Bescheidenheit

Bescheidenheit

Bescheidenheit, auch Genügsamkeit, ist eine Verhaltensweise von Menschen, wenig von etwas für sich zu beanspruchen, selbst dann, wenn die Möglichkeit der Vorteilnahme bestehe; sie bedeutet auch, zugunsten anderer auf etwas zu verzichten. Bescheidenheit als Lebensprinzip entsteht häufig aus der Einsicht, dass alles Übermaß im Leben schädlich ist, gemäß dem altgriechischen Merkspruch: Nichts zu viel.

Inhaltsverzeichnis

Begriffs- und Ideengeschichte

Der mittelhochdeutsche Ausdruck „bescheidenheit“ ist zunächst Entsprechung für lateinisch „prudentia, sapientia, scientia, discretio“.[1] So etwa bei Freidank, der um 1230 eine Sammlung von Epigrammen mit dem Titel "Bescheidenheit" verfasste.[2] Das Wort wird hier im Sinne des Unterscheidungsvermögens (lat. discretio) von Gut und Böse gebraucht. In anderen Kontexten ist eine Übersetzung etwa mit „Verständigkeit“ oder „Verstand“ möglich.

Erst seit Martin Luther wird im Deutschen „bescheidenheit“ auch gebraucht als Entsprechung zu lateinisch moderatio, modestia, also im Sinne von „Zurückhaltung“ wie im heutigen Alltagssprachgebrauch. Dem liegt vermutlich juridischer Wortgebrauch zugrunde: althochdeutsch bisceidan, mittelhochdeutsch bescheiden für (gerichtlich) „den (ggf. ‚bescheidenen’ im heutigen Wortsinne) Anteil zuweisen“. Die moderatio, die Zügelung im menschlichen Handeln, wird in Ansätzen der Tugendethik des 12. und 13. Jh. mit Bezug insb. auf Cicero üblicherweise der temperantia nahegestellt bzw., wie etwa bei Thomas von Aquin der temperantia als einer der vier Kardinaltugenden untergeordnet.[3]

"Bescheidenheit" wird auch unter die "Zwölf Früchte des heiligen Geistes" eingeordnet, wie etwa im Katechismus der Katholischen Kirche:

„Die Früchte des Geistes sind Vollkommenheiten, die der Heilige Geist in uns als die Erstlingsfrüchte der ewigen Herrlichkeit hervorbringt. Die Überlieferung der Kirche zählt deren zwölf auf: ‚Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Langmut, Sanftmut, Treue, Bescheidenheit, Enthaltsamkeit, Keuschheit‘ (Gal 5,22–23 Vg.).“

Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 1832.

Im Bezugstext der lateinischen Bibelübertragung steht hier "modestia" (Gal 5,22-23 VUL) (während der griechische Bibeltext nur neun Tugenden listet, haben u.a. die im 12. Jh. meistverwendete karolingische Rezension der Vulgata und die Glossa ordinaria deren zwölf, namentlich noch patientia, mansuetudo, castitas - ebenso Thomas u.v.a.).

Von Demut und Selbsterniedrigung spricht u.a Lk 18,14 ELB: "Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden". Friedrich Nietzsche gibt dem im Zuge seiner Kritik christlicher Ethik die ironische Wendung:

„Lucas 18,14 verbessert: Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden.“

Menschliches, Allzumenschliches, KSA 2, S. 87, Nr. 87

Kritik

Kritiker werfen den Bescheidenen vor, Bescheidenheit sei im Wesentlichen nur eine bereits ab der frühen Kindheit anerzogene und sozialisierte Verhaltensweise. Psychologisch gesehen sei die Freiwilligkeit dieses Verzichts (teilweise) fraglich. Siehe dazu etwa Freud und das Eisbergprinzip. Dagegen ist jedoch zu sagen, dass gute Erziehung gerade die zur Freiwilligkeit und zum Handeln aus Einsicht ist. Weil objektive Gründe für die Bescheidenheit sprechen und es im übrigen genügend Beispiele von erst im Alter Bescheidenen gibt, kann eine generelle Kritik an der Bescheidenheit nicht überzeugen.

Soziologisch gesehen ist eine moderate Ausprägung dieser Verhaltensweise vorteilhaft für das Funktionieren einer Gruppe. Andererseits ist Bescheidenheit – zumindest kurzfristig – für sozialen sowie beruflichen Erfolg und die Selbstverwirklichung des einzelnen Menschen häufig hinderlich.

In übertrieben starker Ausprägung kann die Bescheidenheit bis zur Unterwürfigkeit führen.

Da Bescheidenheit zum besseren Funktionieren einer Gruppe beiträgt, wird diese von vielen Menschen oft nur vorgegaukelt. Im weiteren Sinne versteht man daher unter Bescheidenheit auch das Vortäuschen, bescheiden zu sein, das heißt die Fähigkeit, verbergen zu können, wie viel man von sich selbst und wie wenig man von den Anderen hält.

Literatur

  • K. Berg: Zur Geschichte der Bedeutungsentwicklung des Wortes Bescheidenheit, in: Würzburger Prosastudien Bd. 1: Wort-, Begriffs- und textkundliche Untersuchungen, München 1968, S. 16–80.
  • B. Schwenk: Art. Bescheidenheit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1, S. 837f.

Einzelnachweise

  1. Schwenk, 837.
  2. Vgl. neben den Angaben im Hauptartikel Freidank Einleitung und Text in: Wolfgang Spiewok (Hg.): Freidanks Bescheidenheit. Auswahl, mittelhochdeutsch - neuhochdeutsch. Reclam, Leipzig 1985.
  3. Vgl. u.a. Summa theologica IIª-IIae, q. 143 co. Einen exemplarischen Überblick zu Debatten im 12. Jh. und weitere Literatur bietet: Bernd Roling: Das 'Moderancia'-Konzept des Johannes de Hauvilla. Zur Grundlegung einer neuen Ethik laikaler Lebensbewältigung im 12. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 37 (2003), S.167–258.

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Bescheidenheit – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно решить контрольную?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Bescheidenheit — Bescheidenheit …   Deutsch Wörterbuch

  • Bescheidenheit — ist der Anfang aller Vernunft. «Ludwig Anzengruber [1839 1889]; österr. Dramatiker und Erzähler» Die Bescheidenheit ist eine Eigenschaft, die vom Bewußtsein der eigenen Macht herrührt. «Paul Cйzanne [1839 1906]; franz. Maler» Falsche… …   Zitate - Herkunft und Themen

  • Bescheidenheit — Bescheidenheit, die schweigende Verzichtleistung auf Lohn und Anerkennung, oder auch die gemäßigte Schätzung des eigenen Verdienstes. Sie ist eine Tochter der Vernunft. Der Verständige ist nicht immer bescheiden, der Vernünftige jederzeit.… …   Damen Conversations Lexikon

  • Bescheidenheit — Bescheidenheit, 1) die Mäßigung der eigenen Ansprüche auf Ehre u. Vorzüge vor Anderen nach richtiger Selbsterkenntniß u. Anerkennung fremden Verdienstes; 2) (Liter.), der Titel der Spruchgedichtsammlung des Freidank …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Bescheidenheit — 1. Beschaidenhait ist vertriben zu Hof. – Agricola, II, 75 77. 2. Bescheidenheit ein schönes (das schönste) Kleid. – Simrock, 936. Die wahre Kraft, der wahre Verstand und das wahre Talent sind immer bescheiden. It.: Chi non è discreto non merita… …   Deutsches Sprichwörter-Lexikon

  • Bescheidenheit — Anspruchslosigkeit; Genügsamkeit; Schlichtheit; Einfachheit * * * Be|schei|den|heit 〈f. 20; unz.〉 1. bescheidenes Wesen, bescheidene Art, bescheidene Mentalität 2. Genügsamkeit, Einfachheit * * * Be|schei|den|heit, die [mhd. bescheidenheit =… …   Universal-Lexikon

  • Bescheidenheit — Anspruchslosigkeit, Bedürfnislosigkeit, bescheidene Art, bescheidenes Wesen, Einfachheit, Genügsamkeit, Selbstbescheidung, Unaufdringlichkeit, zurückhaltende Art, zurückhaltendes Wesen, Zurückhaltung; (bildungsspr.): unprätentiöse Art,… …   Das Wörterbuch der Synonyme

  • Bescheidenheit — 1bescheiden: Das zu ↑ scheiden »trennen« gebildete Präfixverb (mhd. bescheiden) entwickelte in der mittelalterlichen Rechtssprache die Bedeutungen »zuteilen« und »Bescheid geben«. Zur ersten gehört die Wendung »mein bescheidener Anteil«, die… …   Das Herkunftswörterbuch

  • Bescheidenheit — kuklumas statusas T sritis švietimas apibrėžtis Charakterio bruožas, pasižymintis asmenybės savikritiškumu, savęs išsižadėjimu, atsisakymu asmeninių teisių, garbės, patogumų. Perdėtas kuklumas yra savivertės sumažėjimo padarinys. Kuklumas turi… …   Enciklopedinis edukologijos žodynas

  • Bescheidenheit ist eine Zier, doch kommt man weiter ohne ihr —   Die in der Umgangssprache verwendete sprichwörtliche Redensart besagt, dass zu große Bescheidenheit hinderlich ist, wenn man erfolgreich sein will …   Universal-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”