Richard Wossidlo

Richard Wossidlo

Richard Wossidlo (* 26. Januar 1859 in Friedrichshof bei Tessin (seit 1971 wüst); † 4. Mai 1939 in Waren (Müritz); vollständiger Name: Richard Carl Theodor August Wossidlo) gilt als Nestor der mecklenburgischen Volkskunde, als Mitbegründer der deutschsprachigen Volkskunde und als bedeutsamer Feldforscher der Europäischen Ethnologie.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Ausbildung und Lehrerberuf

Richard Wossidlo wurde als viertes Kind des 1863 verstorbenen Rittergutsbesitzers Alfred (Ferdinand) Wossidlo in Friedrichshof bei Tessin geboren. Auf den Höfen seines Großvaters bei Waren (Müritz) und seines Onkels in Körkwitz bei Ribnitz wurde er schon früh mit der Mundart der arbeitenden Landbevölkerung (der Tagelöhner etc.) und den Traditionen der ausklingenden Vormoderne vertraut.

Nach dem Abitur an der Großen Stadtschule in Rostock (1876), wo ihn Karl Ernst Hermann Krause für das Niederdeutsche gewann, studierte Wossidlo bis 1883 Klassische Philologie an der Universität Rostock, Leipzig und Berlin. Eine bei Richard Foerster begonnene Dissertation auf dem Gebiet der griechischen Sprache blieb unvollendet. 1883 erwarb er die Befähigung für Latein und Griechisch in der Oberstufe. Nach seiner Probanduszeit, dem Probejahr, in Wismar ging Wossidlo 1886 an das Gymnasium in Waren (Müritz), wo er bis 1922 im Schuldienst blieb. 1908 wurde er zum Gymnasialprofessor ernannt. In der Heimatbewegung wurde Wossidlo zur legendären Symbolfigur Mecklenburgs. Im Nationalsozialismus war er bestrebt, seine volkskundlichen Projekte weiterzuführen, stand jedoch rassistischem Ideengut und der NS-Partei fern.

Über Wossidlos Verhältnis zum Nationalsozialismus äußerte sich Arnold Hückstädt im Mai 1989 auf der Gründungsversammlung des Arbeitskreises Fritz Reuter folgendermaßen: Wossidlo fand aber auch geistige Geborgenheit und Schutz bei Reuter, als in brauner Zeit seinem Lebenswerk nazistischer Mißbrauch drohte. Zu gern hätten die Nazis ihn vor ihren „völkischen Karren“ gespannt. Doch Wossidlo wußte – nicht zuletzt durch Rückzug in Stille, durch Hinwendung zu Reuter – der Entwürdigung seiner Person und der Beleidigung seiner Arbeit zu entgehen. Während die Naziführer Mecklenburgs dem Professor Richard Wossidlo anläßlich seines 75. Geburtstages 1934 „nationalsozialistische Ehrungen“ angedeihen lassen wollten, zog er es vor, sich’s zu versagen, an öffentlichen Feiern teilzunehmen. Er fuhr derweil nach Eisenach und legte Blumen auf das Grab Fritz Reuters. Um von den Nazis nicht korrumpiert zu werden, ging Wossidlo in eine Art „innere Emigration“, fand er immer wieder einen Vorwand, sich den nazistischen Zudringlichkeiten zu verweigern.

Volkskundliche Sammlung und Forschung

Noch in seiner Studienzeit exzerpierte Wossidlo niederdeutsche Wörter und Redewendungen aus den Werken Fritz Reuters oder John Brinckmans und begann damit, die gesprochene Mundart zu dokumentieren. Diese Sammelarbeit war bereits volkskundlich, weil sie Sinnbezüge des Wortschatzes, nicht aber Lautung und kaum Grammatisches erfasste. Publiziert wurde sie mit Hilfe des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung in Hamburg. 1890 beauftragte der Verein für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde Wossidlo mit der Sammlung von „Volksüberlieferungen“, die er bis an sein Lebensende neben dem Lehrerberuf und durch Opferung seines Vermögens fortsetzte, seit 1906 auch mit Unterstützung des Heimatbundes Mecklenburg. Hier kooperierte er eng mit dem Archäologen Robert Beltz und dem Geologen Eugen Geinitz. Eine ihm 1919 angetragene Professur für niederdeutsche Sprache und Volkskunde lehnte Wossidlo ab. Statt seiner erhielt Hermann Teuchert den Lehrstuhl, dem Wossidlo sein sprachliches Material für das „Mecklenburgische Wörterbuch“ überließ. 1936 wurde im Schweriner Schloss auf Basis seiner Sachkultursammlung das „Mecklenburgische Bauernmuseum ‚Wossidlo-Sammlung‘“ begründet. Heute befindet sich diese im Freilichtmuseum Schwerin-Mueß.

Kulturwissenschaftliche Bedeutung

Die 1897 edierten „Rätsel“ machten den jungen Privatgelehrten in der Fachwelt berühmt, obwohl Johannes Gillhoff bereits 1892 „Mecklenburgische Volksrätsel“ ediert hatte. Wie Karl Bartsch, der 1867 im Auftrag des Altertumsvereins einen Sammelaufruf über „Sagen, Märchen und Gebräuche“ ergehen ließ, machte auch Wossidlo vom „Gewährsmannprinzip“ Gebrauch. Wossidlos Netzwerk von Sammelhelfern, die lokale Eigentümlichkeiten notierten und an ihn weiterreichten, umfasst über 1.400 Gewährsleute, vielfach Lehrer, Geistliche und Verwaltungsbeamte, darunter auch Archivare wie Ludwig Krause. Manche Angehörige unterer Schichten teilten zwar ebenso ihre Sammelbefunde schriftlich mit, äußerten sich aber in der Regel mündlich „im Feld“. Dieses suchte Wossidlo bei jeder Gelegenheit auf, um mit großem Talent über 5.000 seiner Landsleute vor Ort zum Erzählen zu bringen. Das Gehörte notierte er in der Mundart auf kleinformatige Zettel, die er in einem imposanten System von Zettelkästen nach Sachgruppen, Orten und Motiven ordnete. In der Anfangszeit beschrieb er gelegentlich seine Manschetten, um den Gesprächsfluss nicht zu stören. Rundfunkbeiträge, Theaterspiele und Heimatfestzüge unterstützten die Werbearbeit und hielten das methodenkombinierte Sammelunternehmen in Gang.

Während sich etwa Wilhelm Wisser auf Märchen und Schwänke beschränkte, widmete sich Wossidlo der gesamten Ausdrucksbreite sprachlicher und volkskultureller Überlieferungen: Erzählung- und Liedgut treten neben Bräuche und Zeugnisse des Volksglaubens, Ethnobotanisches und Volkszoologisches neben Flurnamen, Kinderreim und Kinderspiel neben Handwerk und Landwirtschaft. Auch Obscoenae und Sexualität in der Volkskultur werden nicht ausgespart, deren Erforschung sich zu dieser Zeit Samuel Krauss annimmt. Alle Bereiche werden durch Wortschatzwissen und später die Sachkultur unterlegt.

Wossidlo arbeitete bereits nach Prinzipien der modernen Feldforschung: Die Partnerschaft zwischen Forscher und Informant, der längere Feldaufenthalt, die Vertrautheit mit der indigenen Kultur und die Fähigkeit, Sprachnuancen zu erfassen. Er legte seine Forschungspraxis dar, deren Prinzipien für die Volkskunde zum Vorbild wurden und von vielen namhaften Philologen und Volkskundlern anerkannt wurden. Der finnische Volkskundler Kaarle Krohn, der den ersten internationalen folkloristischen Forscherbund gründete, rückte Wossidlo Leistung in die Nähe des dänischen Folkoristen Evald Tang Kristensen oder des estnischen Pfarrers Jakob Hurt.

Ab 1883 bereiste Wossidlo nahezu jeden Ort Mecklenburgs und seine Sammlung wurde die Grundlage für das Mecklenburgische Wörterbuch.

1954 wurde auf Basis des Wossidlo-Nachlasses auf Anregung des Rostocker Studienrates Paul Beckmann und mit Unterstützung von Wolfgang Steinitz eine „Wossidlo-Forschungsstelle“ als Außenstelle des Instituts für Deutsche Volkskunde der Berliner Akademie der Wissenschaften gegründet. Mit der Auflösung der Akademie wurde die Wossidlo-Forschungsstelle in die Philosophische Fakultät der Universität Rostock integriert.

Werke

Etwa zwei Millionen Dokumente im Wossidlo-Archiv des Instituts für Volkskunde, heute in Obhut der Universität Rostock. Das Archiv wird zurzeit digitalisiert und soll bis 2013 onlinge gestellt werden.[1]

Monographien, mehrbändige Werke:

  • Beiträge zum Thier- und Pflanzenbuch. Thiergespräche, Legenden und Redensarten. Rostock, 1885.
  • Mecklenburgische Volksüberlieferungen. 4 Bände. Rostock, 1897-1931.
Bd. 1: Rätsel. (1897)
Bd. 2: Die Tiere im Munde des Volkes. (1899)
Bd. 3: Kinderwartung und Kinderzucht. (1906)
Bd. 4,1: Kinderreime. (1931; mehr nicht erschienen)
  • Ein Winterabend in einem mecklenburgischen Bauernhause. Volksstück. Rostock, 1901. (4. Aufl.: 1937).
  • Aus dem Lande Fritz Reuters. Humor in Sprache und Volkstum Mecklenburgs. Mit einer Einleitung über das Sammeln volkstümlicher Überlieferungen. Leipzig, 1910.
  • Buernhochtiet. Volksstück. Rostock, 1926. (Nachdruck: Rostock, 1991).
  • Mecklenburgische Sagen. Ein Volksbuch. 2 Bände. Rostock, 1939.
  • Reise, Quartier, in Gottesnaam! Das Seemannsleben auf den alten Segelschiffen im Munde alter Fahrensleute. Bd. 1, Rostock 1940, Bd. 2, Rostock 1943
  • [Initiator und Mitherausgeber von] Teuchert, Hermann [Hrsg.]: "Mecklenburgisches Wörterbuch." 7 Bände. 1942-1992. [Nachdruck: 1996]. Bd. 8: Nachtrag und Index. 1998.

Mehr als 600 bekannte Aufsätze und andere Kleinschriften.

Ehrungen

Wossidlo-Linde in Körkwitz

Richard Wossidlo war Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften, so der "Finnischen Literaturgesellschaft". Er erhielt zahlreiche Preise, darunter zweimal den John-Brinckman-Preis der Hansestadt Rostock, die Große Medaille für Kunst und Wissenschaft des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin, die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft der Regierung Mecklenburgs (1934) und die silberne Leibniz-Medaille (1937).

Wossidlo war sowohl Ehrensenator als auch Ehrendoktor der Universität Rostock, sowie Ehrenbürger der Stadt Waren (Müritz).

Mehrere Schulen in Mecklenburg-Vorpommern tragen seinen Namen:

In Ludwigslust, Rostock, Schwerin, Waren (Müritz) und in Güstrow gibt es eine Wossidlostraße. In Lübeck ist der Wossidloweg, in Rostock-Brinckmansdorf der Wossidlopark nach ihm benannt. Auch im Volkskundlerviertel in Berlin-Kladow gibt es einen Wossidloweg.[2]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Revolution in der Archivlandschaft: Wossidlo-Archiv der Universität Rostock wird digitalisiert und online gestellt, in: Informationsdienst Wissenschaft vom 16. Juni 2010, abgerufen am 17. Juni 2010
  2. Wossidloweg. In: Straßennamenlexikon des Luisenstädtischen Bildungsvereins (beim Kaupert)

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