3. Klavierkonzert (Tschaikowski)

3. Klavierkonzert (Tschaikowski)

Inhaltsverzeichnis

Klavierkonzert Nr. 3 Es-Dur op. posth. (1893)

(d. i. Allegro Brillante op. 75 und Andante & Finale op. 79)

Entstehungsgeschichte

Schon im Oktober 1889 dachte Pjotr Iljitsch Tschaikowski daran, eine neue Sinfonie zu schreiben. Seinem Arbeits-Tagebuch zufolge plante er spätestens ab Frühjahr 1891 ein konzertantes Werk in Es-Dur mit einem heimlichen Programm: Unter dem Motto „Warum und wofür?“ sollten drei Sätze die Jugend, die Liebe und die letzte Antwort auf die Frage behandeln. Daraus wurde zunächst eine Sinfonie Es-Dur (1892) mit dem Titel „Leben“. Etliche erhaltene Skizzen dazu stammen schon vom April bis Juni 1891. Am 27. Maijul./ 8. Juni 1892greg. begann Tschaikowski das Particell von Kopfsatz, Andante und Finale, das am 23. Oktoberjul./ 4. November 1892greg. beendet war. Danach folgte die Instrumentation des ersten Satzes; die Partitur bricht jedoch nach 33 Seiten etwa in der Mitte nach 248 Takten ab. Das vorgesehene Scherzo überlebte in Form des „Scherzo fantasie“ op. 72/10, also das zehnte der im Dezember 1891 und Januar 1892 skizzierten 18 Klavierstücke op. 72 (beendet im Sommer 1893). Doch im Dezember 1892 entschloss sich Tschaikowski, die im Entstehen begriffene Sinfonie aufzugeben und zu einem Klavierkonzert umzuarbeiten. Zugleich begann er, Gedanken für eine neue Sinfonie zu sammeln, aus der die spätere 6. Sinfonie h-moll op. 74 „Pathétique“ werden sollte, wobei er offenbar programmatisch auf die Gedanken von 1891 zurückgriff.

Das Klavierkonzert Es-Dur entstand praktisch parallel zur „Pathetique“: Die neue Sinfonie wurde zwischen dem 4. Februarjul./ 16. Februar 1893greg. und 24. Märzjul./ 5. April 1893greg. skizziert (Reihenfolge der Sätze in der Komposition: I, III, IV, II), vom 20. Julijul./ 1. August 1893greg. bis 19. Augustjul./ 31. August 1893greg. instrumentiert. Dazwischen komponierte Tschaikowski das Konzert, das er ebenfalls im Februar in Angriff nahm und dessen vollständiger, dreisätziger Auszug für zwei Klaviere (einschließlich zahlreicher Instrumentationshinweise) bis zum 10. Julijul./ 22. Juli 1893greg. beendet war. Aus der Korrespondenz des Komponisten geht hervor, dass er offenbar schon im Februar 1893 daran dachte, die „Pathetique“ seiner „letzten großen Liebe“, also seinem damals 21 Jahre alten Neffen Wladimir Dawidow zu widmen (Brief an „Bob“ Dawidow vom 11. Februarjul./ 23. Februar 1893greg.). Der Titel „Simphonie Pathetique“ (Original-Schreibweise des MS nicht französisch) erschien bereits im Juli 1893 auf der Titelseite des Manuskripts; den Quellenforschungen der Tschaikowsky-Gesamtausgabe (so die Original-Schreibweise dieser Institution) zufolge stammt der Titel tatsächlich vom Komponisten und nicht von seinem Bruder Modest, wie dieser in seinen Erinnerungen behauptete. Der genannte Brief beschreibt die Sinfonie explizit als „Programm-Sinfonie“, mit der der Komponist, der dies eine Zeit lang sogar als Titel erwog, „ein Rätsel für Jedermann“ schaffen wollte.

Offenbar hat Tschaikowski seine dramaturgischen Ideen vom Februar 1891, ursprünglich gedacht für die verworfene Es-Dur-Sinfonie, auf die „Pathétique“ übertragen, doch wird die Anlage dieses Werks mit seinem tragischen Finale nicht allein dadurch erklärt, da insbesondere die 1891 explizit erwähnte, siegreiche Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ fehlt. Der Musikwissenschaftler Eckhardt van den Hoogen stellte daher 1998 in seinem Booklet zur ersten Gesamt-Einspielung des dritten Klavierkonzerts durch Andrej Hoteev die These auf, Sinfonie und Konzert seien, ähnlich wie die Symphonie Fantastique op. 14 und Lélio ou le retour à la vie op. 14b von Hector Berlioz, als zweiteiliges Doppel-Programm vorgesehen gewesen, wobei das Klavierkonzert der Sinfonie folgen und die noch ausstehende, bejahende „Antwort“ und „Rückkehr ins Leben“ liefern sollte. Gleich nach Beendigung der Sinfonie arbeitete Tschaikowski die Partitur des ersten Satzes des Klavierkonzerts aus, die am 4. Oktoberjul./ 16. Oktober 1893greg. beendet wurde. Zur Instrumentierung des zweiten und dritten Satzes kam er jedoch nicht mehr. Bei der Uraufführung der „Pathetique“ am 16. Oktoberjul./ 28. Oktober 1893greg. erklang im zweiten Teil unter anderem das Klavierkonzert Nr. 1 b-moll. Am 25. Oktoberjul./ 6. November 1893greg. starb Tschaikowski. Er konnte bezüglich des Klavierkonzertes Es-Dur keine Verfügungen mehr treffen.

Überlieferung und Rezeption

Die Umstände der Überlieferung des dritten Klavierkonzertes verhinderten bis heute, dass das Werk in der vom Komponisten beabsichtigten Gestalt bekannt und akzeptiert wird. Nach Tschaikowskis unerwartetem Tod infolge einer Cholera-Infektion mit nachfolgender Urämie stellte sich den Nachkommen die Frage, wie mit dem unfertig instrumentiert daliegenden Klavierkonzert zu verfahren sei. Sergei Tanejew hatte das Werk schon im September 1893 aus dem Klavier-Manuskript kennengelernt. Außerdem spielte er am 18. Septemberjul./ 30. September 1893greg. mit Lew Konjus ein eigenes vierhändiges Arrangement der „Pathetique“, das im November 1893 auch bei Tschaikowskis Verleger Jurgenson erschien. Schon hierbei hatte Tanejew zahlreiche Änderungen vorgenommen, insbesondere hinsichtlich Tempi und Dynamik. Nach Tschaikowskis Tod fungierte er für dessen Erben, seinen Bruder Modest Tschaikowski, als Berater in Fragen des musikalischen Nachlasses. Tanejew war der Meinung, das Konzert als Ganzes sei viel zu lang, der zweite und dritte Satz völlig misslungen. Eigenmächtig entschied er, den von Tschaikowski selbst noch instrumentierten Kopfsatz des Konzerts, das „Allegro Brillante“, als selbständigen Konzertsatz bei Jurgenson zu veröffentlichen, wobei er wiederum zahlreiche Änderungen anbrachte und eigenwillige Metronom-Angaben ergänzte. So erschien der Satz im Dezember 1894 irreführend als „Klavierkonzert Nr. 3 Es-Dur“ op. 75 bei Jurgenson. Jeder Hinweis auf den immerhin fertig komponierten und im originalen Klavierauszug existenten zweiten und dritten Satz fehlte. Modest stellte ihn daraufhin zur Rede. Schließlich sah sich Tanejew genötigt, eine Veröffentlichung auch des Andante und Finale in die Wege zu leiten. Allerdings zettelte er eine bis heute wirksame Intrige an, um seine Sicht des Werkes (nämlich die Alleingültigkeit des Kopfsatzes) zu wahren. Am 27. Apriljul./ 9. Mai 1896greg. ließ er sich von dem Verleger Belajew brieflich fragen: „Was machen wir mit dem zweiten und dritten Satz von Tschaikowskis Klavierkonzert, wo doch der erste Satz schon bei Jurgenson verlegt ist?“ So kam es, dass er schließlich im Auftrag von Belajew Andante und Finale instrumentierte, jedoch unter der irreführenden Opus-Zahl 79 separat veröffentlichte, wo die Partitur schließlich 1897 erschien.

Der Etikettenschwindel währte 100 Jahre – bis zur Wieder-Entdeckung und Erst-Einspielung des gesamten dritten Klavierkonzertes Es-Dur op. posth. durch Andrej Hoteev im Jahr 1997. Doch bis heute ist in den meisten gängigen Lexika dieser Zusammenhang nicht dargestellt und wird in der Fachwelt allgemein verkannt. Die erhältlichen Partitur-Ausgaben von op. 75 und op. 79 weisen nach wie vor nicht detailliert auf diese Zusammenhänge hin. In einer kurzen Note der Partitur zu op. 79 heißt es zwar richtig, doch missverständlich: „Tschaikowskys Andante und Finale besteht aus zwei Sätzen einer geplanten Sinfonie (1892), von ihm selbst für Klavier und Orchester umgearbeitet. Das Manuskript aus dem Nachlass Tschaikowskys wurde von Sergej Tanejew instrumentiert.“ (Schreibweise des Namens zitiert nach dem Vorwort) Zur Verschleierung dieser Umstände trug insbesondere auch der russische Musikwissenschaftler und Komponist Semjon Bogatyrjew bei, der es zwischen 1950 und 1955 unternahm, die aufgegebene Es-Dur-Sinfonie anhand der von ihm im Tschaikowski-Museum Klin entdeckten Entwürfe sowie den veröffentlichten op. 72, 75 und 79 zu vervollständigen und zu instrumentieren. Dieses Werk wurde als Sinfonie „Nr. 7“ Es-Dur op. posth. veröffentlicht und insbesondere durch eine Schallplatten-Einspielung des Philadelphia Orchestra unter Eugene Ormandy aus dem Jahr 1962 bekannt. Bis heute wird es in dieser Form gelegentlich aufgeführt und eingespielt. Bogatyrjew musste den Zusammenhang von op. 75 und 79 bemerkt haben, doch die Rekonstruktion einer Tschaikowski-Sinfonie, selbst wenn der Komponist sie verworfen hatte, schien ohne Zweifel wertvoller und lukrativer als eine erste Gesamt-Ausgabe des dreisätzigen Es-Dur-Konzerts. Vergleicht man allerdings diese heute im Musikverlag Sikorski immer noch erhältliche Partitur mit der Instrumentierung von Andante und Finale durch Tanejew, ist festzuhalten, dass sich Tanejew der Orchestrierung ausgesprochen lustlos gewidmet haben musste: In der Instrumentierung von Bogatyrjew sind beide Sätze weitaus wirkungsvoller. Man vergleiche nur einmal den bei Tanejew grell herausstechenden Majestoso-Schluss des Finales, in der die Melodie nur von zwei Trompeten gespielt und mit viel Schlagzeug begleitet wird, mit der klangvolleren Version von Bogatyrjew (Melodie in Oktaven in Trompete und Posaune). Eine Neu-Veröffentlichung des gesamten Klavierkonzerts in der neuen Tschaikowski-Urtext-Ausgabe wäre ebenso zu wünschen wie eine neue Instrumentierung von Andante und Finale nach Tschaikowskis Original-Klavierauszug.

Haupt-Quellen

1.) Handschrift der am 10. Juli 1893 beendeten drei Sätze im Auszug für zwei Klaviere (1. = Solopart, 2. = Orchesterpart; 270 Seiten), heute im Čajkovskij-Archiv, Klin.

2.) Handschrift der Partitur des 1. Satzes beendet am 4. Oktober 1893, heute im Glinka-Museum Moskau.

Erst-Veröffentlichungen

1. Satz: Partitur, veröffentlicht als „Klavierkonzert Nr. 3 Es-Dur“ op. 75 bei Jurgenson, Dezember 1894

2. und 3. Satz: Klavierauszug von Tschaikowski, veröffentlicht bei Belajew, 1896

2. und 3. Satz: Instrumentation von Sergej Tanejew, veröffentlicht als „Andante und Finale“ op. 79 bei Belajew, 1897

Studienpartituren

„Allegro brillante op. 75 from Piano Concerto No. 3“, Belwin & Mills/Kalmus Miniature Scores Nr. 593 (Nachdruck des Erstdrucks)

Andante und Finale op. 79, M. P. Belajew, Frankfurt, Bel. Nr. 386

Sinfonie Nr. 7 Es-Dur, vervollständigt von Semjon Bogatyrjew, Musikverlage Hans Sikorski, Studienpartitur Nr. H. S. 2328

Diskographie

  • Klavierkonzert Es-Dur op. posth., vervollst. Tanejew
  • Sinfonie „Nr. 7“ Es-Dur, nach den Entwürfen ausgearbeitet von Semjon Bogatyrjew. The London Philharmonic, Neeme Järvi, CD Chandos CHAN 9130

Siehe auch

Weblinks


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