Rechtsetzung der Europäischen Union

Rechtsetzung der Europäischen Union

Als eigenständige Organisation mit Rechtspersönlichkeit haben die Europäische Union und die Europäische Atomgemeinschaft auch eigene Rechtsetzungsbefugnisse.

Während in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten das Parlament den Willen des Volkes vertritt, sind es in der Europäischen Union die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat, denen eine wichtige Rolle bei der Rechtsetzung zukommt. Bei verbindlichen Rechtsakten mit allgemeiner Geltung (Verordnungen und Richtlinien) hat das Europäische Parlament ein Mitentscheidungsrecht, die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten müssen jedoch auch in diesen Bereichen zustimmen.

Inhaltsverzeichnis

Einteilung

Einerseits werden die Rechtsakte der Europäischen Union in Gesetzgebungsakte und Rechtsakte ohne Gesetzescharakter eingeteilt. Andererseits werden sie in Art. 288 AEUV nach ihren Rechtswirkungen eingeteilt in:

Gesetzgebungsakte

Grundsätzlich verläuft der Erlass von Gesetzgebungsakte der EU wie folgt:

  • Vorschlag der Kommission
  • Beteiligung des Parlaments in unterschiedlichem Umfang:
    • keine Beteiligung
    • Anhörung
    • Zustimmung
    • gleichberechtigte Mitentscheidung (ordentliches Gesetzgebungsverfahren)
  • Anhörung der beratenden Organe
  • Entscheidung des Rates

Die unterschiedliche Beteiligung des Parlaments bildet somit den wesentlichen Unterschied in den verschiedenen Rechtsetzungsverfahren.

Die Europäische Kommission hat in der Regel das alleinige Initiativrecht, was von manchen als ein Grund für das Demokratiedefizit der Europäischen Union angesehen wird. Das Europäische Parlament (gemäß Art. 225 AEUV) und der Rat der Europäischen Union (gemäß Art. 241 AEUV) können die Europäische Kommission auffordern, einen Rechtsakt vorzuschlagen. Eine solche Aufforderung ist auch Unionsbürgern im Rahmen einer Bürgerinitiative möglich (Art. 11 EU-Vertrag und Art. 24 AEUV).

Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union sind folgende Gesetzgebungsverfahren vorgesehen:

Ordentliches Gesetzgebungsverfahren

Hauptartikel: Ordentliches Gesetzgebungsverfahren

Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Art. 294 AEUV; früher Mitentscheidungs-, auch Kodezisionsverfahren Code COD) ist das mittlerweile wichtigste Gesetzgebungsverfahren. Hier hat das Parlament ein vollwertiges Mitbestimmungsrecht und kann einen Rechtsakt auch verhindern. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Rat und Parlament ist die Einberufung eines Vermittlungsausschusses vorgesehen.

Besondere Gesetzgebungsverfahren

Die besonderen Gesetzgebungsverfahren sind jeweils in den jeweiligen Rechtsgrundlagen festgelegt. Nach Art. 289 AEUV entscheidet der Rat der Europäischen Union mit Beteiligung des Europäischen Parlaments oder ausnahmsweise das Europäische Parlament mit Beteiligung des Rates der Europäischen Union. Die wichtigsten Verfahren sind das Konsultationsverfahren und das Zustimmungsverfahren.

Konsultationsverfahren (CNS)

Das Konsultations- oder Anhörungsverfahren (Code CNS) findet nur mehr in Fällen Anwendung, die nicht ausdrücklich dem Verfahren der Zustimmung oder dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren unterliegen. Es war das ursprüngliche Rechtsetzungsverfahren der Europäische Gemeinschaften.

Nach einem Vorschlag der Kommission und Stellungnahme des Europäischen Parlaments sowie gegebenenfalls des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen entscheidet der Rat über die Annahme des Vorschlags, mit qualifizierter Mehrheit oder, wie es ursprünglich vorgesehen war, einstimmig. Er kann den Vorschlag der Kommission durch einstimmigen Beschluss abändern.

Zustimmungsverfahren (AVC)

Das Zustimmungsverfahren (Code AVC) wurde mit der Einheitlichen Europäischen Akte eingeführt und gibt dem Parlament die Möglichkeit, der Annahme bestimmter Rechtsakte des Rates zuzustimmen oder seine Zustimmung zu verweigern. Das Parlament kann den Vorschlag jedoch nicht abändern. Nach Zustimmung des Parlaments entscheidet der Rat über die Annahme des Vorschlags, und zwar mit qualifizierter Mehrheit oder, wo dies ausdrücklich vorgesehen ist, einstimmig. Er kann den Vorschlag der Kommission jedoch durch einstimmigen Beschluss auch abändern.

Das Europäische Parlament hat in diesen Bereichen ein Vetorecht. Das Verfahren war ursprünglich nur für den Abschluss von Assoziierungsabkommen oder die Prüfung von Anträgen auf den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft vorgesehen und findet derzeit zum Beispiel in folgenden Bereichen Anwendung:

Ehemaliges Verfahren: Verfahren der Zusammenarbeit (SYN)

Hauptartikel: Verfahren der Zusammenarbeit

Das Verfahren der Zusammenarbeit (Code SYN, zuletzt in Art. 252 EG-Vertrag geregelt) gab dem Europäischen Parlament bei seiner Einführung durch die Einheitliche Europäische Akte das erste Mal die Möglichkeit, am Gesetzgebungsprozess nicht nur beratend mitzuwirken. Das Parlament kann den Gemeinsamen Standpunkt des Rates abändern; anders als beim Mitentscheidungsverfahren beschließt aber letztendlich der Rat allein.

Nach dem Vertrag von Amsterdam war das Verfahren bestimmten Bereichen der Wirtschafts- und Währungsunion vorgesehen. Im Vertrag von Lissabon wurde das Verfahren der Zusammenarbeit gänzlich abgeschafft.

Rechtsakte ohne Gesetzescharakter

Neben den Gesetzgebungsakten kennt der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union auch Rechtsakte ohne Gesetzescharakter. Diese basieren, wie die delegierte Rechtsakte und die Durchführungsrechtsakte, auf Gesetzgebungsakten oder aber direkt auf den Verträgen.

Delegierte Rechtsakte

Um die Detailflut der Gesetzgebungsakte zu reduzieren, sieht der Vertrag von Lissabon die Schaffung delegierter Rechtsakte vor. Der Rat und das Parlament können in Gesetzgebungsakten die Kommission ermächtigen, delegierte Rechtsakte zu erlassen (Art. 290 AEUV). Diese delegierten Rechtsakte können zur Ergänzung oder Änderung nicht wesentlicher Punkte des Gesetzgebungsaktes führen.

Auch im Falle der delegierten Gesetzgebung verbleibt den eigentlichen Gesetzgebungsorganen das Recht,

  • die Befugnis der Kommission zu entziehen oder
  • gegen die Entscheidung der Kommission in einer angemessenen Frist Einwände zu erheben; werden solche erhoben, so tritt der Beschluss der Kommission nicht in Kraft.

In beiden Fällen ist es ausreichend, wenn der Rat, mit qualifizierter Mehrheit, oder das Parlament einen entsprechenden Beschluss fassen.

Die Anwendung delegierter Rechtsakte legt der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) fest. Die Bedingungen für die Befugnisübertragung werden in jedem Gesetzgebungsverfahren einzeln festgelegt.

Durchführungsrechtsakte

Im Prinzip sind die Mitgliedstaaten dafür zuständig, für die Durchführung von Gesetzgebungsakten entsprechende Durchführungsbestimmungen zu erlassen. Nach Art. 291 AEUV kann die Kommission oder in Sonderfällen der Rat ermächtigt werden, Durchführungsrechtsakte zu erlassen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung verbindlicher Rechtsakte bedarf. Soweit die Kommission Durchführungsrechtsakte erlässt, wird sie von den Mitgliedstaaten im Rahmen besonderer Ausschüsse kontrolliert (Komitologie). Näheres darüber bestimmt eine Verordnung, die der Rat und das Europäische Parlament nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen.

Rechtsakte aufgrund der Verträge

Neben den genannten Verfahren gibt es weitere Rechtsakte ohne Gesetzgebungscharakter, die die Organe der Europäischen Union jeweils nach Maßgabe der in den Verträgen vorgesehenen Regelungen treffen. Neben den Gesetzgebungsorganen Rat und Parlament können solche Rechtsakte auch von anderen Institutionen, etwa der Europäischen Kommission oder der Europäischen Zentralbank, erlassen werden.

Bestimmte Rechtsakte ohne Gesetzgebungscharakter werden ähnlich wie die Gesetzgebungsakte von Rat und Europäischem Parlament gemeinsam erlassen. Dabei werden ebenfalls die oben beschriebenen Verfahren, wie das Anhörungsverfahren oder das Zustimmungsverfahren, angewandt. Beispiele dafür sind:

Kritikpunkte

Kritiker bemängeln, dass die Arbeitsweise, insbesondere bei den Verfahren der Zusammenarbeit und der Anhörung, nicht transparent genug sei (Komitologie). Insgesamt wird die Mitwirkungsmöglichkeit der nationalen Parlamente oft als zu begrenzt kritisiert (Demokratiedefizit der EU). Um dem entgegenzuwirken, ist im Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft tritt, ein „Frühwarnsystem“ vorgesehen, in dem die nationalen Parlamente über alle Gesetzesvorhaben der Kommission unterrichtet werden und diese die Möglichkeit haben, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu überprüfen und gegebenenfalls zu intervenieren.

Darüber hinaus arbeiten die Parlamente der Mitgliedstaaten in der Konferenz der Europaausschüsse (COSAC) zusammen.

Siehe auch

Literatur

Weblinks


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