Mängelwesen

Mängelwesen

Das Mängelwesen ist ein von Arnold Gehlen geprägter und in seinem 1940 erschienen ersten Hauptwerk "Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt" in die Philosophische Anthropologie eingeführter Begriff, der den Menschen anderen Spezies als physisch und morphologisch unterlegen darstellt. Diese Nachteile sind biologische Unangepasstheiten des Menschen an seine natürliche Umwelt. Um trotzdem überleben zu können, schafft der Mensch als Prometheus die Kultur als Ersatz-Natur oder „zweite Natur“.[1]

Inhaltsverzeichnis

Mängel des Menschen

In seinen anthropologischen Überlegungen zählt Gehlen sowohl körperliche als auch psychisch-geistige Unangepasstheiten an die Umwelt auf. Zu den körperlichen Mängeln gehören zum Beispiel das Fehlen von Angriffsorganen (Klauen, Zähnen) und eines Körperbaus, der eine schnelle und ausdauernde Flucht ermöglichen könnte, sowie seine Schutzlosigkeit gegenüber der Witterung (durch ausreichende Körperbehaarung). Für psychische Nachteile hält er den „fast lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten“ und die Reizüberflutung, die eine erhebliche Belastung darstelle. Gehlen kommt daher zu dem Schluss, dass der Mensch innerhalb natürlicher Bedingungen „inmitten der gefährlichsten Raubtiere“ schon längst ausgerottet sein müsste.

Da der Begriff seit der ersten Auflage 1940 zu Mißverständnissen bzw. Fehlinterpretationen Anlaß gab, hat Gehlen ab der vierten Auflage 1950 eine Klarstellung vorgenommen:

"Wenn der Mensch hier und in dieser Beziehung, im Vergleich zum Tier als "Mängelwesen" erscheint, so akzentuiert eine solche Bezeichnung eine Vergleichsbeziehung, hat also nur einen transitorischen Wert, ist kein "Substanzbegriff". Insofern will der Begriff gerade das, was H. Freyer (Weltgeschichte Europas, 1949, I, p. 169) gegen ihn einwendet: "Man setzt den Menschen fiktiv als Tier, um dann zu finden, daß er als solches höchst unvollkommen und sogar unmöglich ist." Eben das soll der Begriff leisten: die übertierische Struktur des menschlichen Leibes erscheint schon in enger biologischer Fassung im Vergleich zum Tier als paradox und hebt sich dadurch ab. Selbstverständlich ist der Mensch mit dieser Bezeichnung nicht ausdefiniert, aber die Sonderstellung [des Menschen] bereits in enger, morphologischer Hinsicht markiert."[2]

und er fährt fort:

"Der Grundgedanke ist der, daß die sämtlichen "Mängel" der menschlichen Konstitution, welche unter natürlichen, sozusagen tierischen Bedingungungen eine höchste Belastung seiner Lebensfähigkeit darstellen, vom Menschen selbsttätig und handelnd gerade zu Mitteln seiner Existenz gemacht werden, worin die Bestimmung des Menschen zu Handlung und seine unvergleichliche Sonderstellung zuletzt beruhen."[3]

Schaffung der Kultur

Die genannten Mängel der Reizüberflutung bieten dem Mängelwesen Mensch aber auch Vorteile. Durch seine „Weltoffenheit“ wird der Mensch dazu gezwungen „sich [zu] entlasten, d.h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung um[zu]arbeiten.."[4] Anstatt sich seiner Umwelt anzupassen, was aufgrund seiner physischen Eigenschaften oft nicht möglich ist, verändert er selbige, so dass sie seinen Zwecken dienlich ist.

Der Mensch kann also nur durch die Umwandlung der Natur in eine Ersatz-Natur überleben, darüber hinaus ist es ihm möglich, da er ein nicht spezialisiertes Wesen ist, unter verschiedensten Bedingungen zu leben. Die von ihm als „Prometheus“ erschaffene Ersatz-Natur bezeichnet Gehlen als Kultur.

Institutionenlehre

Politisch zog Gehlen diese – nicht unumstrittene – Diagnose von der Mangelhaftigkeit der menschlichen Ausstattung heran, um die Legitimität staatlicher Ordnung und überlieferter Tradition zu belegen. Der Mensch sei grundlegend ein „institutionenbedürftiges“ Wesen, wobei es nicht primär darauf ankomme, wie diese Institutionen genau aussähen. Wichtig sei ihre Stabilisierungsfunktion, weshalb es gelte, die bestehenden Institutionen grundsätzlich gegen Angriffe und Zersetzung zu verteidigen. Dieser Aspekt der Lehre vom Mängelwesen gewann nach der Publikation von Der Mensch an Bedeutung und wird v.a. in den späteren Auflagen wie auch in Urmensch und Spätkultur (1956) gegenüber den Vorteilen der „Weltoffenheit“ stärker betont.

Herder als Stichwortgeber und Vorläufer

Die Idee eines Mängelwesens stammt im weitesten Sinne von Johann Gottfried Herder. In seiner 1772 veröffentlichen "Abhandlung über den Ursprung der Sprache" schreibt er:

"Daß der Mensch den Tieren an Stärke und Sicherheit des Instinkts weit nachstehe, ja daß er das, was wir bei so vielen Tiergattungen angeborene Kunstfähigkeit und Kunsttriebe nennen, garnicht habe, ist gesichert."[5]

kommt dann aber zu dem Schluß:

"Mit einer so zerstreuten, geschwächten Sinnlichkeit, mit so unbestimmten, schlafenden Fähigkeiten, mit so geteilten und ermatteten Trieben geboren, offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt - und doch so verwaiset und verlassen, daß es selbst [das menschliche Kind] nicht mit einer Sprache begabt ist, seine Mängel zu äußern - Nein! ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur. Es müssen statt der Instinkte andre verborgne Kräfte in ihm schlafen."[6]

und:

" Lücken und Mängel können doch nicht der Charakter seiner Gattung sein."[7]

Hier klingt das von Gehlen in "Der Mensch" verfolgte und umgesetzte Programm schon an: die Beschreibung des Fähigkeitswesen Mensch (auch wenn Gehlen diesen Ausdruck selber nicht verwendet).

Literatur

  • Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 1940 und später
  • Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur, Athenäum Verlag, Bonn 1956
  • Arnold Gehlen: Anthropologische Forschung, Rowohlt Verlag, Reinbek 1961
  • Artikel "Mängelwesen" in: Joachim Ritter et al. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Schwabe Verlag, Basel/Stuttgart 1971-2007
  • Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), Reclam, Ditzingen 1993

Quellen

  1. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, alle Auflagen
  2. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden: AULA-Verlag, 13. Auflage, S. 20
  3. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden: AULA-Verlag, 13. Auflage, S. 37.
  4. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden: AULA-Verlag, 13. Auflage, S. 36.
  5. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Reclam, Ditzingen 1993, S. 20
  6. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Reclam, Ditzingen 1993, S. 24
  7. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Reclam, Ditzingen 1993, S. 24

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Arnold Gehlen — Arnold Karl Franz Gehlen (* 29. Januar 1904 in Leipzig; † 30. Januar 1976 in Hamburg) war ein deutscher Philosoph und Soziologe. Er zählt mit Helmuth Plessner und Max Scheler zu den Hauptvertretern der Philosophischen Anthropologie. In den 1960er …   Deutsch Wikipedia

  • Homo inermis — Das Mängelwesen (Homo Inermis) ist ein von Arnold Gehlen geprägtes Menschenbild, das den Menschen anderen Spezies als physisch und morphologisch unterlegen darstellt. Diese Nachteile sind biologische Unangepasstheiten des Menschen an seine… …   Deutsch Wikipedia

  • Philosophische Anthropologie — Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer (1808–1810). Das Bild thematisiert die Frage nach der Stellung und der Bedeutung des Menschen im Weltganzen. Die philosophische Anthropologie (griechisch ἀνθρωπολογία anthropología „die Menschenkunde“,… …   Deutsch Wikipedia

  • Mensch: Was ist der Mensch? —   »Die Frage aller Fragen für die Menschheit das Problem, das allen anderen zugrunde liegt und von tieferem Interesse ist als jedes andere ist die Bestimmung der Stellung des Menschen in der Natur und seiner Beziehungen zum gesamten Kosmos. Woher …   Universal-Lexikon

  • Philosophie der Technik — Unter Technikphilosophie versteht man die philosophische Untersuchung der Bedeutung der Technik. Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 2 Technikphilosophie und Lebensphilosophie 2.1 Grundlegungen 2.2 Neuere Entwicklungen …   Deutsch Wikipedia

  • Technikphilosophie — Unter Technikphilosophie versteht man sowohl die philosophische Untersuchung der Bedeutung der Technik als auch die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Mensch, Welt und Technik zueinander. Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 2 Magie und Technik …   Deutsch Wikipedia

  • Franz Josef Wetz — (* 19. März 1958 in Rockenberg) ist ein deutscher Philosoph. Er lehrt Philosophie und Ethik in Schwäbisch Gmünd. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Philosophie 3 Zentrale Themen und Fragestellungen …   Deutsch Wikipedia

  • Güntherlogik — Gotthard Günther (* 15. Juni 1900 in Arnsdorf, Landkreis Hirschberg, Schlesien; † 29. November 1984 in Hamburg) war ein deutscher Philosoph und Logiker. Günther entwarf einen über den klassisch zweiwertigen (aristotelischen) Logikkalkül… …   Deutsch Wikipedia

  • HOMO — Der Ausdruck Homo wird verwendet als: Gattungsname des Menschen (von lat. homo = „Mensch“ = „Mann“); siehe Homo Folgende Komposita werden mit Homo Mensch gebildet: Homo Clausus: der in seinem Inneren von der Außenwelt abgeschlossene Mensch, ein… …   Deutsch Wikipedia

  • Helmuth-Plessner-Gesellschaft — Helmuth Plessner (* 4. September 1892 in Wiesbaden; † 12. Juni 1985 in Göttingen) war ein deutscher Philosoph und Soziologe sowie ein Hauptvertreter der philosophischen Anthropologie. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Philosophie …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”