Wilhelm Harster

Wilhelm Harster

Wilhelm Harster (* 21. Juli 1904 in Kelheim (Bayern); † 25. Dezember 1991 in München) war ein deutscher Jurist und hochrangiger NS-Beamter. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Harster als Oberregierungsrat im bayerischen Innenministerium tätig. Als Leiter der Gestapo in Innsbruck, Österreich, dann vor allem als Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) in den Niederlanden (15. Juli 1940 bis 28. August 1943) und in Italien (9. November 1943 bis 10. Mai 1945 /Gefangennahme) war er für die Deportation Zehntausender Juden in die Vernichtungslager verantwortlich. Harster wurde in zwei Prozessen, in den Niederlanden (Bijzonder Gerechtshof / Sondergerichtshof in Den Haag 23. März 1949) und in Deutschland ( Münchener Landgericht II, 24. Februar 1967) für seine Verbrechen zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt, beide Male jedoch frühzeitig wieder begnadigt. In der SS bekleidete Harster zuletzt Rang eines SS-Gruppenführers, in der Polizei des NS-Staates den eines Generalleutnants.

Inhaltsverzeichnis

Frühe Jahre

Wilhelm Harster wurde 1904 als Sohn des Regierungsassessors (Kgl. Bezirksamtsassessor) Theodor Harster in Kelheim (Niederbayern) geboren.

Wilhelm Harster wuchs somit von Kindesbeinen an – wie er später sagte – in „eine(r) gewisse(n) Umgebung kriminalistischer Arbeiten“ auf.[1]

Harster besuchte ab 1910 die Volksschule in München, wurde 1913 am humanistischen Ludwigsgymnasium, München aufgenommen. Der Vater meldete sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs freiwillig zu den kaiserlichen Streitkräften (Oberleutnant der Landwehr / Komp.-Führer im 17. Bayerischen Reserve-Inf.-Reg.). Er fiel gleich in der Anfangsphase des Krieges, am 1. November 1914 bei Wijtschate (Wytschaete) in Flandern, Belgien (Erste Flandernschlacht oder Ypernschlacht). Wilhelm Harster ging weiter zum Gymnasium, machte 1922 sein Abitur. Noch während seiner Schulzeit, gerade 16 Jahre alt, trat er 1920 dem rechtsextremen, paramilitärischen Freikorps Oberland bei. Er gehörte – nach der auf Druck der Alliierten im Juni 1921 verfügten Auflösung der so genannten Wehrverbände – auch der Nachfolgeorganisation des Freikorps, dem Bund Oberland noch bis 1926 an.[2][3][4] Harster studiert von 1922 bis 1926 an der Universität München Rechtswissenschaften. Noch während seiner Referendariatszeit promovierte er 1927 an der Universität Erlangen zum Doktor der Rechte. Anfang 1929 bestand er sein Assessorexamen und begann am 16. Oktober 1929 als Regierungsassessor beim Polizeipräsidium in Stuttgart, war dort bei der Kriminalpolizei tätig. Am 30. September 1930 heiratete er Maria Hirsch (* 28. Dezember 1907 / Mitglied der NS-Frauenschaft). Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor: Klaus (geb. 5. August 1933) und Gerd (geb. 23. Juli 1937).

Von Hitler überzeugt, nicht zuletzt aus Karrieregründen, trat er erst der NSDAP bei (Mitgl.-Nr. 3 226 954 / Beitritt 1. Mai 1933), einige Monate später auch der SS (Mitgl.-Nr. 225 932 / Beitritt 9. November 1933).

BdS in den Niederlanden

Am 15. Juli 1940 wurde Harster zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) in den besetzten Niederlanden ernannt. Als Nachfolger von Hans Nockemann übte er dieses Amt bis Ende August 1943 aus und war in dieser Funktion mitverantwortlich für die Deportation von über 100 000 niederländischen Juden. Anfang Mai 1943 schrieb Dr. Wilhelm Harster ein Schreiben, unter anderem an die Kommandanten der in den Niederlanden eingerichteten Konzentrationslager: „Betrifft: Endlösung der Judenfrage in den Niederlanden“. Grund waren Besprechungen, die er mit Vertretern den RSHA (Reichssicherheitshauptamt) geführt hatte, sowie Weisungen, die er von seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Höheren SS und Polizeiführer (HSSPF) Hanns Albin Rauter, erhalten hatte. Harster verkündete in dem Schreiben die zukünftig zu verfolgende „Allgemeine Linie“: „Der Reichsführer SS [Himmler] wünscht, dass in diesem Jahre an Juden nach dem Osten transportiert wird, was menschenmöglich ist.“[5] Und bereits am 25. Juni 1943 meldete ein Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Reichskommissar Seyß-Inquart in einem Schreiben an seine Zentrale in Berlin Vollzug: „In einem Geheimbericht an den Reichskommissar [Seyss-Inquart] schreibt der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD [Wilhelm Harster] wie folgt: Von den ursprünglich in den Niederlanden gemeldeten 140 000 Volljuden ist nun der 100 000. Jude aus dem Volkskörper entfernt worden (genaue Zahl etwa 102 000).[6]

Nachkriegszeit

Am 10. Mai 1945 wurde Harster in Bozen von den vorrückenden britischen Truppen gefangengenommen. Bis zum Jahresende 1945 verblieb er zunächst in Lagern in Italien, wurde dann nach London gebracht und in einem Gefängnis für Kriegsverbrecher[7] bis zur Übergabe an die niederländischen Behörden am 21. August 1947 gefangen gehalten.[8]

Prozess in den Niederlanden

Nach dem Krieg wurden die Kriegsverbrechen, die Harster während seiner Zeit als BdS in den besetzten Niederlanden verübt hatte, vor einem Sondergericht (Bijzonder Gerechtshof) in Den Haag verhandelt. Ihm wurde die Vorbereitung und Durchführung der Deportation der Juden aus den Niederlanden, sowie die Mitschuld an Misshandlungen und Tötungen von Häftlingen des Durchgangslagers Amersfoort („de Boskamp“) zur Last gelegt.[9] Am 23. März 1949 wurde Harster von diesem Gericht zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt.[10] Angesichts der Tatsache, dass Harsters unmittelbarer Vorgesetzter während seiner Zeit in den Niederlanden, der HSSPF Hanns Albin Rauter, bereits am 4. Mai 1948 zum Tode verurteilt worden war, und dass in Gerichtsentscheidungen, die kurze Zeit nach der Verurteilung Harsters fielen, zwei seiner Untergebenen (Ferdinand aus der Fünten[11] und Willy Lages)[12][13] wie schon Rauter, ebenfalls zum Tode verurteilt wurden, ein äußerst mildes Urteil.

Harster erfuhr weitere Milde. Von der 12-jährigen Haftstrafe verbüßte er nur knapp die Hälfte. Am 14. Oktober 1955 wurde er aus den Niederlanden nach Deutschland abgeschoben.[10]

Bayerisches Innenministerium

Wieder in Freiheit drängte es Dr. Harster erneut in den Staatsdienst. In Bayern wurde er in einem Entnazifizierungsverfahren als Minderbelasteter eingestuft und am 27. Oktober 1956 startete er – bei der Regierung von Oberbayern als Regierungsrat eingestellt – eine hoffnungsvolle Nachkriegskarriere. Am 31. Juli 1963 wurde er zum Oberregierungsrat befördert, denn – so Der Spiegel: „Der einstige KZ-Lieferant hatte sich derweil zum Experten für Gemeindefinanzen emporgearbeitet. Kenntnisreich, liebenswürdig, betriebsam – wie ehedem erschien Wilhelm Harster als Idealbild eines Beamten.“[14]

Prozess in Deutschland

Durch die 1959 gegen Wilhelm Zoepf von der Zentralen Stelle eingeleitete Untersuchung über die Deportationen niederländischer Juden geriet auch Harster ins Blickfeld der bundesdeutschen Justiz. Nachdem die Öffentlichkeit von diesen Ermittlungen erfahren hatte, suspendierte man Harster 1963 von seinem Dienstposten in Bayern. Im Januar 1966 wurde über Harster und Zoepf die Untersuchungshaft verhängt. In dem im Januar 1967 folgenden Prozess in München waren Harster und Zoepf geständig, das Ziel der „Endlösung der Judenfrage“ gekannt und durch die Organisation der Deportationen an der Ermordung der niederländischen Juden beteiligt gewesen zu sein. Nur die Mitangeklagte Gertrud Slottke leugnete ihre Beteiligung. Der Prozess wurde einzig mit Dokumenten als Beweisen geführt, Zeugen waren keine geladen worden. Er endete mit einem Schuldspruch für Harster. Das Gericht verurteilte ihn zu 15 Jahren Haft.

Literatur

  • Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie De S.S. en Nederland. Documenten uit S.S. Archieven 1933 – 1945. 2 Bde Den Haag 1976
  • Jörg Friedrich Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik. Frankfurt a.M. 1984 (Fischer-Tb)
  • Der unentbehrliche Harster. Oberregierungsrat als Massenmordgehilfe angeklagt. In: Die Zeit, Nr. 4/1966
  • Veroffiziert. In: Der Spiegel. Nr. 38, 1963 (über die Nachkriegskarriere Harsters, online).
  • Diese Haltung. In: Der Spiegel. Nr. 5, 1967, S. 33 (über den Prozess vor dem Münchener Landgericht, online).
  • Das Verfahren vor dem Landgericht München II. ist in der bis 2011 50-bändigen Urteilssammlung Justiz und NS-Verbrechen: Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945 - 1999, Red. Fritz Bauer☨, Amsterdam Univ. Press und De Gruyter, teilweise Amsterdam Univ. Press, und Saur KG , Amsterdam, München, Berlin 1968 fortlaufend, einsehbar. Es trägt die Verfahrensnummer 645. Dieses Verfahren ist auch gegen eine Gebühr auch von der Internetseite von JuNSV abrufbar. Eine Kurzform des Urteils findet sich hier

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie De S.S. en Nederland. Documenten uit S.S. Archieven 1933–1945. 2 Bde, Den Haag 1976, S.460, F.2
  2. Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie De S.S. en Nederland. Documenten uit S.S. Archieven 1933–1945. 2 Bde, Den Haag 1976, S. 461
  3. Wehrverbände in Bayern, 1918/19–1933. In: Historisches Lexikon Bayerns
  4. Einwohnerwehren, 1919–1921. In: Historisches Lexikon Bayerns
  5. Dokumente zu Hanns Albin Rauter beim Simon Wiesenthal Center / hier: Dok. 137,138, 139
  6. Dokumente zu Hanns Albin Rauter beim Simon Wiesenthal Center / hier: Dok. 142, 143, 144
  7. Island Farm – Prisoner of War Camp: 198 / Special Camp: XI, in Bridgend, South-Wales
  8. Harster im Island Farm Camp - Erfassung persönl. Daten
  9. zu den Vorgängen im KL Amersfoort s. auch Karl Friedrich Titho und Erich Deppner
  10. a b Niederländische Strafverfahren gegen Deutsche und Österreicher wegen im Zweiten Weltkrieg begangener NS-Verbrechen. s. hier: Verfahren Lfd.Nr. NL097 – Urteil vom 23. März 1949
  11. Niederländische Strafverfahren gegen Deutsche und Österreicher wegen im Zweiten Weltkrieg begangener NS-Verbrechen. s. hier: Verfahren Lfd.Nr. NL199 – Urteil vom 27. Dezember 1949
  12. Niederländische Strafverfahren gegen Deutsche und Österreicher wegen im Zweiten Weltkrieg begangener NS-Verbrechen. s. hier: Verfahren Lfd.Nr. NL171 – Urteil vom 20. September 1949
  13. s. auch Vier von Breda
  14. Diese Haltung. In: Der Spiegel. Nr. 5, 1967, S. 33 (online).

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