Rechtswissenschaft

Rechtswissenschaft

Die Rechtswissenschaft oder Jurisprudenz (von lat. iuris prudentia) befasst sich mit der Auslegung, der systematischen und begrifflichen Durchdringung gegenwärtiger und geschichtlicher juristischer Texte und sonstiger rechtlicher Quellen. Eine sachgerechte Deutung juristischer Texte schließt eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Entstehung und der Anwendung von Rechtsquellen und Normen ein. Grundlegend für diese Arbeit ist ein Verständnis der Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie. Die vorgenannten Disziplinen werden zusammen mit der Rechtsdogmatik und Methodenlehre auch im Plural als Rechtswissenschaften bezeichnet.

Eine klassische Definition dessen, was Rechtswissenschaft ist, gibt der römische Jurist Ulpian: Rechtswissenschaft ist die Kenntnis der menschlichen und göttlichen Dinge, die Wissenschaft vom Gerechten und Ungerechten. „Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia“ (Domitius Ulpianus: Ulpian primo libro reg., Digesten 1,1,10,2). Das „Göttliche“ im Sinne des kanonischen Rechts ist zwar lange nach der Aufklärung, aber nun dennoch endgültig als Pflichtfach aus den rechtswissenschaftlichen Lehrplänen entfernt worden.

In Deutschland findet sich noch heute der Pluralbegriff Jura (lat. „die Rechte“), die Singular-Form Jus oder das lateinische Ius ist eher in Österreich und der Schweiz gebräuchlich.

Neben dem weltlichen Recht und ihrer Rechtswissenschaft gibt es noch religiös begründete Rechtswissenschaften. Das christliche Recht wird im deutschen Sprachraum oft als Kirchenrecht bezeichnet. Das Recht der katholischen Kirche ist das kanonische Recht. Mit dem Recht des Islam (Schari'a) beschäftigt sich die islamische Rechtswissenschaft (Fiqh). Neben der Theologie, Medizin und Philosophie ist die Rechtswissenschaft eine der klassischen Universitätsdisziplinen.

Inhaltsverzeichnis

Wissenschaftstheoretische Einordnung der Rechtswissenschaft

Die Rechtswissenschaft ist eine hermeneutische Disziplin. Die durch die Philosophie der Hermeneutik gewonnene Erkenntnis über die Bedingungen der Möglichkeit von Sinnverstehen wendet sie als juristische Methode auf die Exegese juristischer Texte an. Ihre Sonderstellung gegenüber den übrigen Geisteswissenschaften leitet sie, soweit sie sich mit dem geltenden Recht beschäftigt, aus der Allgemeinverbindlichkeit von Gesetzestexten ab, welche sie in Bezug auf konkrete Lebenssachverhalte in der Rechtsprechung anzuwenden hat. Unter diesem Blickwinkel lässt sich die Rechtswissenschaft auch als Erforschung von Modellen für die Vermeidung und Lösung gesellschaftlicher Konflikte verstehen.

Die hermeneutische Methode unterscheidet sie anderseits von den empirischen Wissenschaften, wie der Naturwissenschaft, der Medizin, der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, deren Ziel nicht das Verstehen von Texten ist, sondern die Erforschung von natürlichen oder sozialen Regelmäßigkeiten, welche durch Erfahrung und Beobachtung überprüfbar sind. Die Rechtswissenschaft beschäftigt sich wie die anderen Textwissenschaften (Philologie, Theologie) nicht mit objektiven Erkenntnissen über sinnlich erfahrbaren Erscheinungen.[1] Dies bleibt Nebenzweigen der Rechtswissenschaft vorbehalten, wie etwa der Rechtsphilosophie, der Rechtssoziologie und der Kriminologie.

Disziplinen

Die Teilgebiete der Rechtswissenschaft lassen sich zusammenfassen zu den exegetischen Fächern und den nicht-exegetischen Fächern (historische, philosophische oder empirische Fächer). Bei den exegetischen Fächern steht die Rechtsdogmatik ganz im Vordergrund. Bei den exegetischen nicht-dogmatischen Fächern werden insbesondere die Digestenexegese und die Exegese deutschrechtlicher Quellen betrieben. Selten werden z. B. keilschriftrechtliche Quellen (Codex Hammurabi) ausgelegt.

Die nichtexegetischen juristischen Grundlagenfächer sind oft zugleich Disziplinen von Nachbarwissenschaften, so etwa die Rechtsphilosophie, die Rechtsgeschichte und die Rechtssoziologie.

In neuerer Zeit beschäftigt sich die Rechtswissenschaft viel mit der rechtlichen Methodik und der Lehre von der Gesetzesauslegung. Weil für die juristische Exegese eine Juristische Methodenlehre von Bedeutung ist, wird diese oftmals gesondert gelehrt.

Dabei hat insbesondere die Rechtsphilosophie in der Rechtswissenschaft und im Rechtsstudium, im Vergleich zu Hochmittelalter und Renaissance, erheblich an Stellenwert verloren. Die Kriminologie, welche sich unter anderem mit empirischer Forschung beschäftigt, hat an den Hochschulen ebenfalls einen eher geringen Stellenwert.

Ein Überblick über die wichtigsten Rechtsgebiete ist im Artikel Recht enthalten.

Geschichte und Funktion der Rechtswissenschaft

Während sich die Rechtsgeschichte mit der historischen Entwicklung des Rechts selbst beschäftigt, lässt sich auch untersuchen, wie sich die Wissenschaft vom Recht im Verlauf der Geschichte entwickelt hat.

Die Frage, was Recht ist, wurde über die Jahrhunderte immer wieder unterschiedlich beantwortet. Anfangs wurde Recht gleichgesetzt mit den herrschenden Moralvorstellungen (vgl. auch Naturrecht). Später dominierte die Vorstellung, als Recht könne nur eine Regel verstanden werden, die von einer Körperschaft oder Person (i. d. R. dem „Herrscher“) erlassen wurde, die auch die Autorität zu ihrem Erlass und zur Durchsetzung hatte (Rechtspositivismus). Die historische Rechtsschule betonte demgegenüber zu Anfang des 19. Jahrhunderts wieder die gesellschaftliche und geschichtliche Verankerung des Rechts. Aus diesen und anderen Vorstellungen haben sich die heute üblichen Rechtssysteme entwickelt.

Hier sind wiederum vor allem zwei Arten von Rechtssystemen zu unterscheiden, nämlich die des kodifizierten, abstrakt definierten Rechts, und die des Fallrechts (Common Law).

Das kodifizierte Recht hat sich im Wesentlichen aus dem römischen Recht entwickelt. So war es Kaiser Justinian, der als Erster das römische Recht im Corpus Iuris Civilis zusammenstellte und damit zugleich im gesamten Römischen Reich vereinheitlichte. Auch wenn im kodifizierten Recht frühere Entscheidungen berücksichtigt werden, hat letztlich immer das Gesetzbuch und der Gesetzestext – gegebenenfalls auch Gewohnheitsrecht – die höchste Autorität. Der wichtige Bereich des Zivilrechts wurde von Napoleon überarbeitet und im Code civil neu kodifiziert. Dieser ist seitdem im französischsprachigen Raum, den ehemaligen französischen Kolonien und weiteren Ländern verbreitet. Daneben steht die deutsche Rechtstradition, die auf dem Boden des gemeinen Rechts in der Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuchs Ausdruck gefunden und ebenfalls über Deutschland hinaus ausgestrahlt hat.

Im Gegensatz dazu steht die Entwicklung der englischen Rechtstradition des Common Law. Das Recht ist hier im Grundsatz nicht kodifiziert, sondern wird von der Rechtsprechung auf Grund von Präjudizien weiterentwickelt. Dieses Rechtssystem wurde auch in den USA und anderen ehemaligen britischen Kolonien übernommen und weiterentwickelt. So gibt es in den USA eine Schule des legal realism, nach der allein das Recht ist, was die Gerichte als Recht anwenden und vollstrecken werden. Eine andere Besonderheit des US-amerikanischen Rechts ist die große Bedeutung der Schwurgerichte (vgl. Jury).

Stattdessen hat die Rechtswissenschaft beispielsweise in Deutschland eine eigenständige Funktion im Verhältnis zu Rechtsprechung. Die rechtswissenschaftliche Literatur ist ein (wirksamer und anerkannter) „Rechtsbildungsfaktor“ (zumindest im Arbeitsrecht).[2] Dies kann auch aus den Worten des Bundesverfassungsgerichtes, dass „[d]ie Gerichte […] bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen Rechtsgrundlagen ableiten [müssen], die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind“,[3] geschlossen werden.[2]

Studium

Zentraler Bestandteil der juristischen Ausbildung ist in praktisch allen Rechtskreisen das Studium der Rechtswissenschaft an einer Hochschule.

In Österreich und der Schweiz wird das rechtswissenschaftliche Studium „Jus“ genannt, da das kanonische Recht keinen verpflichtenden Inhalt des Studiums mehr darstellt.

Der Begriff „Rechtswissenschaft“ bezeichnet die Wissenschaft eines Rechts (weltlich oder kirchlich). Rechtswissenschaften bedeutet hingegen, die Wissenschaft oder das Studium beider Rechte; des kanonischen und weltlichen Rechts. Der in Deutschland umgangssprachlich gebrauchte Begriff „Jura“ für das Studium „Rechtswissenschaft“ ist irreführend. Jura kommt von lat. iura, dem Plural von ius. Also auch hier wieder die Unterscheidung zwischen einem oder beider Rechte. Somit müsste „Rechtswissenschaft“ in Deutschland – wie in Österreich und der Schweiz richtigerweise als „Jus“ bezeichnet werden und die Rechtswissenschaften inklusive des kanonischen Rechts als Jura, wobei auch diese Theorie nicht der Realität entspricht, da „Rechtswissenschaften“ als Synonym für die breitgefächerten Materien – und unabhängig vom kanonischen Recht – verwendet wird.

Juristenausbildung in Deutschland

In Deutschland gibt es derzeit 32 juristische Fakultäten[4] sowie sechs juristische Fachhochschulen.[5]

Bezeichnung

Das Studium der Rechtswissenschaft wird in Deutschland umgangssprachlich als Jurastudium bezeichnet. Der Begriff Jura wurde in diesem Zusammenhang das erste Mal an der Universität von Bologna verwendet. Er leitet sich vom lateinischen ius („das Recht“) ab; iura (Plural) sind „die Rechte“, sowohl das weltliche als auch das Kirchenrecht (kanonisches Recht), welche damals noch gleichberechtigt nebeneinanderstanden. Manche Universitäten promovieren daher auf Wunsch auch heute noch zum Doctor iuris utriusque (lat. „Doktor beider Rechte“). Wer ein Studium der Rechtswissenschaft absolviert hat, wird als Jurist bezeichnet.

Studienablauf und Abschlüsse

Staatsexamen

Beinahe jede deutsche geisteswissenschaftliche Universität bietet einen juristischen Studiengang an. Die Studienordnungen unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland, ebenso die Regelstudienzeit, die gewöhnlich viereinhalb bis fünf Jahre beträgt. Im darauffolgenden zweijährigen Referendariat erwirbt der angehende Jurist die zur Ausübung seines Berufes notwendige praktische Erfahrung. Wer in Deutschland die Zweite Juristische Staatsprüfung erfolgreich abgelegt hat, ist berechtigt, die Bezeichnung Assessor (Rechtsassessor) zu führen und wird umgangssprachlich als „Volljurist“ bezeichnet.

Erstes Staatsexamen

Das universitäre Studium der Rechtswissenschaften wird heute mit einer „Ersten juristischen Prüfung“ abgeschlossen. Allerdings enthält die erste Prüfung seit 2005 neben einem staatlichen Teil (Pflichtfachprüfung, 70 % der Gesamtnote) einen universitären Teil (Schwerpunktbereichsprüfung, 30 % der Gesamtnote) und stellt deshalb richtigerweise kein reines „Staatsexamen“ mehr dar. Genau genommen kann nur die Pflichtfachprüfung als Staatsexamen bezeichnet werden, da nur diese Prüfung von den Justizprüfungsämtern der Bundesländer gestellt und bewertet wird. Die Schwerpunktbereichsprüfung wird an den jeweiligen Universitäten abgeleistet. Die Ausgestaltung ist Sache der Bundesländer, welche jeweils Juristenausbildungs- und -prüfungsgesetze und dazu gehörige Verordnungen geschaffen haben.

Die Pflichtfachprüfung besteht je nach Bundesland aus fünf bis sieben Aufsichtsarbeiten und einer mündlichen Prüfung. Die Aufsichtsarbeiten werden zusammenhängend innerhalb von zwei Wochen direkt nacheinander geschrieben. Sind die schriftlichen Klausuren erfolgreich bestanden, erfolgt ca. fünf Monate später die mündliche Prüfung. Allerdings bestehen in der Dauer dieser Wartezeit je nach Prüfungsamt erhebliche Unterschiede.

Der Prüfungsstoff umfasst alle drei großen Rechtsgebiete des deutschen Rechts: das Zivilrecht, das öffentliche Recht und das Strafrecht. Die Problem- und Fragestellungen beinhalten im Rahmen des 1. Staatsexamens vor allem Probleme des materiellen Rechts, prozessuale Fragen des Zivilprozessrechts, des Strafprozessrechts, des Verwaltungsprozessrechts und Verfassungsprozessrecht werden aber bereits im Überblick abgefragt.

Für Pflichtfachprüfung gibt es in allen Bundesländern zwei reguläre Versuche. Als Ausnahme gilt der Freiversuch, der denjenigen Kandidaten, die direkt nach Beendigung der Regelstudienzeit (derzeit regelmäßig noch acht Hochschulsemester, mit Tendenzen zu neun Semestern) in die Prüfung gehen, im Fall des Nichtbestehens einen zusätzlichen Versuch gewährt und im Fall des Bestehens die Möglichkeit der Notenverbesserung durch erneute Ablegung der Pflichtfachprüfung gewährt. In einigen Bundesländern (bspw. Bayern und Baden-Württemberg) wird den Prüfungskandidaten aber auch nach dem ersten regulären Versuch eine Notenverbesserung, durch erneutes Ablegen der Pflichtfachprüfung gewährt.

Im Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf in Nordrhein-Westfalen besteht neben dem Freiversuch und der Notenverbesserungsmöglichkeit zudem die Möglichkeit im Rahmen des Freiversuches die Examensklausuren der drei Rechtsgebiete auf drei Semester (vom 6. bis zum 8. Semester) aufzuteilen (Abschichtung), wobei hier daher von mehreren kleinen, als von einer Pflichtfachprüfung gesprochen werden muss.[6]

Zweites Staatsexamen

Im Gegensatz zum „Ersten Examen“ bleibt das nach Abschluss der Referendarzeit erfolgende „Zweite Staatsexamen“ als echtes „Staatsexamen“ bestehen. Die gesamte Prüfung wird ausschließlich von den staatlichen Justizprüfungsämtern der einzelnen Bundesländer gestellt und bewertet.

Eine Befähigung zum Richteramt (die gleichermaßen Voraussetzung zur Zulassung als Rechtsanwalt ist) wird erst nach dem Erwerb des zweiten Staatsexamens (Großes Staatsexamen, Assessorexamen) erworben. Dem zweiten Staatsexamen geht ein zweijähriger Vorbereitungsdienst (Referendariat) voraus. Das Referendariat wird von einer weiteren theoretischen Vorbereitungsphase auf die Prüfungen begleitet. Es soll an die praktische Tätigkeit heranführen. So müssen Kurse besucht werden, die von Richtern, Staatsanwälten, Verwaltungsbeamten und Rechtsanwälten geleitet werden. Gleichzeitig werden sogenannte Stationen absolviert, in denen der Referendar einem Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt, Verwaltungsbeamten oder Ähnlichem zur praktischen Ausbildung zugeordnet wird und so Einblick in dessen Berufsalltag gewinnt. Der Status eines Rechtsreferendars ist ein öffentlich-rechtliches Ausbildungsverhältnis. Letztlich ist der Referendar Beamter des jeweiligen Bundeslandes und erhält eine sogenannte Unterhaltsbeihilfe in Höhe von durchschnittlich ca. 800 Euro netto. Die genaue Höhe variiert aber je nach Bundesland.

Diese Assessorprüfung wird bundesweit – allerdings in der Zuständigkeit der einzelnen Bundesländer – als Klausurenexamen durchgeführt. Die Referendare haben zwischen sieben (Saarland) und elf (Bayern) Klausuren zu schreiben. Etwa vier Monate später schließt das Referendariat mit einer mündlichen Prüfung ab. Neben dem materiellen Stoff des ersten Examens umfasst das zweite Examen auch das Prozessrecht, wobei akademische Streitstände gegenüber dem ersten Examen an Stellenwert verlieren und die aktuelle Rechtsprechung mehr in den Vordergrund tritt.

Durch das Bestehen des zweiten Staatsexamens wird gleichzeitig die Befähigung für den höheren Dienst in der allgemeinen und inneren Verwaltung erworben (Eingangsamt: Regierungsrat). Auch die Tätigkeit eines Staatsanwalts setzt die Befähigung zum Richteramt voraus (eine Ausnahme stellt der dem gehobenen Dienst angehörende Amtsanwalt beim Amtsgericht dar). Charakteristisch für das deutsche Berechtigungswesen ist, dass auch für bestimmte Berufe außerhalb des öffentlichen Dienstes die Befähigung zum Richteramt erworben werden muss. Das gilt für den Beruf des Rechtsanwalts (einschließlich des Syndicus-Anwalts) und des Notars. Für die Tätigkeit eines Justiziars ist hingegen eine besondere Berechtigung nicht erforderlich.

Die Ausbildung zum sog. Volljuristen dauert mit Studium und Referendariat inklusive Zwischenphasen (Wartezeiten auf Examensergebnisse, Wartezeiten auf Beginn des Referendardienstes) mindestens sieben Jahre.

Einstufige Ausbildung

Zur einstufigen Ausbildung in den 1970er und 80er Jahren siehe den Hauptartikel Einstufige Juristenausbildung.

Staatliche Prüfungsämter

Die Prüfungsämter (Justizprüfungsämter) für das Erste Staatsexamen werden in den einzelnen Bundesländern innerhalb der Oberlandesgerichte (etwa Nordrhein-Westfalen) oder als Landesjustizprüfungsamt (z. B. Niedersachsen). An den Prüfungen werden als Prüfer Juristen im staatlichen Dienst (Richter, Staatsanwälte, Verwaltungsjuristen), Rechtsanwälte sowie Professoren beteiligt. Im ersten Staatsexamen wirken sehr häufig Professoren als Prüfer mit. Das Zweite Staatsexamen wird von den Landesjustizprüfungsämtern abgenommen, die bei den jeweiligen Justizministerien gebildet werden. Bei den Prüfungen im zweiten Staatsexamen sind die Prüfer Richter, Staatsanwälte, Beamte, Notare oder Rechtsanwälte.

Benotungssystem

Die Notenstufen bei der Einzelbewertung mit Aufgliederung in ein Punktesystem und zugehöriger Definition lauten:

  • ungenügend (0 Punkte) (eine völlig unbrauchbare Leistung),
  • mangelhaft (1–3) (eine an erheblichen Mängeln leidende, im ganzen nicht mehr brauchbare Leistung),
  • ausreichend (4–6) (eine Leistung, die trotz ihrer Mängel durchschnittlichen Anforderungen noch entspricht),
  • befriedigend (7–9) (eine Leistung, die in jeder Hinsicht durchschnittlichen Anforderungen entspricht),
  • vollbefriedigend (10–12) (eine über den durchschnittlichen Anforderungen liegende Leistung),
  • gut (13–15) (eine erheblich über den durchschnittlichen Anforderungen liegende Leistung) sowie
  • sehr gut (16–18) (eine besonders hervorragende Leistung).

Bei der Gesamtbewertung wird der Durchschnitt herangezogen, wobei die Zuordnung der erreichten Punktzahl zu den Notenstufen abweicht: Bis zu einem Durchschnitt von 3,99 Punkten ist die Prüfung nicht bestanden, dann folgen:

  • ausreichend (4–6,49),
  • befriedigend (6,5–8,99),
  • vollbefriedigend (9–11,49),
  • gut (11,5–13,99) und
  • sehr gut (14–18).

Sowohl die Durchschnittsnoten als auch die Durchfallquote fällt bei den Rechtswissenschaften deutlich schlechter aus als in anderen Studiengängen.[7] Überwiegend werden für die bestandenen Prüfungen die Noten „ausreichend“ oder „befriedigend“ vergeben. Nur zirka 15 % der Absolventen erreichen die Notenstufen „vollbefriedigend“ oder besser. Die Durchfallquote im ersten juristischen Staatsexamen beträgt bundesweit zirka 30 %, im zweiten Staatsexamen scheitern etwa zehn Prozent der Kandidaten beim ersten Anlauf. Die Zahl der nicht bestanden Prüfungen im 1. Staatsexamen lag im bundesweiten Durchschnitt 2007 sogar bei fast einem Drittel (31,4 %).[8] Bei der Bewertung kommt es auch zu Unterschieden zwischen den verschiedenen Bundesländern: So erreichten bspw. im 1. Examen 2008 nur knapp 9 % der Teilnehmer in Sachsen, aber 22 % der Teilnehmer in Hamburg ein Prädikatsexamen.[9]

In der deutschen Juristenausbildung gilt ein Staatsexamen ab einer Bewertung mit „vollbefriedigend“, in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen schon mit „befriedigend“, als Prädikatsexamen. Ein Prädikatsexamen mit mindestens „vollbefriedigend“ wird vom öffentlichen Dienst oftmals als Einstellungsvoraussetzung verlangt.

Diplom, Bachelor und Master

Viele Universitäten haben nach dem Bestehen des ersten Staatsexamens ein Diplomierungsverfahren auf Antrag eingerichtet. An diesen Universitäten wird nach dem ersten juristischen Examen zusätzlich der akademische Grad „Diplom-Jurist“ (Dipl.-Jur.) oder „Magister juris“ (Mag. jur.) verliehen.

Seit einigen Jahren bieten auch verschiedene Fachhochschulen medienrechtliche und wirtschaftsrechtliche Studiengänge an, die mit dem akademischen Grad des Diplom-Informationsjuristen kurz ebenfalls Dipl. jur. bzw. Diplom-Wirtschaftsjuristen abschließen. Der Studiengang Informationsrecht kann an der Hochschule Darmstadt belegt werden. Hier wurde dieser 2001 erstmals in Deutschland etabliert. Überdies kann Jura an zahlreichen Universitäten im Nebenfach eines Bachelor-, und Master- sowie Magisterstudiengangs als „Teilgebiete des Rechts“ gewählt werden. In der Regel schließt das Nebenfachstudium mit einer Klausur und/oder einer halbstündigen, mündlichen Prüfung ab.

Es ist teilweise auch möglich, nach einem dreijährigen Studium den Baccalaureus Juris (bac. jur.) und nach einem weiteren Jahr den Magister Juris (Mag. jur.), meist aber LL.M. genannt, zu erwerben. Der Weg zu den klassischen juristischen Berufen wie Rechtsanwalt oder Richter wird dadurch jedoch nicht eröffnet. Der Masterabschluss an einer Fachhochschule gilt als Laufbahnbefähigung für den höheren Dienst, wenn dies vorher in der Akkreditierungsurkunde für den jeweiligen Masterstudiengang von der zuständigen obersten Kultusbehörde im Benehmen mit der jeweiligen obersten Innenbehörde und gegebenenfalls erforderlichen Dienstbehörde festgestellt wurde.[10]

Inhalt des Studiums

Schwerpunkt der Juristenausbildung ist die juristische Dogmatik. Am Anfang steht das Grundstudium, das Vorlesungen über die Exegese des Bürgerlichen Gesetzbuchs, des Handelsgesetzbuchs, der Zivilprozessordnung, des Strafgesetzbuchs, der Strafprozessordnung, des Grundgesetzes, des Verwaltungsverfahrensgesetzes und der Verwaltungsgerichtsordnung beinhaltet. Dazu kommen noch Grundlagenfächer, die das allgemeine Verständnis fördern (z. B. Digestenexegese, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie sowie Rechtssoziologie). Eindeutiger Schwerpunkt liegt auf der BGB-Exegese, dem StGB und dem VwVfG mit der VwGO. Diese Vorlesungen sind oftmals mit einzelnen Abschlussklausuren und umfangreichen schriftlichen Rechtsgutachten, die zu Hause angefertigt werden (Hausarbeiten) zu beenden. Hieran schließt sich eine zweite Phase an, gekennzeichnet von den sogenannten (großen) „Übungen“, die ebenso von Klausuren und umfassenden Hausarbeitsgutachten auf fortgeschrittenem Niveau begleitet werden. Im Anschluss hieran verbringt jeder Student üblicherweise noch etwa ein Jahr mit Examensvorbereitungen, meist begleitet von dem Besuch eines Repetitoriums. In vielen Studienordnungen ist mittlerweile auch die Wahl eines Schwerpunktbereichs vorgesehen, welcher vertiefte Kenntnisse in einem besonderen Rechtsgebiet vermitteln soll. Auch der Erwerb von fachspezifischen Fremdsprachenkenntnissen ist in manchen Bundesländern vorgesehen.

Jura für das Lehramt am Gymnasium

Einige Bundesländer, etwa Thüringen und Bayern, bieten an Universitäten spezielle juristische Studiengänge an, mit dem Ziel, in Kombination mit einem anderen Unterrichtsfach und pädagogisch-didaktischen Studienanteilen, das Fach Recht bzw. Rechtskunde am Gymnasium und Fachgymnasium, häufig mit wirtschaftswissenschaftlichen Bezügen zu unterrichten.[11] Innerhalb des universitären Studiengangs Politik bzw. Sozialkunde für das Lehramt am Gymnasium sind etwa 25 % der Inhalte in allen Bundesländern überwiegend juristisch. Das Studium wird, je nach Bundesland, mit dem Master of Education (M.Ed.) für das Lehramt am Gymnasium bzw. der Sekundarstufe II, dem Ersten Staatsexamen für das höhere Lehramt oder dem Ersten Staatsexamen für das höhere Lehramt an berufsbildenden Schulen abgeschlossen. Ein Wechsel vom regulären Jura- zum Lehramtsstudium ist möglich. Der Abschluss berechtigt in allen Fällen zur Promotion mit dem Ziel der Erlangung eines Doktorgrades sowie zur Aufnahme des Vorbereitungsdienstes als Studienreferendar(in) an einem staatlichen Studienseminar.

Jura in anderen Studiengängen

Einige Universitäten und Fachhochschulen integrieren rechtswissenschaftliche Inhalte in andere Studiengänge, etwa in das Fach Geschichtswissenschaft, indem dort Fragen der historischen Rechtsvergleichung und Römisches Recht behandelt werden. An der FU Berlin werden innerhalb der Neueren Philologien im Bereich Landeskunde auch die Rechtssysteme und Rechtskulturen einzelner Zielsprachenländer, etwa Spaniens oder in Lateinamerika, thematisiert. Entsprechende Lehrveranstaltungen in den Fächern Spanisch und Portugiesisch finden am zur FU gehörenden Lateinamerika-Institut (Berlin) statt. Dabei wird der Stoff überwiegend enzyklopädisch und nicht kasuistisch („fallorientiert“), wie im normalen Jurastudium, vermittelt.

Ebenso spielen juristische Fragestellungen in Fächern wie Medizin (z. B. Arzthaftung), Pharmazie (z. B. Betäubungsmittelgesetz) Architektur (z. B. Baurecht), Sozialpädagogik (z. B. Familienrecht, Ausländerrecht) oder (Wirtschafts-)Informatik (z. B. Datenschutzrecht) eine Rolle.

Berufsaussichten

Die Berufsaussichten sind derzeit recht uneinheitlich. Die Examensnoten spielen dabei eine überragende Rolle. Während die besten 10–15 % in der Regel gute bis sehr gute Berufsaussichten haben, ist der juristische Arbeitsmarkt für Absolventen mit ausreichenden bis befriedigenden Examina (zirka 70–85 %) recht schwierig. Für eine Anstellung im Öffentlichen Dienst sind grundsätzlich zwei Prädikatsexamen erforderlich, ebenso als Zulassung für eine Promotion (Doktor). Rund 75 % eines Absolventenjahrgangs strebt den Anwaltsberuf an, allerdings oft eher deshalb, weil andere Berufszweige aufgrund nicht ausreichender Noten verschlossen bleiben. Seit 1996 hat sich die Zahl der Anwälte bundesweit auf 155.679 (Stand: 2011) fast verdoppelt. Die Tendenz ist weiter steigend. Im Schnitt kommt in der Bundesrepublik auf 516 Einwohner bzw. potenzielle Mandanten ein Anwalt (Stand: 2011). Im Schnitt verdienen in der Bundesrepublik Anwälte, die als freie Mitarbeiter in einer Kanzlei tätig sind, 20.400 Euro brutto im Jahr (Stand: 2010). Rund 4.800 Euro Jahresgewinn erzielt ein Anwalt, der sich nach dem Examen selbstständig macht, in den ersten drei bis fünf Berufsjahren (Stand: 2011).[12]

Bei der Suche nach beruflichen Alternativen konkurrieren Jura-Absolventen häufig, etwa im Journalismus, im Verlagswesen, in der Öffentlichkeitsarbeit, im Personalwesen oder Projektmanagement, mit Akademikern anderer Studienrichtungen.

Etwas entspannter zeigt sich die Arbeitsmarktsituation im Allgemeinen für Absolventen, die Jura als Nebenfach (etwa in einem wirtschafts-, sozial- oder ingenieurwissenschaftlichen Studiengang) oder für ein Lehramt studiert haben.

Juristenausbildung in Österreich

In Österreich schließt man das Diplomstudium der Rechtswissenschaften, das eine Regeldauer von acht bzw. eine Durchschnittsdauer von mehr als zwölf Semestern hat, mit dem akademischen Grad Mag. iur. ab, der auch im Sprachgebrauch geführt und verwendet wird. Die juristischen Abschlussprüfungen werden in Österreich von den Universitäten gestellt und bewertet. Ein juristisches Staatsexamen wie in Deutschland gibt es in Österreich nicht. Dieses Studium wird an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Graz, Innsbruck, Linz, Salzburg und Wien angeboten. Seit dem Wintersemester 2006/2007 bietet jedoch auch die Wirtschaftsuniversität Wien ein Studium des Wirtschaftsrechts an, das gemäß dem Bologna-Prozess nach sechs Semestern mit „Bachelor of Laws (WU)“, Kurzform: „LL.B. (WU)“,[13] oder auch nach weiteren vier Semestern (Masterstudium) mit dem Titel „Master of Laws“, abgekürzt „LL.M. (WU)“,[14] abgeschlossen werden kann. Die Kombination aus „LL.B. (WU)“ und „LL.M. (WU)“ berechtigen ebenso zur Ergreifung eines traditionellen juristischen Berufs.[15]

Im Zuge dieses neuen Studienplans ist auch die österreichische Ausbildung zum Rechtsanwalt in Diskussion geraten bzw. der Zugang zu dieser. Nach dem Abschluss eines Diplomstudiums umfasst diese Ausbildung derzeit weitere 5 Jahre (60 Monate), die jedenfalls 5 Monate Praxis bei Gericht und 36 Monate praktische Verwendung bei einem Rechtsanwalt im Inland zu umfassen haben; die restlichen 15 Monate können beispielsweise durch Assistententätigkeit, Doktoratsstudium (maximal 6 Monate) oder Tätigkeit bei einer Behörde oder EU-Institution substituiert werden, wobei die Gesamtdauer von 60 Monaten nicht unterschritten werden kann. Nach einem Großteil dieser Zeit sollte man die Rechtsanwaltsprüfung an einem der vier Oberlandesgerichte ablegen, um nach Ablauf in die Liste der Rechtsanwälte bei der Rechtsanwaltskammer[16] eingetragen werden zu können.

Juristenausbildung in der Schweiz

Die Schweiz besitzt neun juristische Fakultäten.[17] Die juristischen Abschlussprüfungen werden in der Schweiz von den Universitäten gestellt und bewertet. Ein juristisches Staatsexamen wie in Deutschland gibt es in der Schweiz nicht. In der Schweiz wurde bis zum Jahr 2003 das Studium mit dem Lizentiat, sog. lic.iur., abgeschlossen. Durch die Bologna-Reform wurde die Titelvergabe dem internationalen Studium angepasst.

Kritik an der derzeitigen Juristenausbildung

Seit geraumer Zeit wird in Deutschland Kritik an der universitären Ausbildung im Bereich der Rechtswissenschaft insbesondere dahingehend geübt, dass diese die Studierenden nicht in zureichender Weise auf das juristische Staatsexamen vorbereite. Dies zeige sich vor allem in der Existenz privatwirtschaftlicher Repetitorien, bei denen die meisten Studenten Kurse zur Vorbereitung auf das Staatsexamen buchen. Worin die Gründe hierfür zu suchen sind, ist umstritten. Vorwürfen, die entsprechenden universitären Lehrveranstaltungen zur Examensvorbereitung entbehrten zureichender pädagogischer Qualität, wird von Seiten der rechtswissenschaftlichen Fakultäten mit dem Argument entgegengetreten, die Repetitorien würden die Examensangst der Studierenden ausnutzen und Einzelwissen „pauken“, wo Grundlagenwissen eine bessere Vorbereitung auf das Examen darstelle.[18] Die Universität biete die insoweit zur Examensvorbereitung notwendigen Veranstaltungen selbst an. Nach wie vor besuchen jedoch trotzdem ca. 70 % der deutschen Jurastudierenden neben dem Studium ein oder mehrere Repetitorien.

Weiterhin bemängeln Kritiker, dass die Kenntnisse in Ökonomie und insbesondere Volkswirtschaftslehre bei Juristen im Studium kaum vermittelt werden. Allerdings sind gerade gesetzgeberische Entscheidungen keineswegs dem Juristen vorbehalten, sondern werden in der Demokratie von den Parlamenten vorgenommen. An einigen Fachhochschulen und Universitäten ist als Reaktion auf diesen Mangel in einem ersten Schritt der Studiengang des Wirtschaftsjuristen entstanden, der allerdings nur für eine Tätigkeit in einem Unternehmen befähigt.

Kritisiert wird auch, dass die Rechtsdogmatik im Studium einen zu breiten Raum einnehme. Die Exegese anderer Quellen, wie die Digestenexegese, träten zu weit in den Hintergrund. Dies gelte auch für die Grundlagenfächer wie die Rechtsphilosophie, die Rechtsgeschichte oder die Rechtssoziologie, die im Jurastudium nur am Rande behandelt werden, was ein kritisches, die Gesetze reflektierendes Studium erschwere, werfen sie doch Fragen auf, ohne die eine wissenschaftlich-korrekte Auslegung und Einordnung von Rechtsnormen schwer möglich ist. Im Gegensatz zu gerichtlicher Rechtsanwendung muss Rechtswissenschaft gerade eine Reflexion über den Gesetzestext hinaus leisten, nur so können der Entstehungsprozess, die gesellschaftliche Funktion (wie die Sozialkontrolle bei Strafrechtsnormen) und historische Bezüge erfasst und dargelegt werden.[19] Dem lässt sich jedoch entgegenhalten, dass die Rechtswissenschaft im Schwerpunkt die Wissenschaft vom geltenden Recht ist. Als solche hat sie aber nur dann Legitimation und Überzeugungskraft, wenn sie dem Gesetz – und dem darin ausgedrückten demokratisch gebildeten Willen – verpflichtet ist und möglichst keine eigene Wertung, auch nicht Ergebnisse gesetzesferner Reflexion, hinzufügt. Die damit angesprochene zentrale Bedeutung der Dogmatik des Rechts schließt es keineswegs aus, auch die geschichtliche Entwicklung der Rechtsnormen in Betracht zu ziehen, wie das Beispiel v. Savignys zeigt.

Auch hinsichtlich des berufpraktischen Teils, welcher im Rahmen des Referendariats vermittelt werden soll, besteht zahlreiche Kritik. In Anbetracht dessen, dass die meisten ausgelernten Juristen später Anwälte werden, ist es schwer verständlich, weshalb ein Durchlaufen einer Gerichtsstation und einer Behördenstation grundsätzlich für jeden Referendar erforderlich ist und nicht eine Verfestigung der anwaltlichen Tätigkeiten stattdessen über einen längeren Zeitraum trainiert werden kann. Insofern ist eine breite Ausbildung gegeben, welche letztlich aber nur einen kleinen Einblick in die nach dem Examen folgende Arbeit geben kann und einer tatsächlichen Berufsvorbereitung, wie dies etwa bei einer frühzeitigen Spezialisierung gegeben wäre, wohl so nicht gerecht werden kann.

Grenzen und Defizite der Rechtswissenschaft

Versteht man die Rechtswissenschaft als Wissenschaft vom geltenden Recht, so konzentriert sie sich dabei im Wesentlichen auf die Interpretation von Gesetzen und der aus den Gesetzen abgeleiteten Rechtsprechung und will daraus eine Erkenntnis über das geltende Recht gewinnen. Dies findet seine Grenzen zum einen in der Menge der Rechtsnormen und zum anderen in der fehlenden Kenntnis der tatsächlichen Wirkungen der Rechtsnormen.

In einem modernen, hochkomplexen Staat gibt es jedoch eine nicht mehr überschaubare Menge von Rechtsnormen (vgl. auch Staatsrecht, Völkerrecht). Es gibt in Deutschland mehr als 5.000 Gesetze und Verordnungen des Bundes[20], zu denen die Gesetze und Verordnungen der 16 Bundesländer und die Rechtsverordnungen und Satzungen der Bezirke, Kreise, Verwaltungsgemeinschaften und Gemeinden hinzukommen, ganz zu schweigen von dem nicht zu quantifizierenden Volumen an Verwaltungsrichtlinien (wie z. B. die TA Luft, die TA Lärm) und den von Ausschüssen und Verbänden geschaffenen Normen, die faktisch ebenfalls Gesetzeskraft haben (wie z. B. die VOB, die DIN-Normen, die zahlreichen Richtlinien und Empfehlungen der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) für den Straßenbau, die LAGA usw.). Zudem regeln viele dieser Normen sehr spezifische und hochtechnische Sachverhalte und sind nur noch von Spezialisten, aber nicht mehr von fachfremden Juristen oder gar von Laien zu verstehen. Obendrein wenden sich zahlreiche dieser Normen an den fachtechnischen Spezialisten, dem die Gedankengänge eines Juristen fremd sind, was zu erheblichen Verständigungsproblemen zwischen dem Spezialisten und dem Juristen führen kann. Diese Normen sind häufig keineswegs eindeutig, widerspruchsfrei oder lückenlos, was nicht selten aber nicht bei der reinen Lektüre, sondern erst in der praktischen Anwendung erkennbar wird. Zudem gibt es Normen, die scheinbar eine sinnvolle Regelung enthalten, in der Praxis aber ihr Ziel weitgehend verfehlen und dafür erhebliche negative Auswirkungen entfalten (z. B. das Vergaberecht, das die Korruption kaum verhindert, aber die Vergabe erheblich teurer und langwieriger gemacht hat).

Die Rechtswissenschaft vermag die Auswirkungen der Rechtsnormen in der Realität nur durch die Sicht der staatlichen Rechtsprechung zu erkennen, da sie so gut wie keinerlei rechtstatsächliche Forschungen betreibt. Aber nur ein vergleichsweise winziger Teil der alltäglichen Rechtsanwendung führt zu Auseinandersetzungen vor Gericht. Über einen großen Teil des rechtlich relevanten menschlichen Verhaltens wird nicht gestritten, auch wenn das Verhalten nicht mit der juristischen Theorie übereinstimmt. Ein anderer beträchtlicher Teil wird aufgrund der wirtschaftlichen oder sozialen Machtverhältnisse außergerichtlich geregelt. Schließlich gibt es große Bereiche der Wirtschaft, in denen Streitigkeiten bewusst von staatlichen Gerichten ferngehalten und allenfalls von Schiedsgerichten entschieden werden, die weder ihre Verfahren noch ihre Entscheidungen publik machen. Das Studium der Rechtsprechung vermittelt somit nur einen winzigen Ausschnitt aus der Wirklichkeit der Rechtsanwendung. Obendrein gibt es Urteile, die logisch und richtig und sinnvoll erscheinen, in der Praxis aber keineswegs das beabsichtigte Ziel erreichen, sondern im Gegenteil negatives und eigentlich nicht schutzwürdiges Verhalten legalisieren (z. B. die Stärkung des Auskunftsrechts von Aktionären, die kaum je einem einzelnen Aktionär geholfen hat, es dafür aber ermöglicht, die Beschlussfassung auf Hauptversammlungen mit endlosen, oft unerheblichen Fragen zu torpedieren).

Versteht man unter dem geltenden Recht nicht nur die Summe der Normen, die das menschliche Verhalten in einem bestimmten Gebiet zu regeln beabsichtigen, sondern auch ihre Rechtsfolgen, also die tatsächlichen Auswirkungen dieser Normen bzw. die Art und Weise, wie diese Normen von den Betroffenen verstanden und angewendet werden, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass die Rechtswissenschaft nur die Oberfläche des geltenden Rechts zu erkennen vermag und gelegentlich auch falsche Schlüsse daraus zieht.

Literatur

  • Aristoteles: De re publica Atheniensium (Politik und Staat der Athener), Zürich [u. a.]: Artemis 1955.
  • Platon: Nomoi, Berlin: Akademischer Verlag 1992.
  • Platon: Politeia (Der Staat), Stuttgart: Körner 1973.
  • Thomas von Aquin: Summa contra gentiles, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  • Niccolo Machiavelli: Der Fürst, Stuttgart: Körner 1978.
  • Cesare Beccaria: Dei delitti e delle pene. Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, Aalen: Scientia 1990.
  • Jean-Jaques Rousseau: Contract social, Stuttgart: Reclam.
  • Charles de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, Stuttgart: Reclam 1976.
  • John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, 10. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.
  • Samuel Freiherr von Pufendorf: Über die Verfassung des deutschen Reiches, Stuttgart: Reclam 1976.
  • Jean von Bodin: Über den Staat. Sechs Bücher über den Staat, Stuttgart: Reclam 1986.
  • Friedrich C. Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Hildesheim: Olms 1967.
  • Alexander Hamilton, James Madison, John Jay: Die Federalist-Artikel, Paderborn: Schöningh 1994 (UTB).
  • Thomas Hobbes: Leviathan, Stuttgart, Reclam 1984.
  • Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten, Stuttgart: Reclam 1990.
  • Georg W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Stuttgart: Reclam 1970.
  • Karl Marx: Das Kommunistische Manifest (1848), Stuttgart: Reclam.
  • Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792; erstmals publiziert 1851), Stuttgart: Reclam 2002.
  • Julius Hermann von Kirchmann: Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Eine Rede aus dem Jahr 1847, hrsg. von Gottfried Neeße, Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer 1988.
  • Rudolf von Jhering: Der Zweck im Recht, Hildesheim: Olms 1970.
  • Rudolf von Jhering: Der Kampf ums Recht, 8. Aufl., Frankfurt a.M.: Klostermann 2003.
  • Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Stuttgart: K.F. Koehler 1973.
  • Hans Kelsen: Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Wien: Franz Deutiche 1985.
  • Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre.
  • Carl Schmitt: Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin: Akademischer Verlag 1993.
  • Rudolf Smend: Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin [u. a.]: Duncker & Humblot 1928.
  • John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 7. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993.
  • Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2. Aufl., Bern [u. a.]: Francke 1992.
  • Ronald Dworkin: Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Vgl. den Vortrag „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“, 1848
  2. a b Reinhard Richardi (Bearbeiter); Reinhard Richardi, Hellmut Wißmann, Otfried Wlotzke, Hartmut Oetker (Hrsg.): Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht. 3. Auflage. Band 1, C.H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-55553-4, § 6 Staatliche Rechtsetzung und Rechtswissenschaft Rn. 35.
  3. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26. Juni 1991, Az.: 1 BvR 779/85 = BVerfGE 84, 212, 226 f. = NJW 1991, S. 2549 (2550) – Zulässigkeit und Grenzen der Aussperrung; auch a. a. O.: „Zudem war der Beschluß des Großen Senats auf so erhebliche Kritik gestoßen, daß der unveränderte Fortbestand dieser Rechtsprechung nicht gesichert erscheinen konnte.“
  4. Wikiversity Wikiversity: Liste der juristischen Fakultäten in Deutschland – Kursmaterialien, Forschungsprojekte und wissenschaftlicher Austausch
  5. Wikiversity Wikiversity: Liste juristischer Fachhochschulen in Deutschland – Kursmaterialien, Forschungsprojekte und wissenschaftlicher Austausch
  6. http://www.olg-duesseldorf.nrw.de/02aufgaben/06_jpa_start/06jpa-a-z/merkblattabschicht.pdf
  7. Menetekel Examen Juristen am Rande des Nervenzusammenbruchs, Spiegel Online, 11. September 2007.
  8. Statistik der juristischen Prüfungen des Bundesministeriums der Justiz
  9. yourist: Statistik: 1. Staatsexamen
  10. Vereinbarung zur Akkreditierung
  11. Benedikt Vallendar, Mit Jura ans Gymnasium, in: Justament, Die Karriere-Zeitschrift für Juristen, Oktober 2010, Berlin, S. 18 (online).
  12. azur Karrieremagazin für junge Juristen, 01/11, Juve Verlag für juristische Information, Köln, S. 8–9.
  13. Bachelor-Studium Wirtschaftsrecht auf der Wirtschaftsuniversität Wien
  14. Master-Studium Wirtschaftsrecht auf der Wirtschaftsuniversität Wien
  15. http://www.wu.ac.at/lehre/studienangebotaktuell/master/wirtschaftsrecht/braeg
  16. Rechtsanwaltskammer
  17. Wikiversity Wikiversity: Liste der juristischen Fakultäten in der Schweiz – Kursmaterialien, Forschungsprojekte und wissenschaftlicher Austausch
  18. VGH Mannheim, Urteil vom 20. November 1990 – 9 S 170/90, Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Verlag C. H. Beck, München, 1991, S. 3109-3112 (3110); Bernhard Großfeld: Das Elend des Jurastudiums, Juristenzeitung (JZ), Mohr Siebeck, Tübingen, 1986, S. 357–360 (358)
  19. Bernd J. Hartmann, Jurassic Park: Keine Zeit zum Nach-Denken. Juristische Ausbildung aus der Sicht eines Studenten, Juristische Ausbildung (Jura), Walter de Gruyter, Berlin, 1998, S. 54–56 (54), online beim Centrum für Hochschulentwicklung; Reinhard Mußgnug, Würzburger Thesen des Juristen-Fakultätentags zur Juristenausbildung, Juristische Schulung (JuS), C.H. Beck, München 1995, S. 749–753 (751).
  20. Überblick bei juris (BMJ) zu wesentlichen Gesetzen

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