Ohrmuschelfehlbildung

Ohrmuschelfehlbildung
Klassifikation nach ICD-10
Q16 Angeborene Fehlbildungen des Ohres, die eine Beeinträchtigung des Hörvermögens verursachen
Q17 Sonstige angeborene Fehlbildungen des Ohres
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Zu den häufigsten Ohrmuschelfehlbildungen gehören die abstehenden Ohren, die den Ohrmuscheldyplasien I. Grades zugeordnet werden (s. Einteilung).

Als Folge einer embryonalen Fehlentwicklung ist bei ihnen entweder die Anthelix (innere Ohrfalte) mangelhaft ausgebildet oder fehlt ganz (bei Segelohren), oder ist das Cavum conchae (Ohrmuscheltrichter vor dem Gehörgangseingang) ungewöhnlich groß. Nicht selten finden sich auch beide Anomalien als Ursache eines abstehenden Ohres.

Abstehende Ohren gehören – als Teil des Gesichtes – zu den Auffälligkeiten, die unerwünscht häufig Blicke auf sich ziehen und durch Hänseleien, Spott und Hohn die Psyche in einem so erheblichen Ausmaß negativ beeinflussen können, dass hierdurch das Leben in der Familie, Schule, im Beruf und in der sozialen Integration belastet wird. Abstehende Ohren stellen für die Betroffenen oft ein Stigma dar, welches von Menschen, die keine abstehenden Ohren haben, oft nicht nachvollzogen werden kann.[1] [2]

Dysplasie °I (Segelohren)
Dysplasie °III (Mikrotie)

Inhaltsverzeichnis

Epidemiologie/ Ätiologie

Eine höhergradige Mikrotie tritt in der westlichen Bevölkerung in 0,76 bis 2,35 Fällen pro 10.000 Geburten auf. Legt man die aktuelle Geburtenrate zugrunde, kommen in Deutschland etwa 100 bis 150 neue Fälle pro Jahr hinzu.

In der Regel tritt die Fehlbildung isoliert auf. In 20 bis 30 % der Fälle tritt sie kombiniert mit anderen Fehlbildungen wie Gesichtshypoplasie, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, inneren Fehlbildungen, kognitiver Beeinträchtigung oder im Rahmen von genetisch bedingten Syndromen auf. Die häufigsten mit Mikrotie assoziierten Syndrome sind das Goldenhar-Syndrom (Hemifaziale Mikrosomie) und das Franceschetti-Syndrom.

Als Ursachen werden sowohl hämorrhagische Ereignisse in der Frühschwangerschaft, Schwangerschaftsdiabetes als auch genetische Ursachen diskutiert. Weitergehende Untersuchungen hierzu stehen aber noch aus. Familiäre Häufungen werden in Einzelfällen beobachtet, hier liegt meist ein autosomal dominanter Erbgang mit variabler Penetranz zugrunde. Die große Mehrheit tritt jedoch sporadisch auf. Die meisten Autoren sehen in der isolierten Mikrotie eine Minimalvariante der hemifazialen Mikrosomie. Die Genese ist dabei vermutlich multifaktoriell mit einer zugrunde liegenden genetischen Wahrscheinlichkeit, auslösend wirken äußere Faktoren wie z. B. Blutungen.

Einteilung

Bei der Einteilung der Ohrmuschelfehlbildungen werden drei Grade unterschieden.

  • Bei der Dysplasie °1 sind die meisten anatomischen Strukturen der Ohrmuschel vorhanden. Hierzu zählen u. a. Abstehende Ohren - Apostasis otum, Tassenohr °I und Tassenohr °II.
  • Bei der Dysplasie °2 sind nur einige Strukturen der normalen Ohrmuschel vorhanden. Hierzu zählen u. a. Tassenohr °III, und das Miniohr.
  • Bei der Dysplasie °3 sind normale Ohrmuschelstrukturen praktisch nicht vorhanden, es existieren lediglich Rudimente. Hierzu zählen u. a. Mikrotie °III, Anotie und die Dystopie.

Diagnostik

Menschen mit Mikrotie müssen frühzeitig interdisziplinär beraten und behandelt werden. Dabei sollten HNO-Ärzte, Kinder- und Jugendärzte, Phoniater und Pädaudiologen sowie ggf. Humangenetiker und Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgen beteiligt sein. Anamestisch sollte eine familiäre Häufung und schädigende Einflüsse in der frühen Schwangerschaft erfragt werden. Bei familiärer Häufung empfiehlt sich die Vorstellung in der Humangenetik, um die Auftrittswahrscheinlichkeit bei weiteren Kindern abschätzen zu können. Eine Computertomographie zur Beurteilung der Mittelohrstrukturen wird häufig im 10. Lebensjahr, in der Regel während des ersten stationären Aufenthaltes, durchgeführt.

Sprachentwicklung

Nach heutiger Lehrmeinung soll die Lautsprachentwicklung bei einem einseitigen Schallleitungsblock und normalem Gehör auf der gesunden Seite ungestört verlaufen. Deshalb ist die nicht betroffene Seite regelmäßig fachärztlich zu überprüfen und Schallleitungs- oder Schallempfindungsschwerhörigkeiten müssen zügig und konsequent behandelt werden. Kinder mit beidseitigen Fehlbildungen bzw. beidseitigem Schallleitungsblock benötigen rasch nach der Geburt eine akustische Verstärkung. Dazu werden die Kinder zunächst mit einem Stirnband-Knochenleitungshörgerät versorgt, im 4. Lebensjahr können dann knochenverankerte Geräte (BAHA) zum Einsatz kommen. Bei der Implantation der Knochenanker ist darauf zu achten, dass diese nicht zu nahe am Ohrmuschelrudiment eingebracht werden, um eine spätere ästhetische Rekonstruktion nicht durch Narben zu erschweren.

Therapie

  • Ohrmuscheldysplasien °I können durch Bearbeitung vorhandenen Gewebes behandelt werden, zum Beispiel durch Otopexie.
  • Ohrmuscheldysplasien höheren Grades erfordern den Einsatz von Verschiebeplastiken, Transplantaten oder Implantaten wie körpereigenem Knorpel oder Kunststoff. Anzustreben ist eine möglichst natürliche Rekonstruktion, die der Form der Gegenseite entspricht.
  • Der chirurgische Aufbau eines fehlgebildeten Ohres mit körpereigenem Knorpel erfolgt in zwei bis drei Schritten im Abstand von drei Monaten. Körpereigener Rippenknorpel ist das Material, mit dem derzeit weltweit die größten Erfahrungen vorliegen.
    • Während des ersten Schrittes wird der Rudimentknorpel entfernt, die Rudimenthaut präpariert, der Rippenknorpel entnommen und daraus das dreidimensionale Ohrmuschelgerüst individuell gefertigt und implantiert.
    • Während des zweiten Schrittes wird die Ohrmuschel vom Untergrund abgehoben und die Falte hinter dem Ohr gebildet. Dazu wird der Restknorpel aus dem ersten Operationsschritt als Anstandhalter hinter der Ohrmuschel befestigt. Die Deckung des Hautdefektes erfolgt sowohl durch lokale Hautverschiebung als auch mit einem freien Hauttransplantat.
    • Während des dritten Schrittes können erneut Korrekturen der Vorderseite vorgenommen werden. Hierbei steht die Entfernung der Hautüberschüsse aus dem ersten Rekonstruktionsschritt im Vordergrund. Gleichzeitig können einzelne Details der Ohrmuschel weiter herausgearbeitet werden. In einigen Fällen kann dieser Schritt entfallen.
  • Alternativ ist der chirurgische Aufbau eines fehlgebildeten Ohrs mit Implantaten aus Kunststoff möglich. Die individuell formbaren Kunststoff-Implantate werden mit einem Gewebelappen aus dem Schläfenbereich und freien Hauttransplantaten bedeckt. Die Operation kann häufig in einem Schritt durchgeführt werden, eine Entnahme von Rippenknorpel ist nicht notwendig. Die besten Langzeiterfahrungen liegen mit Implantaten aus porösem Polyethylen vor, welche seit den 1980er Jahren zum Einsatz kommen, industriell gefertigt werden und für die chirurgische Verwendung zugelassen sind.[3]

Literatur

  1. H. Weerda: Chirurgie der Ohrmuschel. Thieme, Stuttgart – New York, 2004, ISBN 3-13-130181-3.
  2. D.M.C. Ju: The Psychological Effect of Protruding Ears. Plastic and Reconstructive Surgery, 31, 5, 1963
  3. A. Berghaus: Implantate für die rekonstruktive Chirurgie der Nase und des Ohres. In: Laryngo-Rhino-Otol 2007; 86: 67-76. (Abstract)

Weblinks/Quellen

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