeinden) wählten 128 und alle anderen in Städten lebenden männlichen Bürger, die jährlich mindestens 10 Gulden (ab 1882 fünf Gulden) direkte Steuern entrichteten, konnten in der vierten Kurie 118 Abgeordnete wählen. Dies entsprach insgesamt 6 % der erwachsenen Bevölkerung.

Am 14. Juni 1896 wurde die Zahl der Abgeordneten auf 425 erhöht und eine fünfte, allgemeine Wählerklasse eingeführt, in der alle Männer wahlberechtigt waren (siehe unten). Anlässlich der Abschaffung des Kurienwahlrechts wurde die Zahl der Abgeordneten am 21. Jänner 1907 auf 516 erhöht.

Das socialdemokratische Wahlcomité für den II. Wahlkreis (Steyr) ruft zu einer Wählerversammlung
Sitzungssaal des Abgeordnetenhauses 1883–1918

Allgemeines Männerwahlrecht

Am 10. Oktober 1893 wurde von der k.k. Regierung Taaffe dem Abgeordnetenhaus ein Gesetzentwurf vorgelegt, der die Abschaffung der vierten Kurie und die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes für die dritte Kurie bedeutet hätte. Dies stieß aber bei den meisten Abgeordneten auf entschiedene Gegenwehr, so dass die Wahlrechtsreform nicht zustande kam.

Erfolgreicher war 1896 Ministerpräsident Badeni: Die von ihm durchgesetzte Wahlrechtsreform veränderte den Charakter des Abgeordnetenhauses einschneidend. Es wurde eine fünfte, allgemeine Wählerklasse für alle über 24 Jahre alten männlichen Staatsbürger eingeführt. Die neue Wählerklasse konnte 72 der 425 Mandatare ins Abgeordnetenhaus entsenden. Infolgedessen kam es zu einer tiefgreifenden politischen Umschichtung im Parlament. Die alten konservativen und liberalen Honoratiorenparteien verloren an Bedeutung, die modernen Massenparteien, vor allem Sozialdemokraten und Christlichsoziale, profitierten vom neuen Wahlrecht.

Bei der von Ministerpräsident Gautsch (nach den sozialdemokratischen Großdemonstrationen des Jahres 1905) 1906 eingebrachten Wahlrechtsreform, der letzten der Monarchie, wurde nach vorerst heftigem Widerstand im Herrenhaus (siehe: Parlament und Kaiser) das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für alle Männer eingeführt. Nach dieser neuen Ordnung wurden 1907 516 Abgeordnete gewählt. Davon entfielen 130 auf Böhmen, 106 auf Galizien, 64 auf Österreich unter der Enns und 49 auf Mähren. 1911 fanden die letzten Reichsratswahlen mit allgemeinem Männerwahlrecht statt.

Beide Wahlen verstärkten den Trend zu den neuen Massenparteien: 1907 wurden die Christlichsozialen und 1911 die Sozialdemokraten stärkste Fraktion. 1917 wurde die Mandatsdauer der 1911 gewählten Abgeordneten kriegsbedingt verlängert.

Im Abgeordnetenhaus waren zahlreiche Parteien und Gruppierungen vertreten, weil alle politischen Richtungen bei den einzelnen Nationalitäten Cisleithaniens als Parteien jeweils separat organisiert waren. Die Verhandlungen des Reichsrats waren vielfach von den Auseinandersetzungen der Nationalitäten geprägt. Dabei ging es nicht nur um grundsätzliche Fragen, sondern auch um eine Vielzahl lokaler Konflikte, die nur zwei Nationalitäten betrafen. Unter diesen Bedingungen war eine Mehrheit zur Unterstützung der (nicht vom Vertrauen des Reichsrats abhängigen) Regierung nur sehr schwer zu organisieren. Immer wieder wurde der Reichsrat vom Kaiser auf Vorschlag der Regierung wegen der ausufernden nationalen Konflikte suspendiert.

Parlament und Regierung

In den Jahren 1867 bis 1879 hatte die Deutschliberale Partei die Mehrheit im Abgeordnetenhaus des Reichsrats. Sie stellte die Regierungen der Ministerpräsidenten Karl Wilhelm Philipp von Auersperg und Adolf Carl Daniel von Auersperg. Mit ihrem Niedergang endete die deutsche Dominanz im Reichsrat.

Die Regierung des Grafen Eduard von Taaffe stützte sich 1879–1893 auf die deutschösterreichischen Klerikalen sowie die tschechischen und polnischen Konservativen. Sie setzte 1882 die Zensusgrenze für die Wahlberechtigung von 10 auf 5 Gulden Steuerleistung pro Jahr herab. Von den radikalen Nationalparteien heftig bekämpft, scheiterte Taaffe am Versuch, ein nahezu allgemeines Wahlrecht einzuführen.

Nach 1893 konnte keine Regierung mehr die ständige Unterstützung der Mehrheit des Abgeordnetenhauses für sich gewinnen.

Parlament und Kaiser

Eröffungssitzung des Abgeordnetenhauses 1907

Kaiser Franz Joseph, der anfangs absolut regierte, stand dem Parlamentarismus, den er dem erstarkenden Bürgertum zugestehen musste, lange Zeit misstrauisch gegenüber. Er hielt sich aber strikt an die von ihm sanktionierte Verfassung. Die schrittweise Ausweitung des Wahlrechts musste dem skeptischen Kaiser im 19. Jahrhundert von den jeweiligen Regierungen mühsam abgerungen werden.

Die immer wieder erlassenen kaiserlichen Entschließungen zur Vertagung des Reichsrates entsprangen nicht absolutistischen Regungen, sondern erfolgten auf Vorschlag der k.k. Regierung, wenn der Reichsrat zu Beratungen und Entscheidungen auf Grund von Obstruktion, meist durch tschechische Abgeordnete, nicht in der Lage war.

Das Parlamentsgebäude besuchte Franz Joseph nur zweimal, beim Richtfest und bei der Einweihung. Die Thronreden mussten sich die Abgeordneten in der Hofburg anhören. Damit versuchte der Hof die Fiktion aufrechtzuerhalten, der Kaiser sei weiterhin der eigentliche Machthaber, wie dies auch die stereotype Einleitung der beschlossenen Gesetze suggerierte: Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrates finde ich anzuordnen, wie folgt …

Der Kaiser änderte nach der russischen Revolution von 1905 seine Einstellung zum Parlament und betrieb die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts, wie es von der Sozialdemokratie in Großdemonstrationen verlangt wurde, gemeinsam mit seinem Ministerpräsidenten Max Wladimir von Beck aktiv. Thronfolger Franz Ferdinand trat 1906 mit adeligen Großgrundbesitzern dagegen auf und wollte die Reform im Herrenhaus zu Fall bringen; der Kaiser ließ seine beiden Obersthofmeister, Rudolf Fürst Liechtenstein und Alfred Fürst Montenuovo, im Herrenhaus für die Reform das Wort ergreifen.[3] Die Wahlrechtsreform trat 1907 in Kraft.

Siehe auch

  • Kategorie der Mitglieder zum Abgeordnetenhauses

Einzelnachweise

(RGBl. = Reichsgesetzblatt für das Kaisertum Österreich, erschienen 1852 bis 1869, bzw. für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder, erschienen 1870 bis 1918)

  1. Stenographisches Protokoll der Eröffnungs-Sitzung des Hauses der Abgeordneten des Reichsrathes
  2. RGBl. Nr. 141 / 1867 (= S. 389)
  3. Friedrich Weissensteiner: Franz Ferdinand. Der verhinderte Herrscher, Österr. Bundesverlag, Wien 1983, ISBN 3-215-04828-0, S. 164 f.

Weblinks


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