Der Friedhof in Prag

Der Friedhof in Prag

Der Friedhof in Prag (OT: Il cimitero di Praga) sechste Roman von Umberto Eco. Die deutsche Übersetzung von Burkhart Kroeber erschien im Oktober 2011 im Carl Hanser Verlag.

Der Titel Der Friedhof in Prag bezieht sich auf die Legende, dass der jahrhundertealte jüdische Friedhof in Prag seit jeher ein beliebter Treffpunkt für Spione und Agenten gewesen sei, die angeblich dort Pläne zur Beherrschung der Welt vereinbart hätten. In Ecos Roman geht es um die Wirksamkeit des lediglich Behaupteten vor dem Hintergrund der Leichtgläubigkeit der Menschen im 19. Jahrhundert und später.

Inhaltsverzeichnis

Handlung

Der Protagonist, aus dessen Sicht heraus die Handlung überwiegend dargestellt wird, ist der 1830 in Turin geborene Simon Simonini, ein Jurist, der seine Karriere mit dem Fälschen von Testamenten beginnt. Sein einschlägiges Talent bringt ihn in Kontakt mit diversen Geheimdiensten, die ihn an die Schauplätze der italienischen und der französischen Politik im 19. Jahrhundert führen und zu deren geheimen Drahtzieher machen.

Von Turin aus führen Simonini seine Beschäftigungen nach Sizilien, nach München und nach Paris, wo er die längste Zeit seinen Wohnsitz hat. Simonini erlebt als eine Art „Forrest Gump des 19. Jahrhunderts“[1] zentrale Ereignisse seiner Zeit: Der jüdische Hauptmann Dreyfus verkauft angeblich geheime Papiere an die deutsche Botschaft; piemontesische, französische und preußische Geheimdienste schmieden noch geheimere Pläne; Freimaurer, Jesuiten und Revolutionäre werden in Simoninis Dokumenten als Verschwörer aktiv, und am Ende tauchen zum ersten Mal die Protokolle der Weisen von Zion auf, ein gefälschtes „Dokument“ für die „jüdische Weltverschwörung“, zu denen Simonini entscheidende Vorlagen liefert.

Die Handlung endet mit dem Plan eines Bombenanschlags auf die im Bau befindliche Pariser U-Bahn, den Siminoni selbst ausführen soll und bei dem er vermutlich stirbt. Das lässt sich daraus schließen, dass der Roman mit der Ankündigung dieses Vorhabens endet und dass Ecos deutscher Übersetzer, Burkhart Kroeber, Simoninis „Lebenszeit“ mit „1830–1898“ angibt (siehe Weblinks).

Erzählhaltung

Die Aufgabe, die Handlung zu erzählen, hat der Autor auf drei verschiedene Rollenträger übertragen:

  • auf Simon Simonini als Ich-Erzähler, der ein Tagebuch führt,
  • auf den Abbé Dalla Piccola, der Simonis Beiträge ergänzt, weiterführt und mit Simonini teilweise in eine Art schriftlichen Dialog eintritt, sowie
  • einen anonymen Erzähler, der auf einer Metaebene die Tagebucheintragungen kommentiert und ergänzt.

Hintergrund der Erzähltechnik ist der Versuch Simoninis, eine Amnesie zu überwinden, die einen Großteil seiner Erinnerung ausgelöscht hat. Dabei folgt er der Empfehlung des jungen Nervenarztes „Doktor Froïde“ (d.h. Sigmund Freuds), den er in Paris kennengelernt hat, durch Aufschreibung dessen, woran er sich erinnert, sein Gedächtnis wiederzuerlangen. Es stellt sich heraus, dass ihm der Abbé, dem er merkwürdigerweise nie persönlich begegnet, ständig in die Quere kommt. Schon früh kommt Simonini der Verdacht, dass Dalla Piccola sein „alter ego“ sein könnte, dass er mithin unter einer Persönlichkeitsspaltung leide. Dieser Verdacht bestätigt sich endgültig kurz vor Schluss des Romans, und nachdem Simonini seine Identität mit dem Abbé erkannt hat, tritt dieser nicht mehr als Erzähler auf. Die letzte „Einsicht“ Simoninis besteht in den Worten: „[I]ch bin doch nicht schon gaga.“

Simoninis Persönlichkeit

Tatsächlich hat Simon Simonini am Schluss des Romans keineswegs die tiefgreifende Persönlichkeitsstörung überwunden, die ihn sein ganzes Leben lang prägt.

Am stärksten beeinflusst hat den Protagonisten der dominante Großvater väterlicherweise. Dieser Anhänger des Ancien Régime, der noch im 19. Jahrhundert Culotten trägt, hasst alle Juden; ihnen gibt er die Schuld an allen von ihm negativ bewerteten Vorgängen. Diesen Antisemitismus überträgt der Großvater auf den Enkel. Um ihn vor „falschen Einflüssen“ zu schützen, sorgt er dafür, dass Simon Einzelunterricht durch Jesuiten erhält.

Simons Vater, dessen Einfluss auf die Erziehung seines Sohnes sich allerdings in Grenzen hält, verachtet seinerseits die Jesuiten und ist ein glühender Anhänger der staatlichen Einheit Italiens, für die er kämpft und stirbt. Der Großvater wiederum hält überhaupt nichts vom aufkommenden Nationalismus, zumal in seinem Haus, nicht nur Simons Mutter, einer gebürtigen Savoyerin wegen, überwiegend Französisch gesprochen wird, wodurch es dem Jungen schwerfällt, sich zu einer von zwei Nationen (der italienischen oder der französischen) zu bekennen. Später fällt es ihm schwer, in den Sizilianern, die er bei seiner ersten Mission im Auftrag des piemontesischen Geheimdienstes aufsucht und deren Dialekt er nur schwer versteht, „Landsleute“ zu sehen.

Die Erziehung zum Hass durch den Großvater, die Verklemmtheit seiner Privatlehrer und die Isolierung von Gleichaltrigen machen Simon zu einem Sonderling, der mit seinem Mitmenschen nicht recht warm werden kann, der Frauen hasst und aus dieser Not eine Tugend macht.

Simonini glaubt zwar als Erwachsener, über den Dingen und auch über dem Gesetz zu stehen, wird aber letztlich zum Opfer seiner Verklemmtheit und seines Amoralismus: Er ist für mehrere Morde verantwortlich und damit erpressbar, und er wird nicht mit dem Trauma fertig, dass ihn eine psychisch gestörte, sexuell zügellose „Halbjüdin“ während einer Schwarzen Messe verführt. Dass er, der fanatische Judenhasser, bei dieser Gelegenheit einen Juden gezeugt haben könnte, bringt Simonini um den Verstand.

Fiktion und Wirklichkeit

In Ecos Roman sind die meisten Behauptungen, die die Mitwirkenden aufstellen, frei erfunden. Viele Handelnde hat es aber wirklich gegeben. Die Hauptfigur, Simon Simonini, hat Eco frei erfunden. Die Idee für die Namensgebung erhielt der Autor durch einen Hinweis auf eine Warnung durch einen „Hauptmann Simonini“, von der Abbé Barruel, ein Verschwörungstheoretiker, in seinem Hauptwerk schreibt, welches in Ecos Roman zitiert wird. Die im Roman erwähnten Ereignisse, die im 19. Jahrhundert für Schlagzeilen sorgten, hat Umberto Eco realitätsnah beschrieben.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Hannes Stein: Ecos Mythos von der jüdischen Weltverschwörung. „Die Welt“. 10. Oktober 2011

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