Sicherungsverwahrung

Sicherungsverwahrung

Die Sicherungsverwahrung ist im deutschen Strafrecht eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung. Sie soll dazu dienen, die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen, und hat somit Präventivfunktion. Gesetzlich geregelt ist sie im allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches (§ 66 bis 66b StGB).

Im Gegensatz zu der normalen Strafhaft knüpft die Sicherungsverwahrung einzig an die Gefährlichkeit des Straftäters für die Allgemeinheit an. Diese Gefährlichkeit muss im Wege einer Prognose festgestellt werden und sich zuvor in einer besonders schweren Straftat geäußert haben.

Ebenso wie die normale Strafhaft wird die Sicherungsverwahrung zumeist in allgemeinen Justizvollzugsanstalten vollzogen. Den Sicherungsverwahrten werden jedoch mehr Hafterleichterungen gewährt, da für sie der Aufenthalt gerade nicht an ihre Schuld anknüpft, sondern der Sicherungsverwahrte sich dort einzig zum Schutze der Allgemeinheit vor ihm befindet. Er erbringt insoweit ein Sonderopfer für die Allgemeinheit, da er durch die Strafhaft seine Strafe vor Antritt der Sicherungsverwahrung bereits vollständig verbüßt hat.

Inhaltsverzeichnis

Voraussetzungen

Die Sicherungsverwahrung kann vom Gericht

  1. bei Erwachsenen
    1. im Urteil angeordnet werden (§ 66 StGB),
    2. im Urteil vorbehalten werden (§ 66a StGB),
    3. nachträglich angeordnet werden (§ 66b StGB und Art. 316e EGStGB i.V.m. § 66b StGB i.d.F.v. 18. April 2007),
  2. bei Heranwachsenden
    1. im Urteil vorbehalten werden (§ 106 Abs. 3 und 4 JGG),
    2. nachträglich angeordnet werden (§ 106 Abs. 5 und 6 JGG),
  3. bei Jugendlichen nachträglich angeordnet werden (§ 7 Abs. 2 bis 4 JGG).

Die Sicherungsverwahrung wird neben einer Freiheitsstrafe angeordnet, die stets zuerst verbüßt wird. Das zuständige Gericht (Strafvollstreckungskammer) prüft vor Vollzugsende, ob die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt werden kann. In diesem Fall tritt Führungsaufsicht ein.

Die im Jahre 2004 eingeführte Möglichkeit einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung ist am 13. Januar 2011 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für menschenrechtswidrig erklärt worden.[1][2] Der Bundestag hatte allerdings schon im Dezember 2010 eine Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung beschlossen, in der auf die Verhängung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Erwachsenen für die Zukunft verzichtet wird.[3] Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist allerdings nicht gänzlich entfallen: Erstens dürfen nach wie vor Personen, die nach § 63 StGB im Maßregelvollzug (Psychiatrisches Krankenhaus) untergebracht wurden, nachträglich in Sicherungsverwahrung verlegt werden, wenn die psychiatrische Maßregel für erledigt erklärt worden ist (§ 66b StGB, früher § 66b Abs. 3 StGB). Zweitens gilt die Neuregelung gemäß Art. 316e EGStGB nicht für Altfälle, d.h. für vor dem 1. Januar 2011 begangene Taten, wegen der Sicherungsverwahrung angeordnet werden soll, ist die alte Rechtslage maßgeblich. Drittens sind die Regelungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden und Jugendlichen unangetastet geblieben. Angesichts der Rechtsprechung wird der Bundesgesetzgeber (oder abermals der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte) zu prüfen haben, inwieweit die nachträgliche Sicherungsverwahrung Bestand haben kann.

Vollzug

Der Vollzug der Sicherungsverwahrung ist im dritten Abschnitt des StVollzG geregelt, soweit dieses in den jeweiligen Ländern gemäß Art. 125a I GG fortgilt. Einige Länder haben jedoch von ihrer Gesetzgebungskompetenz bereits Gebrauch gemacht und eigene Strafvollzugsgesetze erlassen (Bayern mit dem BayStVollzG, das HmbStVollzG für Hamburg, Niedersachsen mit dem NJStVollzG), die mithin an die Stelle des alten StVollzG treten. Dort hat auch der Vollzug der Sicherungsverwahrung eine Regelung erfahren (Art. 159 ff. BayStVollzG, §§ 94 ff. HmbStVollzG, §§ 107 ff. NJStVollzG).

In dem im sonstigen Bundesgebiet fortgeltenden StVollzG regeln die §§ 129–135 StVollzG den besonderen Umgang der Vollzugsbehörden mit dem Verwahrten. Der Vollzug der Sicherungsverwahrung soll getrennt vom Vollzug einer normalen Freiheitsstrafe erfolgen (§ 140 Abs. 1 StVollzG). Um dies zu ermöglichen, können entweder eigenständige Anstalten oder abgetrennte Abteilungen innerhalb einer Justizvollzugsanstalt eingerichtet werden.

Ziel der Unterbringung ist einerseits die sichere Verwahrung zum Schutz der Allgemeinheit (§ 129 S. 1 StVollzG), andererseits die Unterstützung des Verwahrten, damit er sich in das Leben in Freiheit eingliedern kann (§ 129 S. 2 StVollzG). Um den Schäden des langfristigen Freiheitsentzuges entgegenzuwirken, werden einem Sicherungsverwahrten im Verhältnis zu Strafgefangenen bestimmte „Vergünstigungen“ zugebilligt. Er darf eigene Kleidung, Wäsche und eigenes Bettzeug benutzen (§§ 131, 132 StVollzG), bei der Ausgestaltung der Hafträume und Durchführung von Betreuungsmaßnahmen soll auf seine persönlichen Bedürfnisse Rücksicht genommen werden. Um die Entlassung (wenn sie denn geplant ist) vorzubereiten, darf dem Verwahrten ein Sonderurlaub bis zu einem Monat gewährt werden (§ 134 StVollzG). Im Übrigen verbleibt es jedoch bei den allgemeinen Vorschriften über den Vollzug der Freiheitsstrafe (§ 130 StVollzG).

Dauer

Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ist grundsätzlich unbefristet, was nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2004[4] im Einklang mit der Verfassung steht.

Mindestens alle zwei Jahre, beginnend mit dem ersten Tag der Unterbringung, muss geprüft werden, ob weiterhin die Gefahr besteht, dass der Täter außerhalb des Vollzugs rechtswidrige Taten begehen wird. Wird dies verneint, dann wird die weitere Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und es tritt Führungsaufsicht (maximal fünf Jahre) ein. Erfolgt während des Zeitraums der Führungsaufsicht kein Widerruf der Entscheidung, gilt die Unterbringung endgültig als erledigt. Lehnt das Gericht die Aussetzung ab, läuft die Frist erneut an.

Nach zehn Jahren kann die Unterbringung beendet werden, sofern nicht die Gefahr besteht, dass vom Untergebrachten infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begangen werden, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Dann tritt für mindestens zwei Jahre Führungsaufsicht ein. Dies ist als gesetzlicher Regelfall gedacht; ob dies auch in der Praxis so gehandhabt wird, ist mangels statistischer Daten über die Unterbringungsdauer unbekannt.

Der Verwahrte kann auch vom Gericht in ein psychiatrisches Krankenhaus oder in eine Entziehungsanstalt überwiesen werden, wenn dies seine Resozialisierung besser fördert. Eine Rückkehr in die Sicherungsverwahrung kann angeordnet werden, wenn die Überweisung keinen Erfolg erzielt hat oder die Resozialisierung in der Sicherungsverwahrung doch besser gefördert wird.

Geschichte

Historische Ansätze

Die heutige Sicherungsverwahrung wurde als Bestandteil der Maßregeln der Besserung und Sicherung durch das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher vom 24. November 1933 (RGBl. I 995) eingeführt.

Andere Modelle der Sicherungsverwahrung gab es schon deutlich früher: So sprach sich zum Beispiel Ernst Ferdinand Klein, Initiator des Preußischen Landrechts, bereits 1794 dafür aus, dass „Diebe und andere Verbrecher, welche ihrer verdorbenen Neigungen wegen des gemeinen Wesens gefährlich werden könnten, auch nach ausgestandener Strafe, des Verhafts nicht eher entlassen werden, als bis sie ausgewiesen haben, wie sie sich auf eine ehrliche Art zu ernähren im Stande sind“ (Kinzig, Jörg 1996: S. 8). Das verabschiedete Gesetz konnte sich jedoch nicht durchsetzen; die Kriminalitätsrate stieg entgegen der Annahme, durch eine ungewiss lange Haftzeit Wiederholungstäter abzuschrecken. So ist die historische Relevanz eher in der Formulierung zu sehen, welche dem heutigen Wortlaut erstmals sehr ähnelt.

Entwurf nach Carl Stooss

Ein weitaus einflussreicherer Entwurf war der Vorentwurf eines Schweizer Strafgesetzbuch im Jahre 1893, entworfen von Carl Stooss.

Besonders signifikant für diesen Entwurf sind folgende Artikel:

Art. 23: Die Verwahrung von rückfälligen Verbrechern wird auf 10 bis 20 Jahre verfügt (Art. 40). Die Verwahrung findet in einem Gebäude statt, das ausschließlich diesem Zwecke dient…

Art. 40: Begeht ein Verbrecher, der wiederholt Zuchthausstrafe erstanden hat, innerhalb von 5 Jahren nach Vollzug der letzten Zuchthausstrafe ein neues Verbrechen, und ist das Gericht überzeugt, dass ihn die gesetzliche Strafe nicht von weiteren Verbrechen abzuhalten vermag, so überweist es den rechtskräftig Verurteilten der Bundesbehörde, welche über die Verwahrung von rückfälligen Verbrechern entscheidet. Diese Behörde zieht über das Vorleben des Verbrechers, über seine Erziehung, seine Familienverhältnisse, seinen Erwerb, seine körperliche und geistige Gesundheit, sowie über die Verbrechen, die er begangen, und die Strafen, die er erstanden hat, Erkundigungen ein. Erachtet es die Behörde als unzweifelhaft, dass der Verbrecher nach Vollzug der Strafe wieder rückfällig werden würde, und erscheint es geboten, ihn für längere Zeit unschädlich zu machen, so ordnet sie statt der Strafe seine Verwahrung für die Zeit von 10 bis 20 Jahren an. Andernfalls bleibt das Urteil in Kraft. Nach Ablauf von 5 Jahren kann die Behörde die vorläufige Freilassung des Sträflings verfügen, wenn er zum ersten Mal verwahrt wird und anzunehmen ist, dass er nicht mehr rückfällig werden wird. (Stooss, Carl 1893: S. 49)

Die vielen Parallelen zum heutigen § 66 des Strafgesetzbuches lassen zumindest spekulativ eine Verbindung beider Gesetze zu:

So wird in beiden Gesetzen die „Verwahrung“ als eigenständige Institution beschrieben, ihr „Klientel“ sind Wiederholungstäter, die einen vorab festgelegten Zeitraum in Verwahrung bleiben sollen, der jedoch je nach Beurteilung des Häftlings verlängert oder verkürzt werden kann. In beiden Fällen werden sie einer „Gesamtwürdigung“ unterzogen, einem Einschätzen des Risikos, welches der Gefangene für die Gesellschaft darstellt. In den folgenden Jahren wurden ähnliche Vorschläge in Deutschland sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik erarbeitet. Allen gemein ist, dass es nur bei Gesetzesentwürfen blieb.

Nationalsozialistische Gesetzgebung

Erst die Nationalsozialisten setzten mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933 (RGBl. I 995) einen Vorschlag zur Sicherungsverwahrung in die Tat um. Unklar ist, ob sie dieses eigenständig ausarbeiteten oder ob sie es adaptierten.

Auch hier wurde die Verwahrung erst bei Mehrfachtätern verhängt:

§ 20a: Hat jemand, der schon zweimal rechtskräftig verurteilt worden ist, durch eine neue vorsätzliche Tat eine Freiheitsstrafe verwirkt und ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, daß er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so ist, soweit die neue Tat nicht mit schwererer Strafe bedroht ist, auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren und, wenn die neue Tat auch ohne diese Strafschärfung ein Verbrechen wäre, auf Zuchthaus bis zu fünfzehn Jahren zu erkennen. Die Strafschärfung setzt voraus, daß die beiden früheren Verurteilungen wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens ergangen sind und in jeder von ihnen auf Todesstrafe, Zuchthaus oder Gefängnis von mindestens sechs Monaten erkannt worden ist.

Hat jemand mindestens drei vorsätzliche Taten begangen und ergibt die Gesamtwürdigung der Taten, daß er ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist, so kann das Gericht bei jeder abzuurteilenden Einzeltat die Strafe ebenso verschärfen, auch wenn die übrigen im Absatz l genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

§ 42e: Wird jemand nach § 20a als ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert.[5]

Es blieb jedoch nicht bei diesem Rahmen der Bestrafung; eine Gesetzesänderung 1941 gab Wiederholungstäter zur Todesstrafe frei:

Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher (§ 20a des Strafgesetzbuchs) und der Sittlichkeitsverbrecher (§§ 176 bis 178 des Strafgesetzbuchs) verfallen der Todesstrafe, wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordert.[6]

Entwicklung bis heute

Dieses Gesetz fand 1949 mit der Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik sein Ende, § 20a und § 42e blieben jedoch weiterhin Teil des Strafgesetzbuches, während es in der DDR als „faschistisch“ abgelehnt wurde (gleichwohl gab es vergleichbare Institutionen in der DDR). 1970 wurde das Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland grundlegend überarbeitet: Sicherungsverwahrung galt als das schärfste Instrument des deutschen Strafrechts gegenüber Straftätern; folglich sollte sehr genau ermittelt werden, wer verwahrt werden muss und wer es nicht (mehr) braucht. Dazu wurden Täter wie erwähnt einer „Gesamtwürdigung“ unterzogen, in der man nicht nur die Anzahl der Verurteilungen, sondern auch die Länge des Freiheitsentzugs und andere – auch persönliche – Faktoren berücksichtigte. 1975 nannte man § 42e ohne inhaltliche Veränderungen in § 66 um, wie er heute noch - mit kleinen Änderungen - im StGB steht.

Im Jahr 1998 wurde das bisherige Höchstmaß von zehn Jahren bei erstmaliger Anordnung von Sicherungsverwahrung (§ 67d Abs. 1 StGB a.F.) gestrichen. In der Folgezeit wurden die Anforderungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung durch eine Vielzahl von Gesetzesänderungen schrittweise gesenkt.[7] Die öffentliche Stimmung wurde hierbei maßgeblich angeheizt durch ein Interview mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Bild am Sonntag im Jahr 2001, in welchem Schröder ein „Wegschließen – und zwar für immer!“ für Sexualstraftäter forderte.[8] Das Schlagwort vom „Wegschließen – und zwar für immer“ wird seitdem immer wieder in ablehnender wie zustimmender Weise zitiert, wenn die Frage der Sicherungsverwahrung diskutiert wird.[9]

Bis 2002 konnte die Sicherungsverwahrung nur im Strafurteil selbst angeordnet werden. Die Möglichkeit des Gerichts, die Sicherungsverwahrung im Strafurteil vorzubehalten, wurde in diesem Jahr eingeführt. Ziel dieser Änderung war es vor allem, den Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Sexualstraftätern zu verbessern. Die Länder Bayern und Baden-Württemberg hatten gefordert, die Sicherungsverwahrung auch ohne Vorbehalt nachträglich anordnen zu können. Dies sah der Gesetzesentwurf der Rot-Grünen Koalition jedoch nicht vor.

Einige Länder verabschiedeten daraufhin eigene Gesetze, die eine generelle nachträgliche Sicherungsverwahrung ermöglichten. Das Bundesverfassungsgericht erklärte diese in einer Entscheidung vom 10. Februar 2004 für verfassungswidrig, da nach Art. 72 Abs. 1 GG die Länder nur zuständig sind, soweit der Bund noch nicht gesetzgeberisch tätig geworden ist. Da die Bedenken der Verfassungshüter ausschließlich formeller, nicht aber inhaltlicher Natur waren, konnte am 23. Juli 2004 das „Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung[10] in Kraft treten.

Am 22. Dezember 2010 hat der Deutsche Bundestag eine Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung beschlossen,[3] die am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist.

Am 4. Mai 2011 hat das Bundesverfassungsgericht alle Vorschriften zur Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt. Bis Juni 2013 muss der Gesetzgeber eine neue Regelung suchen. Für sogenannte Altfälle gelten Übergangsregelungen.[11][12]

Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied mit Urteil vom 17. Dezember 2009, dass es gegen Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoße, wenn ein Sicherungsverwahrter, der unter Geltung des früheren § 67d I StGB a.F. mit maximal zehn Jahren Sicherungsverwahrung rechnen musste, nachträglich aufgrund einer Gesetzesänderung (§ 67d Abs. 3 StGB) zu Sicherungsverwahrung bestimmt wird[13][14]. Art. 7 EMRK normiert das Rechtsprinzip „Keine Strafe ohne Gesetz“. Entscheidend bei diesem Urteil ist die Auffassung des Gerichtshofs, dass eine Sicherungsverwahrung als eine „Strafe“ anzusehen sei. Er begründete diese damit, dass sie sich in ihrer Vollstreckung nur unmaßgeblich von der Haftstrafe unterscheide. Nach dieser Argumentation ist eine nachträgliche Sicherungsverwahrung ausnahmslos menschenrechtswidrig, weil sie verhängt wird, ohne dass eine neue Straftat vom Inhaftierten begangen wurde. Am 13. Januar 2011 hat der EGMR in einer weiteren Entscheidung einstimmig beschlossen, dass auch die im Jahre 2004 eingeführte nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen Art. 5 § 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) verstoße[15][16].

Bei den deutschen Fachgerichten haben diese Entscheidungen zu einander widersprechenden Entscheidungen geführt. Dabei geht es um die Frage, ob alle betroffenen Verwahrten sofort entlassen werden müssen oder ob die Entlassung im Hinblick auf eine von Gutachtern festgestellte weitere Gefährlichkeit verweigert werden darf. Der Bundestag hat am 22. Dezember 2010 das Therapieunterbringungsgesetz (ThuG) beschlossen[17], welches eine Rechtsgrundlage für die weitere Verwahrung der zu entlassenden „Altfälle“ abgeben soll.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 4. Mai 2011 [12] die gesetzlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt und den Gesetzgeber verpflichtet, bis spätestens 31. Mai 2013 verfassungskonforme Regelungen zu schaffen und die Sicherungsverwahrung neu auszugestalten. Bezüglich der "Altfälle" haben die Vollstreckungsgerichte zu prüfen, ob eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG leidet. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, muss die Freilassung dieser Sicherungsverwahrten spätestens mit Wirkung zum 31. Dezember 2011 angeordnet werden.

Abstandsgebot

Das Abstandsgebot zur Sicherungsverwahrung ist ein durch das Bundesverfassungsgericht in Deutschland, im Rahmen der Sicherungsverwahrungsrechtsprechung, verwendeter Begriff[12].

Inhaltlich geht es um das Erfordernis eines deutlichen Unterschiedes des Freiheitsentzugs im Rahmen der Sicherungsverwahrung im Gegensatz zum Freiheitsentzug im Rahmen des Strafvollzuges. Dies sei, so das Bundesverfassungsgericht, aufgrund der nicht vergleichbaren verfassungsrechtlichen Legitimationsgrundlagen erforderlich. Die Sicherungsverwahrung diene allein dem Zwecke der Vorbeugung von künftigen Straftaten, während die Freiheitsstrafe eine Sanktion darstellt.

Statistik

Laut Statistischem Bundesamt waren zum 31. März 2008 insgesamt 448 Gefangene in deutschen Gefängnissen zur Sicherungsverwahrung untergebracht. Die Tendenz ist seit 1984 wieder steigend. Zum Vergleich: 350 im Jahr 2005 und 306 im Jahr 2003.[18] Den Tiefststand hatte die Zahl der Sicherungsverwahrten im Jahre 1984 mit 182 erreicht.[19] Zur Dauer der Sicherungsverwahrung werden bisher weder vom Statistischen Bundesamt noch von der Kriminologischen Zentralstelle aussagekräftige Daten erhoben. Letztere erfasst seit 2002 alle im jeweiligen Jahr aus der SV Entlassenen und die Dauer von deren Aufenthalt in der Maßregel (zuletzt für das Jahr 2005: Axel Dessecker). Daraus ist zu entnehmen, dass die in die Freiheit entlassenen Sicherungsverwahrten durchschnittlich über 15 Jahre im Gefängnis verbracht haben (wenn man Freiheitsstrafe und SV zusammen nimmt). Über diejenigen, die bisher nicht aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurden, liegen keine Zahlen vor.

Entwicklungen in weiteren Staaten

Die anderen Staaten im deutschen Sprachraum kennen vergleichbare Regelungen:

In Österreich ist eine Unterbringung im Maßnahmenvollzug (§ 23 StGB) möglich.

Die Schweiz kennt verschiedene Arten von Verwahrung, siehe Verwahrung in der Schweiz.

Ähnliche Regelungen gab es seit den 1920er-Jahren (unter dem Einfluss von Franz von Liszt und der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung) in verschiedenen europäischen Staaten. Sie wurden jedoch fast überall nach dem Zweiten Weltkrieg als rechtsstaatswidrig abgeschafft. Neuerdings ist die Sicherungsverwahrung, unter verschiedenen Namen, jedoch wieder auf den Vormarsch: beispielsweise, Forvaring (Dänemark, Norwegen), Terbeschikkingstelling (Niederlande), preventive detention (Neuseeland). 2003 führte man auch in Großbritannien ein „imprisonment for public protection“ (IPP)[20] ein.

Während in Deutschland jeder Straftäter eine Perspektive auf eine Freilassung haben muss, können in manchen Ländern (z.B. den meisten Bundesstaaten der USA) Haftstrafen von über 100 Jahren angeordnet werden; diese erfüllen dann bei gemeingefährlichen Straftätern dieselbe Funktion.

Siehe auch

Literatur

  • Tillmann Bartsch: Sicherungsverwahrung. Recht, Vollzug, aktuelle Probleme, Nomos Verlag, Baden-Baden 2010, ISBN 978-3-8329-5427-7. (Gießener Schriften zum Strafrecht und zur Kriminologie, 36)
  • Stephan Beukelmann: Nachträgliche Sicherungsverwahrung für Altfälle: Bestandsaufnahme, NJW-Spezial 04/2011, 120
  • Davina Bruhn: Die Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2010, ISBN 978-3-8300-5285-2.
  • Axel Dessecker: Die Sicherungsverwahrung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2011 (Heft 08/09), Seite 706–713, online (PDF-Datei, 112 kB).
  • Annika Flaig: Die nachträgliche Sicherungsverwahrung, Lang, Frankfurt am Main [u.a.] 2009, ISBN 978-3-631-57874-2. (Würzburger Schriften zur Kriminalwissenschaft, 30)
  • Jörg Kinzig: Die Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung, NJW 4/2011, 177
  • Michael Pösl: Die Sicherungsverwahrung im Fokus von BVerfG, EGMR und BGH, ZJS 02/2011, 132], online (PDF-Datei, 199 kB).
  • Helmut Pollähne; Irmgard Rode (Hg.): Probleme unbefristeter Freiheitsentziehungen. Lebenslange Freiheitsstrafe, psychiatrische Unterbringung, Sicherungsverwahrung, LIT Verlag, Berlin [u.a.] 2010, ISBN 978-3-643-10228-7. (Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, 32)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Kammerentscheidung Haidn v. Deutschland (englisch, PDF) vom 13. Januar 2011
  2. Straßburger Richter rügen Deutschland in: FAZ vom 13. Januar 2011
  3. a b Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen und dessen ÄnderungenVorlage:§§/Wartung/alt-URL-buzer
  4. BVerfG, Urteil vom 5. Februar 2004, 2 BvR 2029/01, BVerfGE 109, 133.
  5. (Kinzig, Jörg 1996: S.17)
  6. (Kinzig, Jörg 1996: S.20)
  7. Vgl. Stefan Braum: Nachträgliche Sicherungsverwahrung: In dubio pro securitate?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2004, S. 105.
  8. Bild am Sonntag vom 8. Juli 2001.
  9. Z. B. August Greiner: Wegschließen und zwar für immer?, in: Kriminalistik 2001, S. 650f.; Erardo Christoforo Rautenberg: Wegschließen für immer!?, in: Neue Juristische Wochenschrift 2001, S. 2608ff.; Steffen Hudemann: Wegsperren und zwar für immer?, in: Der Tagesspiegel vom 3. Februar 2007.
  10. Bundesgesetzblatt: Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung 2004
  11. Pressemitteilung des BVerfG Nr. 31/2011 vom 4. Mai 2011, Az. 2 BvR 2365/09 und 2 BvR 740/10 (Sicherungsverwahrung I), sowie Az. 2 BvR 2333/08, 2 BvR 571/10, 2 BvR 1152/10 (Sicherungsverwahrung II).
  12. a b c BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011, 2 BvR 2365/09 u. a.
  13. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: "Nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die zulässige Höchstdauer zur Tatzeit hinaus nicht gerechtfertigt", Pressemitteilung Nr. 970, 17. Dezember 2009.
  14. EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009, 19359/04 - M. vs. Germany -.
  15. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: „German courts should not have ordered prisoner’s detention for preventive purposes retrospectively“, Pressemitteilung Nr. 16 vom 13. Januar 2011 zum Urteil in der Sache Haidn vs. Germany (PDF-Datei, englisch, 167 kb).
  16. EGMR, Urteil vom 13. Januar 2011, 6587/04 - Haidn vs. Germany -.
  17. TherapieunterbringungsgesetzVorlage:§§/Wartung/buzer
  18. Statistisches Bundesamt: Strafgefangene nach Geschlecht, Alter und Art des Vollzugs, voraussichtliche Vollzugsdauer 2008
  19. Feest (Hrsg.), Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, Neuwied 2006, S. 639
  20. hmprisonservice.gov.uk: HM Prison Service - Life Sentenced Prisoners (englisch), Zugriff am 11. Mai 2010
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