Ständische Libertät

Ständische Libertät

Das Schlagwort der ständischen Libertät (von „Stand“ und lat. libertas, Freiheit) diente als Kampfbegriff, vor allem innerhalb der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reichs der Frühen Neuzeit. Andere bekannte Formen bzw. Quellenbegriffe waren „Teutsche Libertät“, „Teutsche Freiheit“ oder (auch in Übersetzung) „deutsche Freiheit“. Wie das Adjektiv „ständisch“ anzeigt, ging es dabei um eine bestimmte Form von politischer Freiheit und Autonomie, die den Reichsständen oder Ständen allgemein zukam oder zukommen sollte. Konkret meinte man mit ständischen Freiheiten oftmals Privilegien bzw. deren Gesamtheit, welche die individuelle politische Stellung und Würde eines Standes ausmachte.

Allgemeiner verstanden, bezeichnete der Anspruch der „Libertät“ auch den Gedanken einer spezifisch frühmodernen „Freiheitlichkeit“, die der politischen und rechtlichen Ordnung der feudalen Gesellschaft des Reiches innewohnte oder dieser – aus Sicht ihrer adligen Standespersonen – innewohnen sollte.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

„libertas Germaniae“

Um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, der Zeit des Humanismus, wurden die Schriften des römischen Historiographen Tacitus, vor allem in Form der „Germania“, zum Ausgangspunkt eines neu entstehenden deutschen Nationalbewusstseins unter Gelehrten, welches sich zuerst und vordergründig als Freiheitsstreben gegen „fremde“ Bevormundung, etwa gegen den Einfluss der römischen Kirche auf das Reich, artikulierte. Die propagandistisch immer stärker verzerrte, historische Figur des Germanenfürsten Arminius, von dem Tacitus berichtet, entwickelte sich allmählich zum deutschen Nationalhelden schlechthin und wurde so zum Vorkämpfer „deutscher Freiheit“ gegen Rom stilisiert.

Diese libertas Gemaniae der Humanisten richtete sich aber in der Folge auch gegen das Osmanische Reich, die Franzosen oder die zu dieser Zeit nach der Weltherrschaft greifenden Spanier, auf deren Seite viele deutsche Reichsstände nach 1519 praktisch auch ihren „innenpolitischen Antagonisten“ und eigenen Lehnsherrn, Kaiser Karl V., sahen. Im Laufe der Reformation setzte sich bei den Ständen (und den einflussreichen Würdenträgern der aus dem Mittelalter überkommenen ständischen Gesellschaft) die Auffassung durch, dass nicht nur das Papsttum oder fremde Mächte eine Bedrohung für die eigenen Privilegien und die eigenen Machtstellung waren, sondern dass auch der Kaiser, sofern er die monarchische Gewalt seines Amtes vom Anspruch in die Realität zu übertragen versuchte, eine Gefahr für die – durchaus gewichtige – politische Stellung seiner Lehnsmänner sein konnte.

„Teutsche Libertät“

Die „ständische Freiheit“ entstand so als Kampfbegriff, der die negative Freiheit der Stände (im Rahmen ihrer Lehnspflichten) von darüber hinausgehenden, als unberechtigt empfundenen Ansprüchen des Kaisertums und anderer Mächte propagierte und einforderte. Sie war damit auch gegen eine Ausweitung der monarchischen Machtfülle des Kaisers gerichtet – eine Haltung, die ein Jahrhundert später durch die so genannten „Fürstenerianer“ wieder aufgegriffen und sogar noch radikalisiert werden sollte.

Im politischen Umfeld des Schmalkaldischen Bundes (1531–1546) erhob man die „deutsche Freiheit“ regelrecht zum Verfassungsprinzip des Reiches.[1] Dies konnte soweit gehen, dass man den Kaiser (anachronistisch gesprochen) gar als eine Art „höchsten Beamten“ des Reiches interpretierte oder seine Herrschaft nur im Einklang mit den Fürsten und Kurfürsten als legitim erachtete. Schon die Wahl Ferdinands von Österreich, des Bruders Karls V., zum Römischen König im Januar des Jahres 1531, hatte scharfe Proteste evangelischer Reichsfürsten und des katholischen Bayernherzogs hervorgerufen, in welchen man Karl der vorsätzlichen Verletzung des Prinzip der „teutschen freiheit“ bezichtigte.[1] Als Frankreichs König Heinrich II. zwei Jahrzehnte später versuchte, im Bunde mit oppositionellen Reichsfürsten die Kaiserkrone für sein Haus zu erringen, ließ er sich zu diesem Zweck als Retter Deutschlands vor dem Tyrannen Karl feiern und vereinbarte in der Allianz mit den deutschen Fürsten „die alte libertet und freiheit unsers gelibten vaterlands der Teutschen nation“ wiederherzustellen und „den viehischen, unertreglichen und ewigen servitut“,[2] wie er unter des „spanischen“ Kaisers Herrschaft erzwungen werde, zu beseitigen.

Die Reichsstände“, so fasst Georg Schmidt die weitere Entwicklung zusammen, „argumentierten fortan stets mit der deutschen (oder ständischen) Libertät, wenn sie Alleinherrschaftsbestrebungen witterten: Das Reich [d.h. seine Stände, Anmerk. d. Verf.] besitze alte, die Freiheit sichernde Grundgesetze, es regiere sich selbst und sei niemandem unterworfen – auch nicht dem eigenen Kaiser.[1] Übereinstimmend definiert Axel Gotthard die „ständische Libertät“ als eine

„...im politischen Diskurs des Reiches überaus häufig verwendete Formel, die nicht die moderne, in individueller Selbstverwirklichung gipfelnde ‚Freiheit‘ [...] meint, sondern politische Spielräume für die Reichsstände. Selbst Obrigkeiten, Regenten über ihre Territorien, sahen sich nicht als ‚Untertanen‘ des Kaisers oder der Reichsbehörden. ‚Wahrung der teutschen libertät‘, diese Parole zielte auf ein Reich, das zwar gewisse Schutz- und Koordinierungsaufgaben erfüllte, dabei aber seine Glieder so wenig wie nur irgend möglich vereinnahmte und gängelte.[3]

Die Rede von der „deutschen“ oder „ständischen Freiheit“ entwickelt sich in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten zu einem bedeutsamen Bestandteil der politischen Kultur des frühmodernen Deutschlands. Im Laufe des 17. Jahrhunderts erfährt er sogar eine allmähliche inhaltliche Wendung insofern, als der Freiheitsanspruch, den die verschiedenen Schlagwörter erheben, von Seiten der Gelehrten zunehmend auf die Untertanen der Landesfürsten ausgeweitet wird. So wird aus der libertas Germaniae der Humanisten eine libertas Germanorum („Freiheit der Deutschen“),[4] die, vor allem im Rechtsdenken der späten Reichspublizisten, eine quasi rechtsstaatlich-grundrechtsähnliche Denkhaltung avant la lettre darstellt.

Einordnung

Wie sich hierin schon andeutet, zeichnete sich die Forderung nach ständischer bzw. „deutscher Libertät“ eher durch einen anti-zentralistischen als durch einen rein anti-monarchischen Gedanken aus. In ihr spiegelte sich damit gleichsam ein im Reich seit frühesten Zeiten angelegter und mit den Jahrhunderten immer drängender werdender Dualismus zwischen König- bzw. Kaisertum und den Reichsständen wider. Bereits in der Reformation verband sich das Autonomiestreben der Stände mit konfessionspolitischen Beweggründen (protestantische Stände gegen katholisches Kaisertum) oder wurde von letzteren vielmehr zusätzlich angetrieben. Während diese Konfrontation zwischen Krone und Ständen in der praktischen Politik häufig in militärischen Auseinandersetzungen gipfelte (etwa im Schmalkaldischen- und Dreißigjährigen Krieg), fand sie im politischen Denken der Zeit einen sinnfälligen Ausdruck im Konzept der „dualen“ Souveränität, in welchem das Reich – in Anerkennung der „Libertät“ der Stände – als zwischen Fürsten und Kaisern geteilte Herrschaft interpretiert wird.

Obgleich der Begriff der wenig mit der modernen Vorstellung individueller Selbstbestimmung und Autonomie gemein hat, sondern sich von vornherein auf ständische, d.h. also korporative Rechte und Privilegien bezieht, darf seine Rolle als eigenständige Traditionslinie in der Geschichte des modernen politischen Freiheitsbegriff nicht vernachlässigt werden. Michael Th. Greven betont diesbezüglich, dass der Grundgedanke der „ständischen Freiheit“ „auch nach der Französischen Revolution noch kollektive und korporative Vorstellungen von autonomia et privilegium verteidigen [hilft], die sich vor allem gegen die Verbindung von demokratischen Ansprüchen und zunehmender Zentralisierung der Staatsgewalt richten.[5] Dadurch ergäben sich direkte Anknüpfungspunkte zum föderalistischen Prinzip, das, in Verbindung mit dem demokratischen Gedankengut des 19. Jahrhunderts, den modernen Freiheitsbegriff entscheidend beeinflusst hat.

Einzelnachweise

  1. a b c Vgl. Georg Schmidt: Freiheit, Sp. 1154.
  2. Bernd Möller: Deutschland im Zeitalter der Reformation. S. 165.
  3. Axel Gotthard: Das Alte Reich. S. 11.
  4. Vgl. Georg Schmidt: Freiheit, Sp. 1154 f.
  5. Michael Th. Greven: Freiheit. S. 118.

Literatur

  • Axel Gotthard: Das Alte Reich. 1495–1806. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, ISBN 3-534-15118-6, (Geschichte kompakt – Neuzeit).
  • Michael Th. Greven: Freiheit. In: Dieter Nohlen, Rainer-Olaf Schultze: Lexikon der Politik. Band 1: Politische Theorien. Beck, München 1995, ISBN 3-406-36905-7, S. 116–119.
  • Bernd Möller: Deutschland im Zeitalter der Reformation. 4. durchgesehene und bibliographisch erneuerte Auflage. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 1999, ISBN 3-525-33462-1, (Joachim Leuschner (Hrsg): Deutsche Geschichte 4), (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1432).
  • Georg Schmidt: Freiheit. In: Enzyklopädie der Neuzeit (hrsgg. vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und Friedrich Jaeger), Bd. 3, Sp. 1153–1155.

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