Wurzelrasse

Wurzelrasse

Wurzelrasse (engl. root race) ist ein Ausdruck aus der modernen oder anglo-indischen Theosophie. Im Rahmen dieser esoterischen Lehre werden bestimmte Epochen der menschheitlichen Entwicklung als Wurzelrassen bezeichnet. Im deutschsprachigen Raum wurde diese Lehre vor allem durch Rudolf Steiner (1861–1925), den Begründer der Anthroposophie, bekannt, der sie zeitweilig übernahm und verbreitete.

Inhaltsverzeichnis

Fabre d’Olivet

Das okkultistische Konzept einer Urgeschichte mit aufeinanderfolgenden „Rassen“ geht auf den französischen Schriftsteller Antoine Fabre d’Olivet (1767–1825) zurück, der es in seiner Histoire philosophique du genre humain (1824) entwickelte.[1]

Anglo-indische Theosophie

Eine erste explizite Darstellung der theosophischen Wurzelrassen findet sich in dem Buch Esoteric Buddhism (1883) von Alfred Percy Sinnett.[2] Helena Petrovna Blavatsky griff dieses Thema in ihrem einflussreichen Werk The Secret Doctrine (1888) auf. Sie bezeichnete damit sieben Epochen der menschlichen Entwicklung auf der Erde, in denen die „siebenfältige Natur“ des Menschen entfaltet werde. Die aktuelle (fünfte) Epoche nannte sie die arische Wurzelrasse. Ihr seien die polarische, die hyperboräische, die lemurische und die atlantische Wurzelrasse vorausgegangen.[3] Erst in der lemurischen „Rasse“ habe der Mensch einen physischen Körper erhalten; in den vorherigen Epochen sei er „ätherisch-astralisch“ gewesen. Jede Wurzelrasse wird bei Blavatsky wiederum in sieben Abschnitte, die sogenannten Unterrassen, unterteilt. Die gegenwärtige „arische“ Rasse oder Epoche habe bisher fünf Abschnitte durchlaufen: die ur-indische, die ägyptisch-chaldäische, die ur-persische, die griechisch-lateinische und die aktuelle germanisch-nordische oder teutonische Unterrasse.[4]

Weitere englische Publikationen zum Thema waren The Story of Atlantis (1896) von William Scott-Elliot und The Ancient Wisdom (1898) von Annie Besant.

Rudolf Steiner

Im deutschen Sprachraum wurde die Lehre von den Wurzelrassen vor allem durch Rudolf Steiner verbreitet, der von 1902 bis 1913 die deutsche Sektion der von Blavatsky gegründeten Theosophischen Gesellschaft leitete und in seiner Aufsatz-Serie Aus der Akasha-Chronik (1904–1908) sowie in Vorträgen im selben Zeitraum Elemente der anglo-indischen Theosophie aufgriff. Die Lehre von den Wurzelrassen übernahm Steiner hauptsächlich von Scott-Elliot[5], er legte jedoch Wert darauf, die Theosophie – ab 1913 nannte er sie Anthroposophie – auf der Grundlage eigener „Geistesforschung“ eigenverantwortlich zu vertreten. In seinen späteren Publikationen tauchen die Wurzelrassen nicht mehr auf. Steiner führte an ihrer Stelle die Begriffe „Epoche“, „Hauptzeitraum“ bzw. „Zeitalter“ ein. Scott-Elliots „Unterrassen“, welche die Wurzelrassen untergliedern sollen, nannte er „Kulturepochen“, „Kulturperioden“ oder „Kulturzeitalter“.[6]

Jeder der von ihm beschriebenen Zeiträume habe laut Steiner bestimmte Entwicklungsaufgaben, wobei er auch Rassen und Völker nannte, welchen der Hauptteil dieser Aufgaben zukomme. So obliege es beispielsweise den Ariern – unter denen er anders als die moderne Ethnologie und anders auch als beispielsweise die Nationalsozialisten – „unsere gegenwärtige Kulturmenschheit“ verstand, „die Denkkraft [...] zu entwickeln“.[7] Später differenzierte er diese Lehre noch weiter aus, indem er einzelnen Völkern bestimmte „Missionen“ zuordnete.[8]

Die Koppelung von Entwicklungszeiträumen an einzelne Rassen als Träger der Kulturen ließ Steiner für vergangene Zeiträume gelten, für zukünftige wies er sie zurück. Er betonte, dass die zunehmende Individualisierung des Menschen sich so weiter entwickeln werde, dass in Zukunft keine Reste von biologischen Bluts- und Rasse-Zusammenhängen mehr vorhanden seien.[9] An anderer Stelle ging er so weit, dem Begriff Rasse im Sinne einer festen Zugehörigkeit des einzelnen Menschen zu einer abgegrenzten Gruppe schon für die Gegenwart die Berechtigung abzusprechen. Was mit ihm heute noch verknüpft sei, seien Überbleibsel prähistorischer Zeiten.[10]

Steiners Beschreibungen der Wurzel- und Unterrassen der Menschheit fielen dabei aber durchaus nicht immer wertungsfrei aus.[11] Das ist von besonderer Relevanz für die heutige Kritik an seiner Lehre, weil er, im Widerspruch zu seiner Behauptung der Obsoleszenz des Blut- und Rassebegriffs, nicht darauf verzichtete, Beziehungen zwischen diesen und in der Gegenwart bestehenden Völkerschaften herzustellen. Damit übertrug er – zum Teil sogar explizit – seine Wertungen auf letztere.[12] Der Historiker Helmut Zander sieht Steiners Werk deshalb als „von einer nicht systematisierten oder hermeneutisch integrierten Ambivalenz gekennzeichnet, in der Unvereinbares und Widersprechendes stehengeblieben ist“. So käme es vor allem auf den Leser an, „ob die Anthroposophie rassistisch interpretiert wird oder nicht“.[13]

Siehe auch: Anthroposophie#Kosmische Evolution, Menschheitsentwicklung und Kulturepochen

Rezeption in der Ariosophie

Blavatskys nichtchristliche Perspektive und ihr gnostischer Elitarismus bezüglich Rassen, die Zugang zu übermenschlicher Weisheit hätten, standen laut Nicholas Goodrick-Clarke im Einklang mit der völkischen Mystik der Ariosophie sowie deren aggressivem Nationalismus. Ihr zyklisches Geschichtsbild beinhaltete eine Abwertung besonders der Lemurier, deren Rassenmischung nicht-menschliche Ungeheuer hervorgebracht habe.[14] Dieser (implizite) Rassismus wurde etwa in der Theozoologie eines Jörg Lanz von Liebenfels (1905) sowie später durch James H. Madole und seine National Renaissance Party (1960er/70er Jahre) in den USA aufgegriffen und gesteigert.[15]

Kritik

Blavatsky und Steiner beriefen sich auf okkulte Quellen oder eigene „Hellsichtigkeit“ und müssen sich somit den Vorwurf des Obskurantismus und der Pseudowissenschaftlichkeit gefallen lassen. Steiner erhob zwar den Anspruch der Wissenschaftlichkeit; dieser ist aber bereits da umstritten, wo er ihn in erkenntnistheoretischen Schriften explizit erläuterte, ganz zu schweigen von seiner impliziten Anerkennung als Beleg für die oben wiedergegebenen Behauptungen.

Aufgrund ihrer dezidierten Bewertung von Rassen und Völkern – sowohl real existierender, als auch angeblicher historischer – wird die Wurzelrassenlehre von manchen Kritikern als rassistisch bezeichnet[16], während etwa Helmut Zander in Bezug auf die Anthroposophie von „rassistischen Elementen“ spricht, aber Steiners Haltung insgesamt als ambivalent beschreibt.[17] Die Auseinandersetzung mit ihr und die Frage ihrer Gewichtung innerhalb der Weltanschauungssysteme der Theosophie und der Anthroposophie gilt als wesentlich für die Beurteilung einer eventuell rassistischen Ausrichtung beider okkulter Lehren.

Siehe auch: Anthroposophie#Rassismusvorwürfe

Literatur

Primärquellen

  • Alfred Percy Sinnett: Esoteric Buddhism, London 1883
    • deutsch: Die esoterische Lehre oder Geheimbuddhismus. Leipzig 1884; Neuausgabe: Roller, Langen 2005, ISBN 3-923620-19-5
  • Helena Petrovna Blavatsky: The Secret Doctrine, 1888
    • deutsch: Die Geheimlehre. 4 Bände. Reprint: Esoterische Philosophie, Hannover 1999, ISBN 3-924849-51-X
  • Rudolf Steiner: Aus der Akasha-Chronik (Aufsätze 1904–1908). Steiner, Dornach 1995, ISBN 3-7274-5708-2

Sekundärliteratur

  • Eduard Gugenberger, Roman Schweidlenka: Die Lehre von den Wurzelrassen. In: Mutter, Erde, Magie und Politik. Zwischen Faschismus und neuer Gesellschaft. Neuausgabe: Packpapier, Osnabrück 2005, S. 138–142, ISBN 3-931504-39-5
  • Helmut Zander: Die Geschichte der Menschheit und ihrer Rassen. In: Anthroposophie in Deutschland, Band I. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 624–637, ISBN 978-3-525-36753-7

Weblinks

Einzelnachweise

  1. James Webb: Die Flucht vor der Vernunft. Marix, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-86539-213-8, S. 415f
  2. Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland, Band I, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, S. 628–631
  3. Eduard Gugenberger, Roman Schweidlenka: Mutter Erde – Magie und Politik zwischen Faschismus und neuer Gesellschaft, Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1987, S. 139
  4. Gugenberger & Schweidlenka, S. 140
  5. Zander 2007, S. 628f
  6. So im Kapitel „Die Weltentwickelung und der Mensch“ in seiner Geheimwissenschaft im Umriss (1910)
  7. Rudolf Steiner: Aus der Akasha-Chronik. Dornach 1986, S. 32f
  8. Rudolf Steiner: Die Mission einzelner Volksseelen, Vortragszyklus von 1910. 5. Auflage, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1982, ISBN 3-7274-1210-0
  9. „Es wird dahin kommen, dass alle Rassen- und Stammeszusammenhänge wirklich aufhören. Der Mensch wird vom Menschen immer verschiedener werden. Die Zusammengehörigkeit wird nicht mehr durch das gemeinsame Blut vorhanden sein, sondern durch das, was Seele an Seele bindet. Das ist der Gang der Menschheitsentwickelung.“ Rudolf Steiner: Die Theosophie des Rosenkreuzers, Vortragszyklus von 1907. 7. Auflage, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1985, ISBN 3-7274-0990-8, S. 129
  10. „Deshalb sprechen wir auch von Kulturzeitaltern im Gegensatz zu Rassen. Alles das, was etwa verknüpft ist mit dem Rassenbegriff, ist noch Überbleibsel des Zeitraumes, der dem unseren vorangegangen ist, des atlantischen. Wir leben im Zeitraum der Kulturepochen. (...) Heute hat schon der Kulturbegriff den Rassenbegriff abgelöst.“ Rudolf Steiner: Die Apokalypse des Johannes, Vortragszyklus von 1908. 7. Auflage, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1985, ISBN 3-7274-1040-X, S. 69
  11. So etwa in Aus der Akasha-Chronik, 1986, S. 34ff
  12. ebd., S. 43
  13. Helmut Zander, Sozialdarwinistische Rassentheorien aus dem okkulten Untergrund des Kaiserreichs, in: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, hg. v. Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. Saur-Verlag, München 1996, ISBN 3-598-11241-6
  14. Nicholas Goodrick-Clarke: The Occult Roots of Nazism. New York University Press 1992, S. 31, 21
  15. Nicholas Goodrick-Clarke: Im Schatten der Schwarzen Sonne. Arische Kulte, esoterischer Nationalsozialismus und die Politik der Abgrenzung. Marix, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-86539-185-8, S. 154–183
  16. Gugenberger & Schweidlenka, S. 138–142; Peter Bierl: Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister – Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1999, S. 85ff
  17. Zander 1996; Zander 2007, S. 631–637; siehe auch Ralf Sonnenberg: „... ein Fehler der Weltgeschichte“? Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht Rudolf Steiners bei haGalil, 2009

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