Zivilgesellschaft

Zivilgesellschaft

Der Begriff Zivilgesellschaft geht zurück auf den vom britischen Soziologen Adam Ferguson geprägten Begriff der civil society und wurde von Hegel in seiner Rechtsphilosophie mit bürgerlicher Gesellschaft übersetzt. In der heutigen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion hat er im Wesentlichen zwei Bedeutungen:

Zum einen bezeichnet er einen Bereich innerhalb einer Gesellschaft, der zwischen staatlicher, wirtschaftlicher und privater Sphäre entstanden ist – oder auch: zwischen Staat, Markt und Familie. Der Bereich wird als öffentlicher Raum gesehen, den heute eine Vielzahl vom Staat mehr oder weniger unabhängigen Vereinigungen mit unterschiedlichem Organisationsgrad und -form bilden – etwa Initiativen, Vereine, Verbände. Der Begriff soziale Bewegung bezeichnet Teile solcher Organisationen. Die Begriffe Nichtregierungsorganisationen (engl. non governmental organizations, NGO), Non-Profit-Organisationen (NPO) oder Dritter Sektor werden oft gleichbedeutend mit Zivilgesellschaft verwendet. Sie stellen die organisierte Form zivilgesellschaftlichen Engagements dar. Voraussetzung für zivilgesellschaftliches Engagement sind die individuellen und kollektiven Freiheiten (z. B. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit), die demokratische Staaten zivilgesellschaftlichen Akteuren einräumen.

Zum anderen wird mit „Zivilgesellschaft“ eine Entwicklungsrichtung von Gesellschaften bezeichnet, die mit Zivilisierung und Demokratisierung umschrieben werden kann. In diesem Diskussionsstrang wird oft der Begriff Bürgergesellschaft gleichbedeutend verwendet. Dabei verschwimmen häufig die Grenzen zwischen einer Beschreibung und Erklärung dieses Trends einerseits und der Forderung nach seiner Unterstützung andererseits, d. h. „Zivilgesellschaft“ wird zur politischen Forderung im Sinne von „mehr Demokratie“. Besonders war dies in den lateinamerikanischen Diktaturen oder in Osteuropa vor 1989 zu beobachten, aber auch in westlichen repräsentativ-demokratischen Gesellschaften wird der Begriff mit der Forderung einer weitergehenden Demokratisierung verbunden. Unter letzterer wird oft die Partizipation aller Bürger an gesellschaftlichen Entscheidungen verstanden, im Sinne einer Basisdemokratie oder partizipativen Demokratie, als Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie. Auch der neuere Begriff der kooperativen Demokratie wird in dieser Debatte verwendet.

Der Begriff „Bürgerschaftliches Engagement“ bezieht sich auf zwei Aktivitäten, die mit diesen beiden Bedeutungen von Zivilgesellschaft angesprochen sind: zum einen das gemeinsame Engagement von Bürgern zur Lösung kleinerer oder größerer Probleme, die weder von Staat noch Markt noch Familie ausreichend lösbar sind („mit anpacken“), und zum anderen die politische Einflussnahme von Bürgern auf Staat und Markt („mitbestimmen“).

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

Klassisch-griechische Philosophie

Bis zum 18. Jahrhundert wurde der Sprachgebrauch des Begriffs durch Aristoteles geprägt: bürgerliche Gesellschaft ist die wörtliche Übersetzung des griechischen politiké koinonia (πολιτικὴ κοινωνία), der später ins Lateinische (societas civilis) übertragen wurde. Dieser Begriff galt als gelegentliche Bezeichnung für die Polis als bürgerliche bzw. politische Gesellschaft. Aristoteles bezeichnet damit eine Gemeinschaft von Bürgern (die Polisbewohner: freie Bürger, Hausherren), die zusammen das Gute tugendhaft verwirklichen. Davon unterschieden wird die häusliche Sphäre (oikos / οἶκος), in der die Grundbedürfnisse gesichert werden.

Alexis de Tocqueville

Alexis de Tocqueville, ein französischer Jurist und Politiker, der auch als einer der Vorläufer der Soziologie bezeichnet werden kann, hat in einer noch heute häufig zitierten Untersuchung („De la démocratie en Amérique“, 1835) den Zusammenhang zwischen Zivilgesellschaft und Demokratie in den USA beschrieben. Hierbei beschreibt Tocqueville die „Assoziative Demokratie“ als Schutz vor der „Diktatur der Mehrheit“.[1]

Antonio Gramsci

Zivilgesellschaft wurde als Begriff auch vom marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci (1891–1937) geprägt. Gramsci beschäftigte sich in seinen „Gefängnisheften“ mit dem Scheitern der sozialistischen Revolutionen im Westen und fand die Erklärung in seinem Konzept des integralen Staates. Der integrale Staat beinhaltet nicht nur die Institutionen der klassisch-bürokratischen Staatsmaschinerie, die das Gewaltmonopol des Staates ausführt, sondern auch die Zivilgesellschaft, verstanden als Gesamtheit aller nichtstaatlichen Organisationen, die auf den Alltagsverstand und die öffentliche Meinung Einfluss haben. Hier finden die Auseinandersetzungen um kulturelle Hegemonie statt, und die kulturell-politische Hegemonie der bürgerlichen Klassen im Westen sichert den Bestand des Kapitalismus auch in Zeiten politischer Krisen, während im zaristischen Russland der Mangel einer solchen Zivilgesellschaft den Bolschewiki die relativ gesehen einfache Machtübernahme und den Machterhalt ermöglichte.

Siehe auch

Literatur

  • Helmut K. Anheier, Stefan Toepler: International Encyclopedia of Civil Society (1. Auflage). Springer-Verlag New York Inc., New York 2010, ISBN 978-0-387-93996-4
  • Uwe Altrock, Heike Hoffmann, Barbara Schönig (Hrsg.): Hoffnungsträger Zivilgesellschaft? Governance, Nonprofits und Stadtentwicklung in den Metropolenregionen der USA. Berlin 2007, ISBN 978-3-937735-06-1
  • Joachim Betz, Wolfgang Hein (Hrsg.): Neues Jahrbuch Dritte Welt 2005. Zivilgesellschaft. Wiesbaden 2005, ISBN 3-531-14566-5* Jean-Claude Boual, Horst Grützke (Hrsg.): Auf zu einer europäischen Zivilgesellschaft. Paris/Potsdam 2002. Internet-Abdruck in „Europäisches Bürger-Netzwerk / Europäische Bürger-Akademie“
  • Dieter Gosewinkel, Dieter Rucht, Wolfgang van den Daele, Jürgen Kocka (Hrsg.): Zivilgesellschaft - national und transnational. Berlin 2004, ISBN 3-89404-299-0
  • Dieter Gosewinkel: Zivilgesellschaft, in: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2011, Zugriff am: 24. August 2011.
  • Volker Heins: Das Andere der Zivilgesellschaft. Zur Archäologie eines Begriffs, transcript Verlag, Bielefeld 2002, ISBN 978-3-933127-88-4
  • Michèle Knodt, Barbara Finke (Hrsg.): Europäische Zivilgesellschaft. Konzepte, Akteure, Strategien. Bürgergesellschaft und Demokratie. Bd. 18, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005, ISBN 3-8100-4205-6.
  • Berthold Kuhn: Entwicklungspolitik zwischen Markt und Staat. Möglichkeiten und Grenzen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Frankfurt a.M. 2005, ISBN 3-593-37742-X
  • Ahad Rahmanzadeh et al, IRAN - Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen in einem islamischen Land, BFTE Bonn 2008, ISBN 978-3-00-021915-3
  • Sabine Reimer: Die Stärken der Zivilgesellschaft in Deutschland. Eine Analyse im Rahmen des CIVICUS Civil Society Index Projektes / The Strength of Civil Society in Germany: An Analysis in the Context of the CIVICUS Civil Society Index Project. Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft. Maecenata Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-935975-45-7
  • Lester M. Salamon, Helmut K. Anheier, Regina List, Stefan Toepler, S. Wojciech Sokolowski: Global Civil Society. Dimensions of the Nonprofit Sector. The Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project. The Johns Hopkins Center for Civil Society Studies, Baltimore 1999, ISBN 1-886333-42-4
  • Theo Votso: Der Begriff der Zivilgesellschaft bei Antonio Gramsci. Hamburg 2001, ISBN 3-88619-281-4
  • Frank Adloff: Zivilgesellschaft Theorie und politische Praxis. Frankfurt a.M. 2005, ISBN 978-3-593-37398-0

Weblinks

Einzelnachweise

  1. http://books.google.de/books?id=K8tZT2mhWfIC&lpg=PA67&ots=9tCyL_Yz8p&dq=assoziative%20demokratie%20tocqueville&pg=PA67#v=onepage&q&f=false

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