Holunderblüte

Holunderblüte

Holunderblüte ist eine Novelle von Wilhelm Raabe und fällt in den späten literarischen Realismus. Sie handelt von einem Arzt, einem Herzspezialisten namens Hermann, dessen Patientin gestorben ist, und der durch diesen Tod an die Begegnung in seiner Jugendzeit erinnert wird. Vor vierzig Jahren in Prag begegnete er – damals noch als Student – dem Judenmädchen Jemima.

Diese Begegnung erzählt er im Folgenden, nachdem er durch den Holunderblütenkranz, den seine verstorbene Patientin hinterlassen hat, an den jüdischen Friedhof in Prag, den Beth-Chaim („Haus des Lebens“) erinnert wird; denn dort wuchs auch Holunder an dem Ort, wo er auf Jemima trifft, welche ihn in ihre Religion einführt. Anfangs ist der Friedhof dem Studenten unheimlich, es scheint ihm zu spuken, aber je länger er mit Jemima dort herumspaziert, desto vertrauter wird ihm der Platz. Plötzlich bleibt sie an einem Grab stehen und sagt: „Das bin ich“, woraufhin sie die Legende der verstorbenen Tänzerin Mahalath erzählt. Jemima hat wie sie ein krankes Herz und das Mädchen prophezeit, dass sie auch daran sterben wird. Der junge Medizinstudent will das nicht wahrhaben, verzweifelt und wird schließlich auch krank. Kurze Zeit später reist er aus Prag ab nach Berlin und lässt Jemima zurück. Schuldig kehrt er ein Jahr darauf in ein nun verändertes Prag zurück und erfährt vom Tod seiner Freundin.

Die Erzählung des Arztes vierzig Jahre später ähnelt, vor diesem Hintergrund, einer Beichte. Jahrzehntelang glaubte er, er habe das Mädchen getötet. Medizinisch konnte er ihr tatsächlich damals nicht helfen – wohl aber menschlich. Dieses Versagen gesteht er sich ein.

Entstehungsgeschichte

Wilhelm Raabes Novelle „Holunderblüte“, deren ursprünglicher Titel „Ein Ballkranz“ lautete, entstand zwischen November 1862 und Januar 1863. Sie stellt demnach ein Frühwerk Raabes dar und fällt zeitlich in seine Stuttgarter Jahre, in denen u. a. Werke wie „Der Hungerpastor“ (1864), „Abu Tefan oder die Heimkehr vom Mondgebirge“ (1867) oder „Der Schlüdderump“ (1869) entstanden sind. Für die „Holunderblüte“ unterbrach Raabe die Arbeit am „Hungerpastor“ – seinem erfolgreichsten Roman. Als die Novelle in der Stuttgarter Zeitschrift „Über Land und Meer“ erschien, blieb sie jedoch fast unbeachtet.

Eindeutigen Bezug nimmt Raabe in seiner „Erinnerung aus dem ‚Hause des Lebens’“ – so der Untertitel – auf seinen Besuch in Prag vom Mai 1859. Prag besuchte er im Verlauf einer Bildungsreise, deren andere Stationen Städte wie Wien, Dresden und Teile Süddeutschlands waren. In Prag sah der damals 28-jährige Autor u. a. den jüdischen Friedhof, der ihn zur „Holunderblüte“ anregte.

Zeitgeschichtliche Bezüge im Text

Im Text finden sich zwei zeitgeschichtliche Bezüge, die erläutert werden wollen. Zum einen ist dies das Sterbedatum Mahalaths (1780) und zum anderen das Jahr der Handlung (1819).

Im gleichen Jahr wie Mahalath stirbt auch die Kaiserin Maria Theresia. Dies bedeutet den Beginn der Alleinherrschaft ihres Sohnes und bisherigen Mitregenten Joseph II.. Er kann nun ein Reformprogramm durchsetzen, das u. a. zur Emanzipation der Juden beiträgt. Der Status der kleinen jüdischen Bevölkerungsgruppe wandelt sich nun: Aus einer geduldeten und rechtlich beschränkten Minderheitengruppe werden gleichberechtigte Bürger. Die Novelle spielt 1819 – in diesem Jahr erreicht die antisemitische Hetze einen Höhepunkt in Deutschland. Das Pamphlet von Hartwig Hundt-Radowsky ist bezeichnend: Es enthält den Vorschlag, alle jüdischen Männer zu kastrieren und die jüdischen Frauen in Bordelle zu bringen. Raabe beobachtete die nationalistischen-rassistischen Strömungen kritisch. Die Tatsache, dass er die Handlung seiner Novelle gerade in dieses Jahr 1819 verlegt, ist gezielt so gewählt. Raabe nimmt mit dieser Novelle Stellung zum Antisemitismus seiner Zeit und verurteilt diesen, indem er seine jüdische Protagonistin positiv darstellt und das Versagen seiner eigenen christlichen Kulturgemeinde anprangert.

Aufbau der Novelle

Die Erzählung ordnet sich in drei Kreisen, wobei sich jeder verjüngt und den folgenden aus sich entlässt. Die konzentrische Bewegung aller Erzählkreise entspricht dabei der zeitlichen Tiefenschichtung: Die einzelnen Handlungen sind jeweils ca. 40 Jahre voneinander getrennt (Mahalath starb 1788; Jemima führt Hermann 1819 auf dem jüdischen Friedhof umher, und der Arzt erinnert sich 40 Jahr später an seine Begegnung in Prag). Dabei sind alle durch den Erzähler miteinander verbunden.

Den Beginn stellt die Selbstreflexion des Erzählers. Sie erscheint als statische Ausgangssituation und ist im Berichtston abgefasst, also nüchtern und sachlich. Damit wäre die Rahmenhandlung skizziert, die durch das Figurenpaar Arzt/Patientin bestimmt ist. Die Rahmenhandlung übernimmt novellentypisch die Funktion der Einstimmung, sie schlägt Grundmotive an und ist voller symbolischer Vorausdeutungen. Die Binnenhandlung dominieren der Medizinstudent Hermann und das Judenmädchen Jemima. Sie ist die Hauptgeschichte der Novelle. Interessant an dieser Figurenkonstellation erscheinen zunächst ihre gleichen Voraussetzungen, denn beide haben ähnliche Probleme: Hermann fühlte sich in seiner Kindheit gefangen durch einen verhassten Vormund. Bei Jemima ruft das Prager Judenghetto ganz ähnliche Gefühle hervor. Beide streben nach Licht und Freiheit, die sie in ihrer herkömmlichen Umgebung nicht finden können. Deshalb bricht Hermann in ein neues Studentenleben aus: Dies ist eine Flucht aus dem Zwang, der aber nicht befreiend ist.

Den Kern der Erzählung bildet Jemimas Erzählung über die Tänzerin Mahalath, die auf dem „Beth-chaim“ – dem jüdischen Friedhof in Prag – begraben liegt. Jemima leitet die Kerngeschichte durch den Ausruf „Das bin ich“ ein, dabei zeigt sie auf das Grab. Die tragische Geschichte über eine Jüdin folgt, die sich unglücklich in einen jungen Adligen verliebt und an einem kranken Herzen stirbt. Ein ebenso krankes Herz besitzt Jemima selbst, und sie weiß, dass sie – wie zuvor Mahalath – daran sterben wird. Hier identifiziert sich das junge Mädchen mit der Tänzerin und deutet an, das gleiche Schicksal zu haben. Damit ist das Grundproblem der Novelle dargelegt: In allen drei Figurenpaaren geht es um ein krankes Herz und um eine unstandesgemäße oder gesellschaftlich nicht legitimierbare Beziehung. Es geht dabei immer so aus, dass die Frauen sterben und die Männer diesen Tod nicht verhindern konnten oder an dieser Bürde scheiterten.


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