Bürgertum

Bürgertum
Engländer in der Campagna von Carl Spitzweg, um 1845, Porträt englischer Bürger der Biedermeierzeit, die nach dem Konzept der Grand Tour eine bildungsbürgerliche Fernreise zu den Stätten des klassischen Altertums unternehmen
Der Sonntagsspaziergang von Carl Spitzweg, 1841, Porträt einer bürgerlichen Familie der Biedermeierzeit
Das Lesekabinett von Johann Peter Hasenclever, 1843, Porträt des rheinischen Bürgertums der Biedermeierzeit, Düsseldorfer Malerschule
Straße in Paris an einem regnerischen Tag von Gustave Caillebotte, nach 1863, Porträt eines unter Baron Hausmann neu angelegten Pariser Stadtviertels und der es prägenden Bourgeoisie
Foto der Familie des Arztes und Schriftstellers Wolfgang Müller von Königswinter: Porträt einer bürgerlichen Familie im 19. Jahrhundert

Das Bürgertum ist die geschichtlich unterscheidbare Vergesellschaftungsform von Mittelschichten (engl.: middle classes), sofern diese auf Grund besonderer, mehr oder minder gemeinsamer Interessen ähnliche handlungsleitende Wertorientierungen und soziale Ordnungsvorstellungen ausbilden und damit auch die politische Stabilität eines Landes beeinflussen.

Im Rahmen der Politischen Ökonomie des Marxismus ist für die Klasse, die in der Gesellschaftsformation des Kapitalismus Verfügungsgewalt über die gesellschaftlichen Produktionsmittel ausübt, die Bezeichnung Bourgeoisie üblich.

Als Wort geht Bürgertum (Bürger) als der Begriff für eine Bevölkerungsgruppe aus von dem mittellateinischen burgus, einer von Mauern geschützten (geborgenen) und mit besonderen Privilegien u. a. Marktrecht versehenen Ansiedlung, in der Kaufleute und Handwerker wohnten. Diese soziale Gruppierung ist indes im Lauf der Geschichte einem starken sozialgeschichtlichen Wandel unterlegen gewesen und hat dabei deutlich unterschiedene Unterformen ausgeprägt. So ist der Begriff des Bürgertums in den verschiedenen Gesellschaften wegen derer unterschiedlichen geschichtlicher Entwicklung nie völlig bedeutungsgleich.

Inhaltsverzeichnis

Zur Soziologie des Bürgertums

Als gesellschaftliche Schicht wird das Bürgertum gegenüber dem Adel und Klerus sowie gegenüber Bauern und Arbeitern abgegrenzt. Es umfasst weitgehend in sich heterogene Sozialgruppen, die sich, sei es durch ihre wirtschaftliche Selbständigkeit (Besitz), sei es durch spezielle Berufsvorbereitung (Bildung) auszeichnen und dadurch als Sozialgruppe bestimmte Vorrechte bezüglich Selbstverwaltung sowie Chancen zur Kontrolle sozialer Machtmittel zu erlangen vermögen.

„Bürgertum“ ist die zusammenfassende Bezeichnung für eine vielschichtig strukturierte, im Einzelnen nur schwer abgrenzbare Gesellschaftsschicht zwischen Oberschicht sowie Bauern und Arbeiterschaft. Sie setzt sich im Wesentlichen aus den Teilschichten des Großbürgertums und des Kleinbürgertums zusammen. Seit der industriellen Revolution wird sie meist dem Mittelstand zugeordnet.

Da also das Bürgertum meist aus weitgehend heterogenen Schichten besteht, ist der Prozess der Vergesellschaftung für das Bürgertum noch etwas problematischer als bei homogeneren sozialen Kategorien (zur Frage der Entwicklung eines Klassenbewusstseins bzw. der Klasse an sich und Klasse für sich, vgl.: Das Elend der Philosophie!). Strikt genommen ist die Tatsache, dass in einer bestimmten Gesellschaft eine Mittelschicht existiert, noch nicht ausreichend, um auf die soziale und kulturelle Existenz eines Bürgertums schließen zu können. Voraussetzung ist beim Bürgertum eine hinreichend ausdifferenzierte Sozialstruktur der Gesellschaft; außerdem müssen sich dort auf seine Interessenlage abgestimmte Ordnungsvorstellungen durchgesetzt haben (z. B.: Wirtschaftsliberalismus für das Groß-/Wirtschaftsbürgertum oder Aufklärung, Bildung und Freiheit der persönlichen Lebensführung, der Kunst und der Wissenschaft beim Bildungsbürgertum).

Entstehen und Wandel des Bürgertums

In der Zeit des abendländischen Feudalismus erkämpfte sich das Bürgertum in Abgrenzung zu Bauern und Adel seine bürgerlichen Freiheiten, zunächst in den reichsunmittelbaren Städten, gestützt auf kaufmännische Gilden und handwerkliche Zünfte. Die im Zeitalter der Aufklärung formulierten und u.a. in der Französischen Revolution von den Bürgern erkämpften Bürgerrechte gelten heute als Menschenrechte.

Eine erste moderne Definition zu den rechtlichen Bestimmungen des Bürgerstandes stammt aus dem Jahre 1794 und findet sich im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR):

§ 1. Der Bürgerstand begreift alle Einwohner des Staats unter sich, welche, ihrer Geburt nach, weder zum Adel, noch zum Bauernstande gerechnet werden können, und auch nachher keinem dieser Stände einverleibt sind.
§ 2. Ein Bürger im eigentlichen Verstande wird derjenige genannt, welcher in einer Stadt seinen Wohnsitz aufgeschlagen, und daselbst das Bürgerrecht gewonnen hat.
§ 3. Personen des Bürgerstandes in und außer den Städten, welche durch ihre Ämter, Würden, oder besonder Privilegien, von der Gerichtsbarkeit ihres Wohnortes befreyt sind, werden Eximierte genannt. […]
§ 5. Einwohner der Städte, welche weder eigentliche Bürger, noch Eximierte sind, heißen Schutzverwandte.
§ 6. Bürger und Schutzverwandte der Stadt werden nach den Statuten ihres Wohnorts, Eximierte hingegen nach den Provinzialgesetzen, und in deren Ermangelung, nach dem allgemeinen Gesetzbuche beurtheilt.

Bürgerrecht war also ein ständisches Recht. Es wurde durch Geburt erworben oder an solche Bewerber verliehen, die es beantragten und wichtige Bedingungen erfüllen mussten. Waren sie leistungsfähig und verfügten sie über Vermögen, waren sie willkommen. Das Allgemeine Landrecht verweist mit dieser Definition bereits auf drei Grundarten des Bürgerbegriffs: Stadtbürger (Handwerksmeister, wohlhabende Kaufleute, Ladenbesitzer, Gastwirte – insgesamt auch als Kleinbürger bezeichnet), Bildungsbürger im Staatsdienst (Eximierte) und Wirtschaftsbürger oder Bourgeois (ebenfalls Eximierte).

Im Laufe des 19. Jahrhunderts erweiterte sich dann der „Bürger“-Begriff, immer stärker wurde auch nach der Stellung im Beruf gefragt. Durch den Prozess der Verbürgerlichung können immer wieder neue Schichten in das Bürgertum hineingezogen werden (bspw.: höhere Angestellte). Ausschlag hierfür ist das Ausmaß, inwieweit diese Schichten Selbständigkeit und Zugang zu gesellschaftlichen Machtmittel gewinnen (Autonomie und Autokephalie laut Max Weber).

Hingegen kann im Prozess einer Entbürgerlichung die soziale Basis für das Bürgertum schrumpfen, etwa indem bestimmte Kreise von Selbständigen und fachlich Geschulten soziale Vorrechte abtreten müssen und/oder dieselben in der Gesellschaft allgemein verbreitet werden.

Bürgerlichkeit als soziale und kulturelle Erscheinung

Die Idee der bürgerlichen Gesellschaft wurde in der Epoche der Aufklärung entwickelt, fand aber bereits erste günstige Entwicklungsbedingungen in der „okzidentalen Stadt“ (laut Max Weber). Sie wurde zunächst als Stand (in der Französischen Revolution von 1789 als der gesamt gesellschaftlich ausschlaggebende „Dritte Stand“), dann im Marxismus als Klasse („Bourgeoisie“), zuletzt als stilbestimmendes Milieu aufgefasst, das in der Gegenwart zumindest inselhaft fortlebt und wirkt.

Eine weltgeschichtlich einzigartige Rolle spielte das Bürgertum bei der Transformation des Feudalismus und des Absolutismus in Wirtschaft und Gesellschaft durch seine Ideen von Demokratie (Volkssouveränität), Menschenrechte, Rechtsstaat und Liberalismus. Im Bereich der Dichtung und des Theaters emanzipierte es sich, indem es das bürgerliche Trauerspiel als Genre durchsetzte.

Das Bürgertum prägte in der Zeit des Frühkapitalismus die „bürgerliche Weltanschauung“ aus, die eng mit den „bürgerlichen Tugenden“ Leistung, Fleiß und Sparsamkeit verbunden ist. Dabei formten die bürgerlichen Intellektuellen sich zu einem entweder staatlich alimentierten oder freiberuflichen Bildungsbürgertum, das teilweise auch Kritik an den vorherrschenden bürgerlichen Vorstellungen und Ideen zu formulieren vermochte.

Während die kommunistische Kritik einerseits die Bourgeoisie als Klassenfeind der Arbeiter definierte und dabei „Kleinbürger“ als zwischen den Klassenfronten politisch hin und her schwankend gesehen wurden, wurde der Begriff des Bürgers noch in anderen Zusammenhängen negativ besetzt verwendet, wie die Ausdrücke „Verbürgerlichung“ oder „verbürgerlichtes Christentum“ deutlich machen. Gleiches gilt für den von der Jugendbewegung aus dem 17. Jahrhundert übernommenen Begriff des „Spießbürgers“, ein aus dem Jargon des Ritterheeres stammendes Schimpfwort.

In den Niedergang des (z. B.: „viktorianischen“ oder „wilhelminischen“) Bürgertums im späten 19. Jahrhundert gehört bereits das sich – teils vom Adel her – verbreitende Ideal, dass die Frau nur noch Repräsentationspflichten besitze und den Haushalt allenfalls noch beaufsichtige. Für die Hausarbeit gab es Personal. So hatte die bürgerliche Frau Zeit, dem Geld verdienenden Manne die bürgerlichen Bildungsanstrengungen abzunehmen, die Geselligkeit in den jeweiligen Verkehrskreisen zu organisieren, ggf. auch wohltätig zu sein.

Mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel wird schon seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die Ansicht vertreten, dass das Bürgertum als beispielgebender Lebensstil insgesamt zu Ende gegangen sei. Hervorgegangen sei eine nachbürgerliche Gesellschaft von Angestellten, Beamten und anderen Gruppierungen, die im Wesentlichen in einem neuen Mittelstand verschmolzen seien und sich ungeachtet ihrer Wurzeln im Bürgertum im Stil nicht vom allgemeinen Stil der Industriegesellschaft unterschieden. (Vgl. auch: die Nivellierte Mittelstandsgesellschaft!) Dies schließt nicht aus, dass bürgerliche Lebensstile immer noch vorkommen, meist als Familienstile.

Siehe auch

Literatur

  • Heinz Bude, Joachim Fischer, Bernd Kauffmann (Hrsg.): Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir? Fink , Paderborn 2010, ISBN 3-77-054627-X.
  • Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland. Goldmann, München 1991, ISBN 3-44-212829-3.
  • Andreas Gotzmann, Rainer Liedtke, Till van Rahden (Hrsg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933. Mohr Siebeck, Tübingen 2001, ISBN 3-16-147498-8.
  • Manfred Hettling, Bernd Ulrich (Hrsg.): Bürgertum nach 1945. Hamburger Edition, Hamburg 2005, ISBN 3-93-609650-3.
  • Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987, ISBN 3-52-501339-6.
  • Oskar Köhler: Bürger, Bürgertum. In: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon. (Bd. 1. Abendland - Deutsche Partei), Herder, Freiburg im Breisgau 1985, ISBN 3-451-19301-9, Sp. 1040 ff. (mit zahlreichen weiterführenden Literaturangaben)
  • Peter Lundgreen (Hrsg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs 1986–1997. Göttingen 2000, ISBN 3-525-35683-8.
  • Michael Schäfer: Geschichte des Bürgertums. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2009, ISBN 3-82-523115-1.

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Bürgertum – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise



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