Nazi-Vergleich

Nazi-Vergleich

Nazi-Vergleiche, auch NS-Vergleiche, Hitler-Vergleiche (siehe auch: Reductio ad Hitlerum oder Goebbels-Vergleiche [1] sind Vergleiche von Ereignissen, Personen oder Institutionen mit denen der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Nazi-Vergleich dient als sogenannter Fehlschluss und als „Totschlagargument“ häufig der Diffamierung des politischen Gegners.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsverwendung

Der Begriff Nazi-Vergleich wurde nach den Linguisten Eitz und Stötzel als Neologismus in den 1980er Jahren durch die Massenmedien eingeführt und taucht seitdem insbesondere in Pressekommentaren immer wieder auf.[2] Beschrieben wird mit dem Begriff eine diskursive Praxis, die die kommunikative Maxime verletze und die kognitive Rolle des Vergleichs bewusst missbrauche.[3]

Nach dem Politologen Norbert Seitz gehöre „die Nazi-Analogie […] seit Gründung der Bundesrepublik zum probaten Totschlagarsenal in der politischen Auseinandersetzung“. Er unterschied drei Verwendungsphasen: Im Kalten Krieg durch Gleichsetzungen des „real-existierenden Sozialismus“ mit dem NS-Staat als antikommunistisches Propagandamittel der politischen Rechten, in den 1960er Jahren die Kritik oppositioneller Linker aufgrund zum Teil berechtigter moralischer Empörung gegenüber der alten „restaurativen“ Bundesrepublik und schließlich die Verwendung nach der Historikerdebatte 1986 infolge einer „wachsenden Skandalisierung von Politik“ und der „Enthistorisierung des Holocaust“.

Seitz zufolge sei aber der Vergleich kein rein deutsches Phänomen, da weltweit viele verbrecherische Diktatoren und politische Führer mit Hitler verglichen werden, wie etwa seit den 1990er Jahren: Saddam Hussein, Slobodan Milošević, Jassir Arafat, Osama bin Laden. Gleichzeitig tauche die Schoah als Metapher im Kuwait-Feldzug Desert Storm 1991 auf, während des Kosovo-Krieges 1998 wie nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 im israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt oder im Kampf gegen die Taliban als „Äquivalent zu Hitlers SS“. Der Holocaust würde international längst als Metapher für das „absolut Böse“ verwandt. Die Vergangenheit würde nach dem Sozialpsychologen Harald Welzer enthistorisiert werden und lasse sich als „legitimatorisches Label im Kampf gegen böse Staaten und Diktatoren einsetzen“.[4]

NS-Vergleiche, insbesondere zum Holocaust wie etwa „Babycaust“, werden daher auch als Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus kritisiert. Insbesondere wurden solche Vergleiche in der katholischen Kirche sowie der Umwelt- und Friedensbewegung häufig genutzt, nachdem der Begriff Holocaust 1979 in Deutschland durch die gleichnamige Fernsehserie als neues „Horrorwort“ entdeckt wurde und etwa als Warnung vor einer Nukleargefahr diente. Nach Stötzel und Eitz wurde so aus einer nicht bewältigten Vergangenheit eine „Bewältigung der Gegenwart“. Ereignisse, die im allgemeinen Verständnis historisch einzigartig sind, würden durch Vergleiche relativiert sowie „zum Zweck der Instrumentalisierung in heutigen Auseinandersetzungen“ gebraucht werden. Begriffe Rechtsextremer wie „Bomben-Holocaust“ dienten dagegen eindeutig der „Aufrechnung“.[5]

Die französische Linguistin Marie-Hélène Pérennec stellte eine Häufung von Nazi-Vergleichen seit Ende der 1990er Jahre fest und diagnostizierte, „dass der politische Diskurs sich seit einem Jahrzehnt so radikalisiert hat, dass derartige Entgleisungen beinahe allen Rednern passieren können und dass es schwierig wird, zwischen Provokation und Ungeschicklichkeit zu unterscheiden.“[6] Zur Erklärung der Zunahme verweist sie auf Harald Welzers Aufmerksamkeitsvermutung: „Aufmerksamkeit kriegen sie immer, wenn Sie die Nazi-Karte spielen.“[7] Doch Pérennec vermutet: „Inzwischen haben sich die Menschen an diese Beschimpfungen gewöhnt und beachten sie kaum noch.“[8] Die wichtigste Folge dieses Prozesses sei jedoch „die Verharmlosung der Verbrechen der Nazis“, die durch die Gewöhnung an Nazi-Vergleiche verursacht werde.[8]

Beispiele jüngerer Verwendungen

Die deutsche Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin musste 2002 zurücktreten[9], nachdem man ihr vorgeworfen hatte, die Politik von George W. Bush in die Nähe derjenigen Adolf Hitlers gerückt zu haben.[10]

Am 3. Mai 2005 veröffentlichte Michael Wolffsohn in der Rheinischen Post einen Essay zur sogenannten Heuschreckendebatte mit dem Namen „Zum 8. Mai“, dem 60. Jahrestags des Endes der nationalsozialistischen Diktatur:

„60 Jahre ‚danach‘ werden heute wieder Menschen mit Tieren gleichgesetzt, die – das schwingt unausgesprochen mit – als ‚Plage‘ vernichtet, ‚ausgerottet‘ werden müssen. Heute nennt man diese ‚Plage‘ ‚Heuschrecken‘, damals ‚Ratten‘ oder ‚Judenschweine‘. Worte aus dem Wörterbuch des Unmenschen, weil Menschen das Menschsein abgesprochen wird.“[11]

Nachdem der damalige deutsche Bundesfinanzminister, Peer Steinbrück, der Schweiz 2009 mit der „siebten Kavallerie“ gedroht hatte, meinte Thomas Müller, schweizerischer Abgeordneter (CVP): „Er erinnert mich an jene Generation von Deutschen, die vor sechzig Jahren mit Ledermantel, Stiefel und Armbinde durch die Gassen gegangen sind“. Johannes Kahrs (SPD) wies dies zurück: „Das ist peinlich und abwegig und artet schon in Effekthascherei aus […] Mit solchen Vergleichen richtet sich jeder selber und zeigt wie schwach die eigenen Sachargumente sind. Wenn das so weiter geht, müsste in naher Zukunft eine Entschuldigung der Schweizer Regierung gegenüber Peer Steinbrück fällig werden.“[12]

Mehrere deutsche Tageszeitungen, unter anderem die Frankfurter Rundschau, sahen sich 2009 vor russischen Gerichten mit Schmerzensgeldforderungen konfrontiert, nachdem sie die Jugendbewegung „Naschi“ mit der Hitlerjugend verglichen haben sollen.[13] Kardinal Meisner zog in seiner Allerheiligenpredigt 2009 Parallelen zwischen Auffassungen Richard Dawkins und der Nationalsozialisten, indem er schrieb: „Ähnlich wie einst die Nationalsozialisten im einzelnen Menschen primär nur den Träger des Erbgutes seiner Rasse sahen, definiert auch der Vorreiter der neuen Gottlosen, der Engländer Richard Dawkins, den Menschen als 'Verpackung der allein wichtigen Gene', deren Erhaltung der vorrangige Zweck unseres Daseins sei“.[14]

Siehe auch

Literatur

  • Wolfram Wette: Ein Hitler des Orients? NS-Vergleiche in der Kriegspropaganda von Demokratien. In: Gewerkschaftliche Monatshefte. Bd. 54 (2003), 4, S. 231-242.
  • Thorsten Eitz, Georg Stötzel: Wörterbuch der "Vergangenheitsbewältigung". Olms, 2007, ISBN 9783487133775.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Christoph Studt (Hg.): "Diener des Staates" oder "Widerstand zwischen den Zeilen"?: Die Rolle der Presse im "Dritten Reich", Lit Verlag 2007, S. 49. hier online
  2. Thorsten Eitz/Georg Stötzel, Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung, Georg Olms Verlag, 2007, S. 489.
  3. Marie-Hélène Pérennec: Nazi-Vergleiche im heutigen politischen Diskurs. Von den Gefahren falscher Analogien. In: langues.univ-lyon2.fr, Juni 2008 (Lylia, Heft 16).
  4. Norbert Seitz: Nicht ohne meinen Nazi In: Die Zeit, Nr. 52/2002.
  5. Gerd Korinthenberg: "Nicht bewältigt": Sprechen über NS-Zeit. In: ORF.at, 19. Dezember 2007.
  6. Marie-Hélène Pérennec: Nazi-Vergleiche im heutigen politischen Diskurs. Von den Gefahren falscher Analogien. In: langues.univ-lyon2.fr, Juni 2008 (Lylia, Heft 16), S. 10.
  7. Harald Welzer: Der Herman-Eklat: „Nazi-Karte sichert Aufmerksamkeit“. In: Stern.de, 10. Oktober 2007.
  8. a b Marie-Hélène Pérennec: Nazi-Vergleiche im heutigen politischen Diskurs. Von den Gefahren falscher Analogien. In: langues.univ-lyon2.fr, Juni 2008 (Lylia, Heft 16), S. 11.
  9. buchtest.de.
  10. spiegel.de.
  11. Michael Wolffsohn: Zum 8. Mai. In: Rheinische Post, 3. Mai 2005. (online).
  12. handelsblatt.com.
  13. netzeitung.de.
  14. Meisner vergleicht Biologen Dawkins mit Nazis. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 1. November 2009.

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