Verleugnung (Psychoanalyse)

Verleugnung (Psychoanalyse)

Als Verleugnung wird in der Psychoanalyse ein Abwehrmechanismus bezeichnet, der die Spaltung oder auch Spaltungsabwehr, also die Reaktivierung eines frühkindlichen psychischen Zustands, unterstützt. Das Zusammenspiel dieser beiden primitiven Abwehrmechanismen bewirkt, dass negative Aspekte des Selbst oder der Umwelt nicht mit den entsprechenden positiven Aspekten integriert werden. Neben der Verleugnung zählen zu dieser Gruppe von zumeist unbewusst wirkenden Bewältigungs- und Kompensationsmechanismen auch die Entwertung und die Idealisierung, die projektive Identifikation, die Introjektion und die unreife Projektion.

Mittels Verleugnung lässt sich die Wahrnehmung realer Sinneseindrücke und deren Bedeutung für das Individuum ignorieren. Bedrohliche Stücke äußerer Wirklichkeit können auf diese Weise als nicht existent anerkannt (oder durch wunscherfüllende Phantasien ersetzt) werden. Bei der Verleugnung handelt sich also um das innerpsychische Pendant zum Abwenden des Blickes von einer Gefahrenquelle. Dieser Mechanismus ermöglicht es dem Individuum, bewusste oder vorbewusste bedrohliche Inhalte notfallmäßig dem Bewusstsein zu entziehen. Die Abwehr der Verleugnung ist also eine spontan einsetzbare Schutzreaktion, mit der die Person einer unangenehmen Wahrheit die Aufmerksamkeit, ja sogar den Realitätsstatus, entziehen kann. Den Prozess einer dauerhaften Verbringung aversiver psychischer Inhalte ins Unbewusste kann die Verleugnung jedoch nicht leisten. Hierzu steht dem Ich der Abwehrmechanismus der Verdrängung zur Verfügung, der unlustbesetzte Vorstellungen nachhaltig ins Unbewusste verlagern kann.

Ein weiterer Unterschied zwischen diesen beiden Abwehrmechanismen besteht darin, dass sich die Verdrängung als ein Bewältigungsprozess gegen spezifische Inhalte richtet (zum Beispiel nicht zulässige aggressive oder libidinöse Triebregungen), während die Verleugnung als eine spontane Schutzreaktion breitere Realitätsausschnitte ausblendet. Dadurch stört die Verleugnung mehr als die Verdrängung logische Denkprozesse, emotionales Empfinden, Empathie und die Realitätsprüfung. In Folge dessen kann zudem die Lernfähigkeit eines Individuums in Bereichen eingeschränkt sein, die immer wieder der Verleugnung unterliegen, weil an diese ausgeblendeten Inhalte keine Erinnerungen aufgebaut werden können.

Noch hermetischer als durch Verleugnung und Verdrängung lassen sich unlustbesetzte Anforderungen durch Vermeidung vom Bewusstsein fernhalten. Diese drei Abwehrmechanismen bilden also ein Kontinuum in bezug auf ihre Effektivität, wobei die Verleugnung als die instabilste und am wenigsten spezifische Form der Unbewussthaltung aversiver Inhalte gewertet werden kann.

Genese

Wie die anderen primitiven Abwehrmechanismen gehört auch die Verleugnung originär zum Repertoire der frühkindlichen Abwehr. Das kindliche Ich hat auch bei bereits intakter Realitätsprüfung in Belastungssituationen die Möglichkeit, unlustvolle oder bedrohliche Aspekte äußerer Realität so zu behandeln, als existierten diese nicht. Auf diese Weise kann sich die noch instabile Psyche des Kindes vor allzu traumatischen Eindrücken zumindest vorübergehend schützen. Voraussetzung für diesen wichtigen Mechanismus ist die Fähigkeit des unreifen Individuums, die gerade im Entstehen begriffenen abstrakten psychischen Strukturen (Gefühle oder begriffliche Vorstellungen) in einer regressiven Bewegung auf konkretistische Objektrepräsentationen, wie sie in einem früheren Entwicklungsstadium vorherrschten, zu reduzieren. Diese Regression kann sinnvoll sein, weil in diesem früheren Stadium die äußeren und inneren Objekte noch in gleicher Weise behandelt wurden, obwohl hier bereits zwischen Selbst und Objekten unterschieden werden konnte. Vereinfacht ausgedrückt hatten in dieser Phase Gefühle und Vorstellungen eine konkrete Objektqualität. Wenn das Kind also mit einer Bedrohung (zum Beispiel einer misshandelnden Mutter) konfrontiert ist, kann es in die frühere Entwicklungsphase regredieren und das dadurch desymbolisierte bedrohliche Objekt "Mutter" innerpsychisch ignorieren. Dies kann zeitweise Schaden von der Psyche des Kindes abwenden, auch wenn der Preis dafür das Ausblenden eines Stückes Realität ist.

Bei einer pathologischen Entwicklung des Selbst in dieser frühen Entwicklungsphase, zum Beispiel durch andauernde traumatische Einflüsse, bleibt auch im Erwachsenenalter unter spezifischen Belastungen die Abwehr der Verleugnung zur Aufrechterhaltung einer strikten Spaltung der Objektwelt und des Selbstbildes in positive und negative Bereiche aufrechterhalten. Im Zuge dessen kann bei solchen Individuen eine auffallend häufige regressive Desymbolisierung psychischer Inhalte beobachtet werden, vermutlich, damit stets ausreichend konkretistisches Material der Verleugnung zur Verfügung steht. Ein Fortbestehen von Spaltung und Verleugnung als bevorzugte Abwehrmechanismen bewirkt schließlich, dass Widersprüchlichkeit als solche überwiegend nicht ertragen werden kann. Dies ist besonders dann der Fall, wenn der reifere Abwehrmechanismus der Verdrängung, welcher nicht Ambivalenz als solche, sondern spezifische Konflikte dem Bewusstsein fernhält, nur defizitär ausgebildet ist.

Verleugnung im Alltag

Auch ein als nicht pathologisch zu wertender Einsatz von Verleugnungsabwehr lässt sich beim Erwachsenen beobachten, beispielsweise in Form von der Überzeugung, dass einem selbst keine schweren Unfälle oder Gewaltverbrechen zustoßen werden („Mir passiert so etwas nicht“). Außerdem weisen Tagträumereien sowie die Tätigkeit des Spiels Ähnlichkeiten mit der Funktion der Verleugnung auf. Bei all diesen Beispielen handelt es sich wohlgemerkt nicht um Phänomene von Verdrängung, weil die jeweils vom Bewusstsein ausgeschlossenen Elemente, anders als bei der Verdrängung, prinzipiell und jederzeit bewusstseinsfähig sind. Systematische Erinnerungslücken, häufige Regression auf konkretistische Objektvorstellungen sowie eine ausgeprägte Wechselhaftigkeit der Affekte sind dagegen ein Hinweis auf einen fixierten Einsatz von Verleugnungsabwehr.

Literatur

  • Stavros Mentzos: Neurotische Konfliktverarbeitung. 20. Aufl. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-596-42239-5.
  • Christa Rohde-Dachser: Das Borderline-Syndrom. 4. Aufl. Verlag Hans Huber, Bern 1989, ISBN 3-456-81818-1.
  • Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1967.
  • Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen. 19. Aufl. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-596-42001-6.
  • Edith Jacobson: Depression. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-518-07464-4.
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