Hermetische Lyrik

Hermetische Lyrik

Hermetische Lyrik werden Gedichte genannt, deren semantische Ebene sich einem unmittelbaren Verständnis entzieht. Dieser Begriff leitet sich von Hermes Trismegistos (griechisch Ἑρμῆς Τρισμέγιστος, „dreifach größter Hermes“), dem sagenhaften Autor der hermetischen Schriften und Urvater der Alchemie, ab.

Im hermetischen Gedicht löst sich der Autor von herkömmlichen Sprachstrukturen. Er chiffriert die Sprache und formt sie zugleich nach Prinzipien der Lyrik. Der zentrale Begriff der hermetischen Lyrik ist deshalb die Chiffre, die zusätzliche Bedeutungsebenen einführt. Deren „neue“, meist undurchsichtige Semantik, die durch Modifizierungen, Verschiebungen oder neue Fügungen des Autors vom Alltagsgebrauch der Wörter abweicht, ist für den Leser nicht auf den ersten Blick ersichtlich und bleibt manchmal sogar ganz verschlossen, weshalb die hermetische Lyrik auch oft der selbstreflexiven Lyrik zugerechnet wird. Auf jeden Fall fordert die Lektüre hermetischer Lyrik nicht nur hinsichtlich der formalen Eigenschaften des Textes, sondern eben bereits auf der semantischen Ebene eine besondere Anstrengung des Lesers, eine bewusste „Dechiffrierungsleistung“ steht vor dem Verstehen des Gedichtes. Ein berühmtes Beispiel für hermetische Lyrik ist Paul Celans Todesfuge, die mit den Worten „Schwarze Milch der Frühe“ beginnt.

Diese Form der Lyrik entstand in der Zeit nach 1945 und hat ihren Ursprung in der Nachfolge des französischen Symbolismus und der allgemeinen Sprachskepsis der Moderne sowie der Erfahrung des Nationalsozialismus. Die herkömmlichen Gedichtformen (als „schöne“ Gedichte) erschienen den Autoren als unmöglich (vgl. Adornos Verdikt: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“), da sie die Erfahrung des Nationalsozialismus und insbesondere des Holocaust nicht angemessen verarbeiten konnten. Die hermetischen Dichter kritisierten mit ihrem bewusst distanzierten Gebrauch der Sprache auch die Sprache des Nationalsozialismus und deren Kontinuität in der Nachkriegszeit.

Bedeutende Autoren:

  • Rose Ausländer (1901-1988 ): „Blinder Sommer“ (1965)
  • Ingeborg Bachmann (1926-1973): „Die gestundete Zeit“ (1953), „Anrufung des großen Bären“ (1956)
  • Gottfried Benn (1896-1956): „Statische Gedichte“ (1948)
  • Paul Celan (1920-1970): „Mohn und Gedächtnis“ (1952, darin die Todesfuge), „Die Niemandsrose“ (1963), „Fadensonnen“ (1968)
  • Ernst Meister (1911-1979): „Zahlen und Figuren“ (1958), „Zeichen um Zeichen“ (1968), „Sage vom Ganzen den Satz“ (1972) und weitere Werke
  • Nelly Sachs (1891-1970): „In den Wohnungen des Todes“ (1947), „Sternenverdunkelung“ (1949)

Siehe auch


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Hermetische Dichtung — Hermetische Lyrik werden Gedichte genannt, deren semantische Ebene sich einem unmittelbaren Verständnis entzieht. Dieser Begriff leitet sich von dem englischen Wort „hermetic“ ab, das luftdicht oder fest verschlossen bedeutet. Im hermetischen… …   Deutsch Wikipedia

  • Experimentelle Lyrik — ist ebenso wie experimentelle Literatur zunächst ein Sammelbegriff, der den Bruch mit überbrachten Inhalten und Formen bezeichnet. Der Begriff ist deshalb nicht unumstritten, weil so gesehen literarische bzw. lyrische Werke, die heute als… …   Deutsch Wikipedia

  • Obskure Lyrik — Der Begriff der Nebeldichtung (朦朧詩 / 朦胧诗, Ménglóng Shī, engl. Misty Poets), oft übersetzt als Menglong Lyrik, Obskure Lyrik oder hermetische Dichtung, kam in den 80er Jahren aufkam und prägte die Dichtkunst Chinas zwischen 1978 bis etwa 1985.… …   Deutsch Wikipedia

  • französische Literatur — französische Literatur,   die Literatur Frankreichs und die französisch sprachige Literatur Belgiens. Nach der Gliederung der französischen Sprachgeschichte unterscheidet man zwischen altfranzösischen (9. 14. Jahrhundert), mittelfranzösischen (14 …   Universal-Lexikon

  • Hermetismus — Hermetịsmus   der, , italienisch Ermetịsmo, Stilrichtung der Lyrik des 20. Jahrhunderts, besonders der 30er Jahre, die in der Tradition des französischen Symbolismus steht; zu den bekanntesten Vertretern zählen die Italiener G. Ungaretti, E.… …   Universal-Lexikon

  • Hermetismus (Literatur) — Als Hermetismus (ital. Ermetismo) wird eine Stilrichtung in der Literatur, insbesondere der Lyrik des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Die hermetische Dichtung steht in der Tradition des französischen Symbolismus. Sie ist gekennzeichnet durch die… …   Deutsch Wikipedia

  • Schöner Lesen — „Die Box“ mit den „Schöner Lesen“ Heften 1–100 Schöner Lesen ist eine Reihe von 16 bis 24 Seiten starken Leseheften, die seit 1996 im Berliner Verlag SuKuLTuR erscheint.[1] Zum Programm gehören vorwiegend Texte von Autoren der deutschsprachigen… …   Deutsch Wikipedia

  • Chiffre (Literatur) — Eine Chiffre (frz. für „Ziffer, Kennwort, Geheimzeichen“) ist eine besondere Stilfigur in der Literatur. Als Chiffren werden Wörter bezeichnet, die als verrätselte Symbole in einem Text in einem Zusammenhang mit meist komplexen Bedeutungen… …   Deutsch Wikipedia

  • Tellkamp — Uwe Tellkamp (* 28. Oktober 1968 in Dresden) ist ein deutscher Arzt und Schriftsteller. Uwe Tellkamp Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 …   Deutsch Wikipedia

  • Lezama Lima — Lezama Lịma   [le θama ], José, kubanischer Schriftsteller, * Militärstützpunkt Columbia (bei Havanna) 19. 12. 1910, ✝ Havanna 9. 8. 1976; gab bedeutende Literaturzeitschriften (u. a. »Orígenes«, 1944 56) heraus; wurde 1962 Vizepräsident des… …   Universal-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”