Eutresis

Eutresis
Griechische Karte des antiken Böotien

Eutrēsis (griechisch Εὔτρησις; e-u-te-re-u in Linearschrift B) war eine bronzezeitliche Stadt in Böotien in Mittelgriechenland. Hier wohnten nach der griechischen Mythologie die Zwillinge Amphion und Zethos, bevor diese Könige des böotischen Theben (Θῆβαι) wurden. Um 1200 v. Chr. aufgegeben beziehungsweise zerstört, ist eine Besiedlung zwischen 1200 und 600 v. Chr. unklar,[1] danach ist Eutrēsis beim altgriechischen Geschichtsschreiber und Geografen Strabon als Dorf im Gebiet der Thespier belegt[2] und erscheint in der Hellenika Oxyrhynchia als eine selbstständige Polis zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr.[3]

Die Existenz von Eutrēsis wurde zunächst von Homer in der Ilias überliefert, wo es gemeinsam mit Eleōn, Peteōn und Hylē im Schiffskatalog des 2. Gesangs unter den böotischen Städten genannt ist, Eutrēsis in Vers 502, die anderen drei Städte in Vers 500.[4] Im 6. Jahrhundert n. Chr. lokalisierte Stephanos von Byzanz das antike Eutrēsis an der Straße von Thespiai nach Plataiai. Der englische Archäologe William Martin Leake vermutet jedoch einen Fehler im Text, bei dem statt Thespiōn (Θεσπιῶν) hier Thisbōn (Θισβῶν) zu lesen sei. Der Ort hätte demnach bei der antiken Stadt Leuktra (Λεύκτρα) gelegen. Nach Stephanos stand in Eutrēsis ein bekannter Tempel mit einem Orakel,[5] den die Einwohner Eutrēsis’ dem Apollon geweiht hatten (Εὐτρειτιδιεῖες Άπόλλωνι Eutreitidieies Apollōni).[6]

Auf der Grundlage der Überlieferungen führte die amerikanische Archäologin Hetty Goldman in den Jahren von 1924 bis 1927 Ausgrabungen nahe Leuktra durch.[7] Der Ort trägt heute nach der antiken Stadt den neugriechischen Namen Lefktra und hieß bis zum 27. Februar 1915 Parapoungia.[8] Bei den Ausgrabungen östlich des Ortes fand man einen Stein mit der Aufschrift [ΕΥ]ΤΡΕΙΣΙΣ.[9] Seit der mittleren Jungsteinzeit besiedelt, sind Fundstücke aus dem Frühhelladikum zahlreich. Stilistische Entsprechungen zwischen dem 24. und 21. Jahrhundert v. Chr. mit der Kastri-Kultur lassen einige Forscher eine einheitliche Kultur des griechischen Festlands mit der der Kykladen, einer sogenannten Lefkandi I-Kultur, annehmen. Später scheint, ungeachtet des mykenischen Späthelladikums ab etwa 1700 v. Chr., in Eutrēsis die mittelhelladische Kultur angedauert zu haben. Der Ort der Ausgrabungsstätte wurde kontinuierlich bis ins 13. Jahrhundert v. Chr. bewohnt, danach wurde die befestigte Stadt aus bisher nicht geklärten Gründen aufgegeben.[10]

Zwischen November 1993 und Februar 1995 entdeckte man bei Ausgrabungen in Theben, dem mykenischen Hauptort Böotiens, den nach Knossos (etwa 2500) und Pylos (etwa 1200) drittgrößten Fund an Linear-B-Täfelchen (über 250 Täfelchen und Fragmente). Sie gehörten zum Palastarchiv der Stadtburg Kadmeia, die um 1200 v. Chr. von einem Brand zerstört wurde.[11] Auf den Täfelchen ist neben Eleōn, Peteōn und Hylē auch Eutrēsis verzeichnet. Die Schreibung Eutrēsis in Linear B befindet sich in Zeile 2 des Täfelchens TH Ft 140 als e-u-te-re-u, einer Lokativform von Eutreus (oder ähnlich). Die Stadt ist dort als größter Lieferant von Öl-Einheiten im Raum Theben genannt.[12]

Literatur

  • Hartmut Beister: Eutresis. In: Siegfried Lauffer (Hrsg.): Griechenland: Lexikon der historischen Stätten von den Anfängen bis zur Gegenwart. C. H. Beck, München 1989, S. 227.
  • Klaus Freitag: Eutresis. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 4, Metzler, Stuttgart 1998, ISBN 3-476-01474-6, Sp. 321.
  • Hetty Goldman: Excavations at Eutresis in Boeotia. Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts 1931 (Online, abgerufen am 29. Mai 2011).
  • Penelope A. Mountjoy: Orchomenos V: Mycenaean Pottery from Orchomenos, Eutresis and other Boeotian Sites. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch – Historische Klasse, Neue Folge, Heft 89, München 1983.
  • Alfred Philippson: Eutresis. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band VI,1, Stuttgart 1907, Sp. 1519.

Einzelnachweise

  1. Wolfgang Kullmann; Antonios Rengakos (Hrsg.): Realität, Imagination und Theorie: Kleine Schriften zu Epos und Tragödie in der Antike. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2002, ISBN 3-515-08184-4, S. 123 (Online, abgerufen am 29. Mai 2011).
  2. Strabon, Christoph Gottlieb Groskurd: Strabons Erdbeschreibung in siebenzehn Büchern. Band 2, Nicolaische Buchhandlung, Berlin und Stettin 1831, S. 169 (Online, abgerufen am 29. Mai 2011).
  3. Edzard Visser: Homers Katalog der Schiffe. B. G. Teubner Verlag, Stuttgart und Leipzig 1997, ISBN 3-519-07442-7, S. 269 (Online, abgerufen am 29. Mai 2011).
  4. Homer: Ilias, Zweiter Gesang – Traum, Versuchung, Schiffskatalog. www.gottwein.de, abgerufen am 30. Mai 2011 (Vers 500).
  5. Dictionary of Greek and Roman Geography (1854). William Smith, LLD, Ed. (www.perseus.tufts.edu), abgerufen am 30. Mai 2011.
  6. Mogens Herman Hansen, Thomas Heine Nielsen: An inventory of archaic and classical poleis. Oxford University Press, Oxford 2004, ISBN 0-19-814099-1, S. 441 (Online, abgerufen am 30. Mai 2011).
  7. John L. Caskey, Elizabeth G. Caskey: The earliest settlements at Eutresis supplementary excavations, 1958. In: Hesperia: The Journal of the American School of Classical Studies at Athens, Bd. 29, Nr. 2. April – Juni 1960, S. 126 (Online, abgerufen am 2. Juni 2011).
  8. Παραπούγγια -- Λεύκτρα. pandektis.ekt.gr, abgerufen am 3. Juni 2011 (griechisch).
  9. Notices of books. In: The Journal of Hellenic Studies, Bd. 52. 1932, S. 306 (Online, abgerufen am 2. Juni 2011).
  10. Barbara Ann Kipfer: Encyclopedic Dictionary of Archaeology. Kluwer Academic / Plenum Publishers, New York 2000, ISBN 0-306-46158-7, S. 181 (Online, abgerufen am 5. Juni 2011).
  11. Joachim Latacz: Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels. 6., aktualisierte und erweiterte Auflage. Koehler & Amelang, Leipzig 2010, ISBN 978-3-7338-0332-2, S. 306/307.
  12. Joachim Latacz: Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels. 6., aktualisierte und erweiterte Auflage. Koehler & Amelang, Leipzig 2010, ISBN 978-3-7338-0332-2, S. 312, 315/316.

Weblinks

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