Klaus Hinrich Stahmer

Klaus Hinrich Stahmer

Klaus Hinrich Stahmer (* 25. Juni 1941 in Stettin) ist ein deutscher Komponist. Er gab der Entwicklung der E-Musik in den 1980er-Jahren Impulse durch seine multimedialen Arbeiten (u.a. Musik mit Klangskulpturen und musikalischen Grafiken). Bahnbrechend waren auch seine Kompositionen für außereuropäische Instrumente.

Inhaltsverzeichnis

Biografie

Klaus Hinrich Stahmer wurde in Stettin geboren, 1945 Flucht vor russischem Militär in den Westen. Während seiner Schulzeit (Lüneburg 1947-60) erhielt er Instrumentalunterricht. Nach Abschluss seiner Musikstudien am Dartington College of Arts, am Hochschulinstitut für Musik Trossingen und der Musikhochschule Hamburg sowie an den Universitäten Hamburg und Kiel war Stahmer Hochschullehrer an der Hochschule für Musik Würzburg (1969-2004; seit 1977 Professur).

1976 Gründung des Festivals “Tage der Neuen Musik” (Leitung bis 2001). Neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer, Festival- und Konzertorganisator ("Studio für Neue Musik") und Cellist veröffentlichte er Bücher und Zeitschriftenaufsätze zu Themen aus dem Bereich der neuen Musik und arbeitete als Journalist für den Rundfunk.

Kulturpolitisch war Stahmer in mehreren Gremien wie dem Deutschen Musikrat u. a. für die Belange der zeitgenössischen Musik tätig und war mehrfach Präsident der deutschen Sektion der IGNM (1983-87; 2000-2002). Den Schwerpunkt seines öffentlichen Wirkens sah er in der Vertiefung der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sowie in der Annäherung Polens und Deutschlands.

Seit seiner Emeritierung vom Hochschuldienst arbeitet Stahmer primär als Komponist und reist zu Vortrags- und Studienreisen in die Länder des nahen und des fernen Ostens.

Werkübersicht

Nach Threnos für Viola und Klavier (1963) und weiteren Jugendwerken fand Stahmer in der Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern zu neuen Ausdrucksformen, teilweise unter Verwendung elektronischer Mittel. Schlüsselwerke wie Transformationen (1972) und das Schlagzeugduo I can fly (1975) zeigen Stahmer als Experimentator, der sich neben visueller Darstellungsmittel auch der zeitgenössischen Lyrik bedient und in kammermusikalischen Stücken wie Quasi un requiem (Texte: Henry Miller;1974) und Tre paesaggi (Texte: Cesare Pavese;1976) Musik mit hohem Symbolgehalt schuf. Seit Mitte der 70er-Jahre finden sich auch Bühnenwerke wie das mit elektronischen Mitteln gestaltete und 1980 in Zagreb unter Mitwirkung des Gitarristen Siegfried Behrend uraufgeführte Ballett Espace de la solitude oder das in Gemeinschaftsproduktion mit dem Jazz-Saxofonisten Bernd Konrad entstandene Ballett Die Nashörner (nach Eugène Ionesco). Größer besetzte Kammermusikzyklen wie die Acht Nachtstücke (1980), der Bühneneinakter Singt, Vögel (1985/86; Inszenierungen an den Bühnen der Landeshauptstadt Kiel, im Marstalltheater München und im Gasteig München) oder auch die Drei Bagatellen – in memoriam Igor Strawinsky (1992) lassen eine neue Dimension im Schaffen des Komponisten erkennen. Daneben erforschte Stahmer die klanglichen Möglichkeiten von Elmar Dauchers Klangsteinen und Installationen von Edmund Kieselbach. Hatte er zuvor meist improvisatorisch mit ähnlichen Klangskulpturen gearbeitet, entwickelte er nun systematisch Klangstrukturen, bei denen Klangsteine mit herkömmlichen Klangkörpern wie dem Streichquartett (Kristallgitter; 1992) oder Akkordeon (To lose is to have; 1999) zusammengeführt werden. Seit 1994 macht sich zunehmend der Einfluss außereuropäischer Musizierformen bemerkbar, ablesbar an den drei Songlines (1994) oder dem einstündigen, in Australien uraufgeführten Klavierzyklus Sacred Site (1996). Stücke wie There is no return (1998) zeigen, dass Stahmers Beschäftigung mit fremden Ethnien nicht nur musikimmanent auf sein Komponieren ausstrahlt, sondern auch politisches Engagement für die Opfer weißer Gewaltherrschaft beinhaltet. Vom Mitgefühl für die Opfer des Holocaust geprägt ist das in mehrjähriger Arbeit entstandene Tonbandstück (mit Vibrafon-Solo) Che questo è stato (1999). Das Duo für die chinesische Mundorgel Sheng und die chinesische Zither Guzheng Silence is the only Music (2004) eröffnet eine Serie von Stücken, in denen Stahmer die Spielweise und Tongebung nichteuropäischer Instrumente zur Darstellung seiner musikalischen Vorstellungen heranzieht. Bisher jüngstes Dokument dieser integrativen Praxis ist der in Zusammenarbeit mit dem libanesischen Dichter Fuad Rifka entstandene Zyklus Gesänge eines Holzsammlers (2009), wo arabische Instrumente wie die Zither Qanun und eine Rahmentrommel eingesetzt werden.

Stilistik

Als Komponist zunächst von Hindemith, Bartók und Berg beeinflusst, entdeckte Stahmer durch Beschäftigung mit der Bildersprache zeitgenössischer Maler und Bildhauer die Möglichkeit, der Enge traditioneller Hörgewohnheiten zu entgehen. Seit 1972 band er instrumental oder elektronisch realisierte Klangfarben in zeitliche Prozesse ein, bei denen diatonisches oder chromatisches Skalendenken ebenso wenig Sinn ergibt wie die Ordnung nach motivisch-thematischen Kriterien. Improvisatorisch und kompositorisch fand Stahmer einen eigenen Weg zu ausdrucksstarken und vornehmlich am Klangerlebnis orientierten Stücken. Wurde auf der einen Seite der herkömmliche Instrumentalklang geräuschhaft erweitert und aufgebrochen, zeichnet sich auch in Vokalwerken wie Die Landschaft in meiner Stimme (1978) die Hinwendung zu den phonetischen Valeurs der mit Mund und Stimmbändern produzierten Klänge ab.

Nach einer überwiegend vom Klangexperiment geprägten Schaffensphase suchte Stahmer ab 1980 nach Möglichkeiten, seine neuen Erfahrungen auch auf die eher traditionellen Spiel- und Gesangstechniken zu übertragen, z. B. in unbegleiteten Solokompositionen wie Aristofaniada (1979) und Now' (1980). Hieraus entwickelte Stahmer eine verstärkt auf der stilistischen Retrospektive aufbauende, das Vorbild jedoch nur in gebrochener Form vermittelnde Schreibweise, die sich zunehmend an solchen Idealen wie Klangschönheit und Spielfreude orientiert. Parallel hierzu kommt es allerdings, beginnend mit der musikalischen Grafik Geburtstagskanon für John Cage (1982) und noch deutlicher erkennbar mit dem Tonbandstück Der Stoff aus dem die Stille ist (1990), zu einer Gegenbewegung. Der klanglichen Üppigkeit begegnet der Komponist nunmehr zunehmend mit einer Reduktion der Mittel und mit einer Zurücknahme des Ausdrucks. Knapp und klar geschnitten erscheinen die Klanggesten schließlich in den beiden Klavierstücken Musik der Stille (1994/98) und dem an japanisches Nô-Theater erinnernden Duo Ima (2007).

Hatte Stahmer sich Anfang der 1970er-Jahre von den melodischen und Harmonikmodellen der Schönbergschule abgewendet und einem erneuerten Form- und Klangdenken Raum in seinem Schaffen gegeben, lässt sich in den letzten Jahren eine Rückkehr zur Tonalität konstatieren. Diese Tonalität operiert jenseits aller funktionsharmonikalen Klangverbindungen mit den modalen Klangvorstellungen arabischer "Maquame“ [Modi] oder fernöstlicher Stimmungen und bezieht zuweilen die reine (pythagoräische) Intonation mit ein. Dass Stahmers Musik trotz aller außereuropäischen Elemente immer noch „westlich“ klingt, verdankt sie einer klaren Abgrenzung des Komponisten gegenüber jeglicher Form von Stilkopie.

Werke (Auswahl)

Orchester- und Bühnenwerke

  • May they come, may they disembark, may they stay and rest awhile in peace für großes Orchester (1997)
  • Singt, Vögel (Einakter/1985/86)
  • Die Nashörner (Ballettmusik, mit Bernd Konrad/1983)

Klaviermusik:

  • Ghinna’û Hattab [Gesänge eines Holzsammlers] (2009);
  • Four Poems (2000/07)
  • People out of Nowhere für zwei Klaviere (2000)
  • Sacred Site (1996); Musik der Stille (1994/98)

Kammermusik

  • Flüchtige Augenblicke für Akkordeon solo (2008/09)
  • Redland für Violoncello solo (2005); Our Music is so sweet für Violine solo (2002)
  • There is no Return für Flöte, 2 Schlagzeuger und Klavier (1998/2005)
  • Mazewot [Grabsteine] für Violine solo (1998)
  • Em-bith-kâ [Der Adler ruft] für Streichquartett (1998)
  • Musik für die weißen Nächte für Gitarre und Streichquartett (1992)
  • Nocturne für Enzensberger für Gitarre solo (1984)
  • 8 Nachtstücke für Flöte, Gitarre und Violoncello (1983/90)
  • I can fly für 2 Schlagzeuger (1975/81)
  • Quasi un requiem für Sprechstimme und Streichquartett (Texte: Henry Miller/1974)

Vokalmusik

  • Momentaufnahmen für Sprechstimme und Instrumentalensemble (1986/89)
  • Now 4 Lieder für Singstimme solo (Texte: E. E. Cummings /1980)
  • Die Landschaft in meiner Stimme (Musikalische Grafik/1978)
  • Tre paesaggi für Sprechstimme, Gitarre, Schlagzeug und Tonband (Texte: Cesare Pavese/1976)

Musik mit Klangskulpturen

  • Herr der Winde für Flöte und Zuspiel-CD (Klangpaneele von Edmund Kieselbach/1997)
  • Kristallgitter für Streichquartett, computergesteuerte Steinklänge und Ringmodulation (Klangstein von Elmar Daucher/1992)

Musik für außereuropäische Instrumente

  • Marthia [Trauergesang] für Violoncello und Qanun (2009)
  • Zikkrayat [Erinnerungen] für Qanun (2009)
  • Tian Ren He Yi [Mensch und Welt im Einklang] für Sheng und Streichquartett (2008)
  • Feng Yu [Herr der Winde] für Dizi und Zuspiel-CD (2007)
  • Ning Shi [Gefrorene Zeit] für Sheng und Akkordeon od. Klavier (1994/2007)
  • Pulip Sori [Graslied] für Kayagum, Violoncello und Changgu (2006)
  • Silence is the only Music für Sheng und Guzheng (2004)

Kirchenmusik

  • Davids Lobgesang (6 Geistliche Konzerte/1982/89)
  • Parole ultime für Schlagzeug und Orgel (1978)

Schriften

  • Musik in der Residenz. Würzburger Hofmusik. Stürtz Verlag, Würzburg 1983
  • Neue Klangwelt der Gitarre, nova giulianiad 11/88, S. 126 ff.

Auszeichnungen und Preise

  • 1981 1. Preis im Wettbewerb „Junge Komponisten gesucht“ der Stadt Koblenz;
  • 1984 1. Preis im Wettbewerb der Onyûkai Association Tokyo;
  • 1986 Johann-Wenzel-Stamitz-Preis der Künstlergilde Esslingen e.V.;
  • 1994 Kulturpreis der Stadt Würzburg;
  • 1996 Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland;
  • 2001 1. Preis Georg-Friedrich-Händel-Wettbewerb der Stadt Halle;
  • 2006 Ehrenpreis im Tsang-Houei-Hsu-Wettbewerb Taipeh.

Literatur (Auswahl)

Weblinks


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