Naherwartung

Naherwartung

Im Christentum wird als Naherwartung die Annahme bezeichnet, dass das angekündigte Wiederkommen Jesu Christi in relativ kurzer Zeit zu erwarten ist. Diese Naherwartung hat Anhaltspunkte im Neuen Testament.

Inhaltsverzeichnis

Naherwartung in den Evangelien

Die Evangelien berichten von mehreren Aussagen Jesu, die oft im Sinn eines baldigen Wiederkommens Jesu verstanden wurden. Nach Matthäus 10,23 sagte Jesus: "Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende sein, bis der Sohn des Menschen gekommen sein wird." War demnach Jesu Wiederkommen bereits dann zu erwarten, als Jesu Anhänger gerade erst begannen, in Israel die Botschaft zu verkündigen? Doch in derselben Rede kündigte Jesus an, dass die Jünger „vor Statthalter und vor Könige geführt werden – ihnen und den Nationen zum Zeugnis“ (Matthäus 10,18). Das setzt doch eine über Israel hinausgehende Mission voraus.

Dasselbe Evangelium enthält auch die Ankündigung der Weltmission (Matthäus 24,14) sowie den Befehl dazu (28,19). Dass die Erfüllung dieser Aufgabe einen längeren Zeitraum benötigt, war naheliegend. Auch mehrere Gleichnisse Jesu weisen auf die Möglichkeit hin, dass sich das Kommen Jesu noch verzögern könnte: Ein schlechter Knecht kann deshalb auf den Gedanken kommen: "Mein Herr kommt noch lange nicht!" (Matthäus 24,48). Die Brautjungfern müssen erleben, dass "der Bräutigam lange nicht kam", so dass sie müde werden und einschlafen (25,5). Auch das Gleichnis vom Unkraut im Acker, das man, gemeinsam mit dem Weizen, wachsen lassen und nicht vorzeitig ausreißen soll, lässt an einen längeren Zeitraum denken (13,24-30). Und schließlich auch die diversen Hinweise in Jesu Zukunftsrede, was alles noch vor dem Ende geschehen sollte (z.B. 24,6-8).

Als die Evangelien veröffentlicht wurden, waren bereits einige Jahrzehnte seit dem Wirken Jesu vergangen. Dass der Zwischenraum zwischen Jesu 1. und 2. Kommen in der Größenordnung von zumindest Jahrzehnten liegt, war daher den Lesern klar. Soweit deren historischer Gehalt skeptisch beurteilt wird – und deren konkrete Gestalt eher als Widerspiegelung des Verständnisses einer späteren Generation von Anhängern Jesu gedeutet wird – ist kaum zu erwarten, dass diese Evangelien uns einen Einblick in die Erwartung der Jünger Jesu in den Jahren unmittelbar nach dem Wirken Jesu geben: Etwa, dass diese Jünger damals gedacht hätten, Jesu Wiederkommen sei innerhalb weniger Jahre zu erwarten. Wer die Evangelien eher im konservativen Sinn versteht, also annimmt, dass die darin berichteten Aussagen Jesu im Wesentlichen historisch seien, kann bei manchen dieser Aussagen tatsächlich denken, dass die beiden Kommen Jesu nur durch einen sehr kurzen Zeitraum getrennt sein sollten.

Naherwartung bei Paulus

Der Entstehungszeitpunkt der betreffenden Quellen ist auch zu beachten, wenn es um die Erwartungen des Paulus geht. Dessen früheste Briefe sind um 50 n.Chr. entstanden. Zu diesem Zeitpunkt waren also bereits 20 Jahre seit dem öffentlichen Wirken Jesu vergangen. In diesen Briefen ist also kaum der Gedanke eines Wiederkommens wenige Jahre nach seinem Wirken zu erwarten. Wenn mittlerweile 20 Jahre vergangen sind, lag die Möglichkeit zumindest nahe, dass es noch weitere Jahrzehnte dauern werde (und somit manche der Zeitgenossen, Paulus mit eingeschlossen, dieses Wiederkommen nicht mehr erleben werden).

Eine Aussage des Paulus wird aber oft so gedeutet, dass er meinte, das Wiederkommen Jesu noch zu erleben – wenn er nämlich ankündigt, "dass wir, die Lebenden, die übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden" (1. Thessalonicherbrief 4,15). Paulus behauptet aber nicht, dass ihm offenbart worden wäre, wie lange sein Leben noch währen werde. Als gefährlich lebender Missionar musste er immer auch mit der Möglichkeit rechnen, getötet zu werden. Seine Formulierung "wir, die Lebenden, die übrigbleiben ..." ist wohl nicht in dem Sinn gemeint, dass er selbst sowie alle jetzt lebenden Christen in Thessalonich, mit denen er sich im "wir" zusammenschließt, in jenem Augenblick zu den Lebenden gehören werden. Die Zielrichtung der Aussage geht ja auch nicht dahin, die Personen festzulegen, die dann am Leben sein werden, sondern prinzipiell zu klären, was mit den beiden Gruppen – der dann Lebenden und der dann bereits Gestorbenen – geschehen werde.

Als sich Paulus etwa 56 n.Chr. von den Ephesern verabschiedete, sprach er von ihm bevorstehenden Leiden, von der Vollendung seines Laufs (d.h. seinem Tod), und er kündete an, dass sie ihn nicht mehr sehen werden (Apg 20,23-25). Das klingt so, dass er mit seinem Sterben rechnete, und nicht mit seinem Leben bis zum Wiederkunft Jesu.

Mitte der 50er Jahre schrieb Paulus: "Gott hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Macht" (1. Korintherbrief 6,14). Wenn das "uns" hier wörtlich zu nehmen ist, dann rechnete Paulus mit seinem Sterben. Denn die Auferweckung betrifft bereits Gestorbene; die zum Zeitpunkt von Jesu Kommen noch Lebenden werden ja verwandelt.

Andere Texte des Neuen Testaments dazu

Ein wichtiges Buch für die frühe christliche Zukunftserwartung ist die Offenbarung des Johannes. Sie soll zeigen, "was bald geschehen muss" (Offenbarung 1,1), denn "die Zeit ist nahe" (Offenbarung 1,3; 22,10). Für bald finden wir den griechischen Ausdruck en táchei, wiederzugeben durch schnell, eilends oder mit großer Geschwindigkeit. Davon leitet sich unser Fremdwort Tachometer (Geschwindigkeitsmesser) ab. Dieses Wort steckt auch in Jesu Ankündigung "Ich komme bald" (Offenbarung 3,11; 22,7.12.20), griechisch tachy. Das sagt nicht unbedingt, dass der Zeitraum bis zum Kommen Jesu kurz ist, sondern vor allem, dass sein Kommen blitzartig und überraschend sein wird.

Die Ankündigung, dass das Eingreifen Gottes "mit großer Geschwindigkeit" erfolgen werde, war bereits den Leser des Alten Testaments vertraut. Dort war etwa zu lesen: "Seht, ich sende meinen Boten; er soll den Weg für mich bahnen. Dann kommt plötzlich zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht" (Maleachi 3,1). Diesen hier angekündigten Boten identifizierte Jesus mit Johannes dem Täufer (Mt 11,10), also sich selbst mit dem plötzlich kommenden Herrn. Tatsächlich verging zwischen Maleachi und Jesus dann noch etwa ein halbes Jahrtausend.

Manche Texte des Neuen Testaments lassen die Auseinandersetzung mit der „Parusie-Verzögerung“ erkennen. So wird etwa auf den positiven Gesichtspunkt dieser "Verzögerung" hingewiesen: Dadurch können noch viele Menschen zu Gott umkehren (2. Petrus 3). Was den Zeitpunkt betrifft, so wird nur Vergleich Jesu wiederholt: Er kommt „wie ein Dieb“, also überraschend und unerwartet.

Anliegen der Naherwartung

Seit dem öffentlichen Wirken Jesu sind zwei Jahrtausende vergangen. Dadurch erscheint eine Naherwartung als problematisch. Für ihre Berechtigung wurden in neuerer Zeit verschiedene Gründe geltend gemacht.

Erstens ist es vielleicht sogar die Hälfte der Christen aller Zeiten, die in der Gegenwart leben. Selbst wenn der Anteil der Christen an der Menschheit gleich bleibt – schon alleine durch das Wachstum der Weltbevölkerung kommt es dazu, dass ein großer Teil der Christen in der Gegenwart lebt. Somit könnte es sein, dass die Anweisung, auf Jesu Kommen zu warten, etwa für die Hälfte aller Christen eine ganz wörtliche Bedeutung haben wird.

Zweitens überschattet Jesu Kommen aus christlicher Sicht alles andere. Die Jahrzehnte seit Christi Himmelfahrt steuern auf dieses große Ereignis zu. Wie Johann Albrecht Bengel sagte: "es ist der Majestät Christi gemäß, dass er die ganze Zeit über zwischen seiner Himmelfahrt und Zukunft ununterbrochen erwartet werde".[1]

Drittens drückt die Erwartung des Wiederkommens Jesu auch etwas von der politischen Einstellung der Christen aus: Die neue Welt ist nicht etwas von Menschen Machbares, sondern sie wird von Gott gemacht.

Literatur

  • Franz Graf-Stuhlhofer: „Das Ende naht!“ Die Irrtümer der Endzeit-Spezialisten (Theologisches Lehr- und Studienmaterial; 24). Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn, 3.Aufl. 2007 (Nachdruck der 2.Aufl. 1993, nun mit Register), Teil D.

Einzelbelege

  1. Bengel: Gnomon Novi Testamenti, 1742, zu Apg 1,11.

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