Neogramscianismus

Neogramscianismus

Neogramscianismus ist eine relative neue Richtung in den Studien Internationaler Beziehungen und der Internationalen Politischen Ökonomie, die den langwährenden Stillstand zwischen der Denkschule des Realismus und den liberalen Theorien zu durchbrechen versucht. Sie stützt sich in ihrem kritischen Ansatz auf die politische Philosophie des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci.

Der ehemalige Direktor des Internationalen Instituts für Arbeitsfragen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), Robert W. Cox, hat als erster die politische Philosophie Antonio Gramscis für das Verständnis der internationalen Beziehungen fruchtbar gemacht (vgl. Cox 1977).

Inhaltsverzeichnis

Wissenschaftsverständnis des Neo-Gramscianismus

Der Neo-Gramscianismus beruht auf einem post-positivistischen Wissenschaftsverständis. Robert W. Cox unterteilt hierzu die Theorien der internationalen Beziehungen in problem-solving theories und critical theories. Erstere gehen davon aus, dass bestimmte Eigenschaften der bestehenden Weltordnung permanent sind. Innerhalb dieser versuchen sie dann isolierte Probleme zu lösen. Kritische Theorien hingegen nehmen die bestehende Weltordnung nicht als gegeben hin, sondern stellen sie in Frage. Zum einen, wie sie entstanden ist, was ihr momentaner Ist-Zustand ist und zum anderen, wie und wer sie verändern könnte.

Kulturelle Hegemonie

Der Hegemonie-Begriff ("kulturelle Hegemonie") des Neo-Gramscianismus unterscheidet sich insofern von den klassischen Theorien der internationalen Beziehungen, als dass darunter nicht die ökonomische bzw. militärische Dominanz eines einzelnen Landes innerhalb des Staatensystems verstanden wird. Hegemonie ist vielmehr die Fähigkeit der herrschenden Klasse, ihre Interessen und Überzeugungen zu universalisieren, damit breite Gesellschaftsschichten diese als erstrebenswert erachten, auch wenn sie ihren persönlichen Interessen entgegenstehen. Hegemonie ist zum Beispiel dann erreicht, wenn sämtliche Beschäftigte dem Satz "Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es allen gut" zustimmen würden.

Ebenen und Elemente von Hegemonie

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Der Kampf um kulturelle Hegemonie artikuliert sich im Gegensatz zum klassischen Gramscianismus nicht mehr nur auf nationaler Ebene, sondern findet auf drei Ebenen statt. Innerhalb der gegebenen Produktionsverhältnisse, auf der Ebene der Staaten und der existierenden Weltordnung. Dies geschieht mittels folgender Elemente von Hegemonie: Materielle Kapazitäten (Produktionsmittel), Ideen (Theorien und Ideologen) und Institutionen (Verträge, Organisationen).

Historischer Block

Gelingt einer dominanten Klasse die Herausbildung einer Hegemonie mittels aller Elemente auf allen Ebenen des internationalen Systems, so sprechen die Vertreter des Neogramscianismus in Anlehnung an Gramsci von einem historischen Block. In den letzten Jahrzehnten bildete sich ein Block aus Managern, Geschäftspersonen, Akademikern und Staatsvertretern heraus, der auf den Wertvorstellungen des Neoliberalismus basiert. Robert W. Cox und Stephen Gill bezeichnen diesen Block wahlweise als transnational capitalist class oder transnational managerial class. Eine wichtige Rolle bei der Formierung dieses historischen Blocks spielen auf der einen Seite informelle Kreise, wie die Mont Pelerin Society oder die Trilaterale Kommission, aber auch internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und internationale Wirtschaftsschulen, in denen der Nachwuchs dieser Klasse ausgebildet wird.

Disziplinierender Neoliberalismus und Neuer Konstitutionalismus

Trotz seiner starken Dominanz ist es dem Neoliberalismus bisher nicht gelungen, kulturelle Hegemonie im Sinne von Antonio Gramsci zu erlangen. Die bisherige Universialisierung seines Gedankengutes kann seine Widersprüche nicht überlagern. Hier sind besonders zu nennen:

  • Diskrepanz zwischen Macht des Kapitals und seiner demokratischen Kontrolle
  • Intensivierung der Disziplin am Arbeitsplatz bei gleichzeitiger Prekarisierung und Marginalisierung von Arbeitsverhältnissen
  • Ausdehnung der neoliberalen Disziplin auf Bereiche, die früher vor dem Zugriff des Marktes geschützt waren

Die Hegemonie des Neoliberalismus basiert deshalb zunehmend nicht mehr auf Konsens, sondern Zwang. Stephen Gill spricht von einem disziplinierenden Neoliberalismus, der zunehmend sämtliche Bereiche des Lebens der Marktdisziplin unterwirft. Auf politisch-institutioneller Ebene wird dieser disziplinierende Neoliberalismus durch einen neuen Konstitutionalismus verankert. Dieser versucht politische Entscheidungen zu entdemokratisieren und eine neoliberale Politik durch internationale Abkommen zu zementieren. Ein Beispiel hierfür ist das Maastrichtkriterium (siehe EU-Konvergenzkriterien), welches nationale Regierungen zu fiskalischer Disziplin zwingt und eine alternative Wirtschaftspolitik unmöglich macht.

Kritik am Neo-Gramscianismus

  • Sachzwänge des kapitalistischen Systems werden unter- und Handlungsmöglichkeiten der darin agierenden Akteure überschätzt
  • Dominanz des kapitalistischen Systems basiert überwiegend auf Zwang und nicht auf Konsens
  • Neo-Gramscianer tendieren teilweise zu einer Elitenfixierung und vernachlässigen darüber hinaus den Einfluss anderer Akteure
  • Die Rolle der Nationalstaaten wird zu Gunsten der internationalen Zivilgesellschaft marginalisiert. Staaten spielen bei vielen Neo-Gramscianern nur noch eine untergeordnete Rolle (quasi als "Transmissionsriemen") und haben innerhalb der existierenden Weltordnung kaum Handlungsspielräume

Neo-Gramscianische Analysen

Weitere von Gramsci inspirierte Analysen finden sich beim kanadischen Politikwissenschaftler Stephen Gill und in Deutschland z. B. bei Hans-Jürgen Bieling/Jochen Steinhilber, Erik Borg und Christoph Scherrer. Die zentrale Kategorie zur Analyse von Herrschaft bildet bis heute die Hegemonie. Hegemonie ist nach Gramsci eine Form politischer Herrschaft, die auf Konsens beruht. Mit dem Hegemonie-Begriff knüpft der Neo-Gramscianismus an die Debatte um den Niedergang der US-amerikanischen Hegemonie seit den 70er Jahren an ("American Decline"). Stephen Gill untersuchte die Trilaterale Kommission als Beispiel für die Rolle transnationaler Politiknetzwerke für die Herausbildung neoliberaler Hegemonie in den internationalen Beziehungen (vgl. Gill 1990). Neuere Arbeiten untersuchen den politischen Charakter von Globalisierung.

Antonio Gramsci ist nur eine wichtige Quelle für diese Richtung, es werden weiters auch Eric Hobsbawm, Karl Polanyi, Karl Marx, Max Weber, Niccolò Machiavelli dazu gezählt, sowie, als jüngere Quellen auch Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Michel Foucault, Jacques Derrida und Stuart Hall. Diese Richtung wird oft als die kritische Theorie Internationaler Beziehungen bezeichnet.

Literatur

  • Hans-Jürgen Bieling/Frank Deppe: Gramscianismus in der Internationalen Politischen Ökonomie, in: Das Argument 217 (1996), S. 729 - 740 [einführender Aufsatz zur Thematik].
  • Hans-Jürgen Bieling/Jochen Steinhilber (Hg.): Die Konfiguration Europas. Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie, Münster 2000.
  • Erik Borg: Projekt Globalisierung. Soziale Kräfte im Konflikt um Hegemonie, Hannover 2001
  • Sonja Buckel & Andreas Fischer-Lescano (Hg.): Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis von Antonio Gramsci, Baden-Baden 2007. ISBN 978-3-8329-2438-6
  • Robert W. Cox: Labor and Hegemony in: International Organization, 31 (1977) 3, S. 385-424.
  • Robert W. Cox: Power, Production, and World Order, New York 1987.
  • Stephen Gill: American hegemony and the Trilateral Commission. Cambridge 1990.
  • Uwe Hirschfeld (Hg.): Gramsci-Perspektiven. Beiträge zur Gründungskonferenz des "Berliner Instituts für Kritische Theorie" e. V. vom 18. bis 20. April 1997 im Jagdschloss Glienicke, Berlin, Argument-Verlag, Berlin/Hamburg 1998 (darin vor allem der Beitrag von Christoph Scherrer; Der Beitrag von Scherrer ist hier online abrufbar).
  • Benjamin Opratko; Oliver Prausmüller (Hgg.): Gramsci global: Neogramscianische Perspektiven in der Internationalen Politischen Ökonomie, Argument-Verlag, Berlin/Hamburg 2011.
  • Christoph Scherrer: Globalisierung wider Willen? Die Durchsetzung liberaler Außenwirtschaftspolitik in den USA, Ed. Sigma., Berlin 1999. Hier abrufbar: Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4

Weblinks


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