Bürgergesellschaft

Bürgergesellschaft

Unter Bürgergesellschaft wird eine demokratische Gesellschaftsform verstanden, welche durch die aktive Teilnahme ihrer Mitglieder am öffentlichen Leben gestaltet und weiterentwickelt wird. Getragen wird die Bürgergesellschaft durch das freiwillige Engagement ihrer Akteure, der Bürger. Ein eng verwandter und oft gleichbedeutend verwendeter Begriff ist Zivilgesellschaft.

Inhaltsverzeichnis

Begriff

Der Begriff der Bürgergesellschaft hängt in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion eng zusammen mit den Begriffen der bürgerlichen Gesellschaft und der Zivilgesellschaft. Dies ist dadurch bedingt, dass alle drei Begriffe im Englischen regelmäßig mit civil society übersetzt werden. Zwar gibt es im Englischen neben dem Begriff der civil society auch die Begriffe der civic society und der civil civic society, allerdings werden diese Begriffe im Englischen noch stärker als Synonyme verwendet als im Deutschen die drei entsprechenden Begriffe bürgerliche Gesellschaft, Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaft. Damit bezeichnet der Begriff der Bürgergesellschaft heute ganz vorwiegend eine politische Kategorie.

Die älteste buchliche Überlieferung des Begriffs der Bürgergesellschaft stammt von Adam Ferguson. In seinem bereits 1767 veröffentlichten Essay über die Geschichte der Bürgergesellschaft erörtert er das Verhältnis von individueller Tugendhaftigkeit innerhalb und der Gesamtentwicklung der betroffenen Gesellschaft. Ferguson kommt zu dem Schluss, dass Tugendhaftigkeit Voraussetzungen hat, die durch die Ergebnisse der Tugendhaftigkeit nicht automatisch in ihrem Bestand gesichert sind oder sogar gefährdet werden können.

Im Deutschen taucht in Anlehnung an Ferguson zunächst die Übersetzung als Zivilgesellschaft bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ von 1821 auf. Hegel beschreibt mit dem Begriff der Zivilgesellschaft oder auch als bürgerliche Gesellschaft in seinem System der Dialektik die Wechselwirkung zwischen der Privatsphäre einerseits, welche für Hegel durch die Familie verkörpert wird, und der Gesamtgesellschaft andererseits, welche durch den Staat verkörpert wird. Hegel beschreibt wie Ferguson keine originär politische, sondern eine sittliche Kategorie.

Im kommunistischen Manifest von 1848 beschreiben Friedrich Engels und Karl Marx die bürgerliche Gesellschaft nicht als sittliche, sondern als ökonomische Kategorie. Für Engels und Marx ist die bürgerliche Gesellschaft durch Produktionsbedingungen gekennzeichnet, welche durch eine strikte Trennung von Kapital und Arbeit bestimmt werden. Die bürgerliche Gesellschaft gilt bei Engels und Marx zwar als Fortschritt gegenüber dem Feudalismus, gleichzeitig aber auch nur als zu überwindendes historisches Übergangsstadium zum Sozialismus und schließlich zum Kommunismus.

Soweit der Begriff der Bürgergesellschaft nicht als Synonym zur Zivilgesellschaft verwendet wird, wird zur Unterscheidung regelmäßig, u. a. z. B. auch bei Christopher Gohl, auf die bloß lückenausfüllende Funktion der Zivilgesellschaft verwiesen. Nach diesem Verständnis übernimmt die Zivilgesellschaft Aufgaben, welche durch staatliche Institutionen nicht oder nicht hinreichend erfüllt werden. Die Bürgergesellschaft hingegen erhebt den Anspruch, selbst einen eigenen Ordnungsrahmen darzustellen, welcher an die Stelle des Nationalstaates tritt. Nach diesem Verständnis beinhaltet der Begriff der Bürgergesellschaft den Begriff der Zivilgesellschaft, geht aber über diesen hinaus. Ziel der Bürgergesellschaft ist somit nicht nur das Nutzen von staatlichen Freiräumen und die Erfüllung gemeinnütziger Aufgaben, sondern darüber hinaus auch die Gestaltung des politischen Ordnungsrahmens.

Wo von der grundsätzlichen Allzuständigkeit des Staates ausgegangen wird, wird heute meist der Begriff der Zivilgesellschaft verwendet. Diese Begriffsverwendung deutet darauf hin, dass mit die Übernahme bestimmter Aufgaben durch andere als staatliche Akteure der Staat nicht aus seiner Verantwortlichkeit entlassen werden soll. Viele Nichtregierungsorganisationen bevorzugen den Begriff der Zivilgesellschaft und fordern damit einhergehend entweder eine staatliche Übernahme der von ihnen bisher erfüllten Aufgaben oder zumindest eine aktive staatliche Unterstützung für ihre zivilgesellschaftliche Aufgabenerfüllung.

In Bereichen, in denen eine nichtstaatliche Ordnung langfristig etabliert ist oder zumindest als wünschenswert angesehen wird, wird bevorzugt der Begriff der Bürgergesellschaft verwendet. Dies betrifft sowohl viele kirchliche Kreise als auch liberale und teilweise auch konservative Gruppen.[1] Mit der Verwendung des Begriffs der Bürgergesellschaft wird zum Ausdruck gebracht, dass der Gesellschaft grundsätzlich eine Selbstorganisationskraft zugetraut wird, so dass der Staat nicht oder jedenfalls nur bei erkennbaren Defiziten der Selbstorganisation eingreifen soll.

Die Entwicklung und Verbreitung des Begriffes der Bürgergesellschaft in der politikwissenschaftlichen und politischen Diskussion ist stark mit der Überwindung der Diktaturen in Südamerika und in Mittel- und Osteuropa verbunden. Hier wurde ausgehend von zivilgesellschaftlichem Engagement innerhalb der bestehenden Systeme bürgergesellschaftliches Engagement zur Überwindung eben dieser System entfaltet.

Teilweise wird Bürgergesellschaft allerdings auch grundsätzlich unpolitisch als Zusammenfassung ehrenamtlichen Engagements beschrieben.

Bürgergesellschaft als politische Ordnung

Regelmäßig wird zur Definition der Bürgergesellschaft, wie z. B. bei Daniel Dettling, auf eine Dreiteilung des Gemeinwesens zurückgegriffen (Trilektik). Neben den Sphären des Staates und der Wirtschaft wird als dritte Sphäre diejenige der Zivilgesellschaft ausgemacht. Innerhalb dieser dritten Sphäre schließen sich Bürger zusammen, um ihre überindividuellen Interessen gemeinsam wahrzunehmen. Gelegentlich wird diesen drei Sphären eine vierte hinzugefügt, welche Privatheit und Familie umfasst.

Unter Bürgergesellschaft wird entweder allein der die dritte Sphäre verstanden, welche oft auch als „Dritter Sektor“ bezeichnet wird, oder, nach wohl vorherrschender Begriffsverwendung, ein gesamtgesellschaftliches Modell, das zwar maßgeblich von der dritten Sphäre aus gestaltet wird, das aber Staat und die Wirtschaft mit umfasst, so z. B. die Verwendung bei Christopher Gohl.

Die Bürgergesellschaft ist somit eine politische Ordnung, in welcher Demokratie ausgehend von der Eigeninitiative der Bürger wahrgenommen wird. Dieser Ansatz soll demokratische Beteiligung gerade auch über die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen hinaus ermöglichen. Anders als bei der Zivilgesellschaft stehen in der Bürgergesellschaft solche Gruppierungen im Vordergrund, die sich nicht auf aktuelle karitative und wohltätige Aufgaben beschränken, sondern darüber hinaus den Anspruch erheben, auf die gesellschaftliche Entwicklung gestalterisch Einfluss zu nehmen.

Umstritten ist, welche Rolle der Staat in einer Bürgergesellschaft einnimmt. Unter den Stichworten „motivierender Staat“, „moderierender Staat“ und „aktivierender Staat“ wird dem Staat die Rolle zugedacht, bürgergesellschaftliches Engagement zu fördern und gegebenenfalls auch lenkend zu beeinflussen. Diese Rolle wird teilweise als neue Rechtfertigungsgrundlage für den Fortbestand von Staaten und auch von nationalstaatlichen Ordnungen angesehen.

Teilweise wird demhingegen die Bürgergesellschaft als Modell angesehen, welches den Nationalstaat als grundlegende politische Ordnung abzulösen und dessen Schwächen zu überwinden in der Lage ist. Insbesondere wird der Bürgergesellschaft zugetraut, konstruktive Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung, einer sich rasant beschleunigenden Wissensgesellschaft und sich verändernder Arbeitswirklichkeiten zu finden und aus sich selbst heraus zukunftstaugliche Lösungen umzusetzen.

Bürgergesellschaft wird regelmäßig nicht deskriptiv als bereits bestehend, sondern normativ als Zielperspektive zur Fortentwicklung politisch-gesellschaftlicher Ordnungen angesehen. Bürgergesellschaft beschreibt somit keinen Zustand, sondern einen Prozess hin zu einer umfassenderen demokratischen Teilhabe auf der Basis von Eigeninitiative und Selbstorganisation außerhalb von unmittelbaren staatlichen und wirtschaftlichen Einflussnahmen.

Kritik

Kritik erfährt das Konzept der Bürgergesellschaft sowohl aus theoretischer als auch aus praktischer Sicht.

Theoretisch wird die Tragfähigkeit der Bürgergesellschaft angezweifelt. Insbesondere wird bezweifelt, dass sie die starke Bindungskraft und die damit verbundene hohe Leistungsfähigkeit des Nationalstaates aufbringen könne. Außerdem wird in einer zu großen Einflussnahme von einzelnen Gruppen auf die politische Ordnung auch eine Gefährdung demokratischer Grundprinzipien erkannt, wonach die Gleichheit aller Bürger gerade durch das gleiche Wahlrecht innerhalb staatlicher Strukturen sichergestellt wird.

Praktisch wird darauf verwiesen, dass gerade dort, wo bürgergesellschaftliches Engagement am dringendsten nötig wäre, solches am wenigsten vorzufinden ist. Während in bevorzugten Wohngebieten regelmäßig auch das gesellschaftliche Leben und die Vereinstätigkeit sehr stark ausgeprägt sind, verbleibt in benachteiligten Wohngebieten sowohl die karitativ-gemeinnützige Aufgabenerfüllung als auch die Einbindung der Bevölkerung in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge primär eine staatliche Aufgabe oder findet nur unzureichend statt.

Es stellt sich somit sowohl für Befürworter als auch für Gegner eines weiten Bürgergesellschaftskonzeptes die Frage, welches die Voraussetzungen einer solchen Ordnung sind und ob bzw. wie diese Voraussetzungen auch außerhalb bereits bestehender bürgerlicher Gesellschaftsstrukturen umfassend verwirklicht werden können.

Beispiele für Organisationen in der Bürgergesellschaft

Siehe auch

Literatur

  • Bert van den Brink/Willem van Reijen (Hrsg.): Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995.
  • Daniel Dettling: Das Kapital der Bürgergesellschaft. Impulse für den 3. Sektor von morgen, Norderstedt 2002.
  • Friedrich Engels und Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848.
  • Adam Ferguson: Essay on the History of Civil Society, Edinburgh 1767.
  • Francis Fukuyama: The Great Disruption: Human Nature and the Reconstitution of Social Order, The Free Press, New York 1999.
  • Christopher Gohl: Bürgergesellschaft als politische Zielperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu: Das Parlament; B 6-7/2001, Berlin 2001.
  • Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft 1821.
  • Robert D. Putnam: Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, Simon & Schuster, New York 2000
  • Bernd Wagner: Fürstenhof und Bürgergesellschaft. Zur Entstehung, Entwicklung und Legitimation von Kulturpolitik (Edition Umbruch Band 24), Kulturpolitische Gesellschaft Bonn e. V., Klartext, Essen 2009, ISBN 978-3-8375-0224-4.
  • Friedrich Fürstenberg: Die Bürgergesellschaft im Strukturwandel. Problemfelder und Entwicklungschancen, LIT, Münster 2011.

Einzelnachweise

  1. Huber zum 85. Geburtstag von Frau Hamm-Brücher. ekd.de (10. Mai 2006). Abgerufen am 26. Juni 2011.

Weblinks


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