Sexualisierung

Sexualisierung

Als Sexualisierung bezeichnet man dem Wortsinne nach

  • die Fokussierung bzw. Hervorhebung der Sexualität innerhalb eines umfassenderen Kontextes
  • die Betrachtung eines Objektes unter sexuellen Gesichtspunkten bzw. unter dem Aspekt der Sexualität, besonders wenn dieses Objekt diese Betrachtung von sich aus nicht evoziert.

Abwehrmechanismus in der Psychotherapie

Als Sexualisierung im psychotherapeutischen Kontext bezeichnet man einen Mechanismus zur Abwehr von Triebimpulsen. Die Sexualisierung als Abwehrmechanismus geht auf die Arbeiten von Eberhard Schorsch, Nikolaus Becker (1977) und Heinz Kohut (1971) zurück. Sie lieferten einen Beitrag zum Verständnis von schweren Persönlichkeits- und Sexualstörungen. Im Wesentlichen besagt die psychodynamische Theorie, dass die Sexualisierung einen Selbstheilungsversuch darstellt, in dem ein frühkindlicher, ursprünglich asexueller Konflikt in den späteren Objektbeziehungen reaktiviert und mit einem sexuellen Impetus (Wesenszug) versehen wird. Innerhalb dieses Konstruktes bleibt aber die eigentliche und ursprüngliche Thematik der Ohn- und Allmacht des sich individualisierenden Säuglings wirksam.[1]

Das Empfinden genitaler Lust und Entspannung als Folge eines biologischen Reifungsprozesses liefert dem früh in seiner Autonomie gestörtem Kind das Gefühl etwas Eigenes und von den Eltern Unabhängiges zu erleben. Mit Hilfe der sich bildenden Geschlechtsidentität wird das lebensgeschichtlich frühere ursprüngliche Identitätstrauma bearbeitet. Die Sexualisierung hat die Funktion, sich einer Unversehrtheit zu vergewissern, die später den Stempel des Phallischen trägt. Sie verleiht der Individuation Stabilität auf Kosten der sich bildenden Geschlechtsidentität. Die ursprüngliche Brüchigkeit trägt nun das Gewand einer brüchigen sexuellen Identität, die immer wieder aufgefüllt werden muss. McDougall (1972) nennt die genitale Besetzung ein Bollwerk gegen die verschlingende Mutter.

Die Sexualisierung dient der Entlastung der sozialen Persönlichkeit von präödipalen Konflikten, sie erzeugt u.a. Teamfähigkeit und soziales Funktionieren im Beruf. Sie macht sogar stabile erotische Partnerschaften möglich. Morgenthaler (1974) spricht von einer Plombe, die eine Lücke im Selbst ausfüllt. Einem Übergangsobjekt vergleichbar können in der Deviation mithilfe von „magischen Ritualen“ alltägliche Kränkungen entladen werden, ohne dass die Realitätsverankerung gefährdet wird. Die bizarre, archaisch unkultivierte Ausgestaltung der Rituale liefert einen Blick auf die Entwicklungsstufe des ursprünglichen Konfliktes. Anders als bei der reiferen, ich-dystonen Verdrängung stehen sich bei der Sexualisierung die beiden widerstrebende Persönlichkeitsanteile gegenüber. Diese Spaltung kann bis zur Ausbildung eines Doppelgängers führen, wie ihn R.L. Stevenson: in seiner Novelle „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ beschrieben hat.[2]

Nach Schorsch, Becker, Saimeh und Nedopil unterscheiden wir in der Ausprägung 4 Stufen:

  • Stufe 1: Abweichende sexuelle Phantasie ist ein intensiver, aber einmalig oder sporadisch auftretender Impuls (z.B. „Liebling heute probieren wir mal Bondage“). Außerhalb der Krise wird die Phantasie oder der Impuls nicht erlebt.
  • Stufe 2: Abweichende sexuelle Phantasie dient der regelmäßigen Bewältigung schwerer Konflikte (Wiederholung bei Lebenskrisen, „Liebling, heute muss das mal so sein.“).
  • Stufe 3: Ohne abweichende Phantasie kann Sexualität kaum noch erlebt werden, ohne Unterwerfungsgeste kein Orgasmus. Ein Bezug zu Krisen ist nicht mehr erkennbar. Es kommt zu ersten Partnerschaftskonflikten, oft findet sich ein Ausweichen in progressive Promiskuität. Heinz Kohut (1971) sprach von „Don Juan“ und „Messalina“-Typen
  • Stufe 4: Die abweichende sexuelle Phantasie muss intensiviert werden, süchtiges Verhalten, neue Rituale kommen hinzu, das zeitliche Ausmaß nimmt zu (Giese (1962) „Verfall an die Sinnlichkeit“), sexuelle Verwahrlosung. Oft werden Partnerschaften ganz aufgegeben, die Masturbation beeinträchtigt die Lebensführung.

Stufe 3 und 4 stellen eine stabile, fixierte Perversion dar.[3]

Literatur

Einzelnachweise

  1. Kohut, Heinz: Narzißmus, Surkamp Taschenbuch Wissenschaft 1976, Originalausgabe: The Analysis of the Self. International Universities Press, New York 1971
  2. Schrosch, Becker: Angst, Lust, Zerstörung, 1977; Seite 75
  3. N. Saimeh: Zum Fressen gern – Kannibalismus aus psychiatrischer Sicht.

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