Modalrhythmik

Modalrhythmik
Die Rhythmen der sechs Modi

Modalrhythmik bezeichnet diejenigen Rhythmen, die sich bei der Verwendung von Modalnotation ergeben, sowie deren Verwendung in anders notierten Musikstücken der entsprechenden Zeit (vor allem 13. Jahrhundert).

Inhaltsverzeichnis

Die Rhythmen der Modalnotation

Vor dem 13. Jahrhundert war es in der europäischen Musik nicht möglich gewesen, den Rhythmus einer Komposition eindeutig zu notieren. Im 13. Jahrhundert entstand mit der Modalnotation ein System, mit dem dies möglich wurde – allerdings nur bei relativ einfachen Rhythmen und auch nur in bestimmten musikalischen Gattungen. Die Musiktheoretiker unterschieden sechs verschiedene Modi: Das sind sechs verschiedene Arten, Ligaturen (zusammengeschriebene Tonfolgen) in unterschiedlicher Art zu kombinieren; diese entsprechen sechs verschiedenen Rhythmen, die sich meist innerhalb eines Abschnittes mehrfach wiederholen (siehe Abbildung).[1] Stücke in Modalnotation werden heute üblicherweise im 6/8-Takt übertragen, Entsprechungen zu geraden Taktarten (z.B. 4/4-Takt) sind in diesem System nicht möglich. Es kommen nur wenige unterschiedliche Notenwerte vor, die auch nicht beliebig unterteilt oder kombiniert werden können. Synkopen-ähnliche Rhythmen lassen sich gar nicht darstellen.

Modalrhythmik in der frühen Motette

Die Rhythmen dieser sechs Modi, insbesondere die des 1. und 5. Modus, finden sich auch in der frühen Motette des 13. Jahrhunderts. Diese sind nicht mehr in der Modalnotation, sondern in einer Frühform der Mensuralnotation notiert. Dadurch wurde es möglich, auch andere Rhythmen als die der sechs Modi zu verwenden. Jedoch wurden die vertrauten Rhythmen offenbar weiterhin bevorzugt.[2] Plausibel wird dieser Sachverhalt, wenn man bedenkt, dass die Motette eng verwandt ist mit der Clausula: Die gleiche Komposition kann als Clausula in der einen Handschrift ohne Text und in Modalnotation stehen und in einer anderen Handschrift als Motette mit Text und in früher Mensuralnotation.[3]

Pierre Aubry und die Modaltheorie

So hätten die beiden Musiktheoretiker vermutlich den Beginn des Palästinaliedes von Walther von der Vogelweide übertragen: Zeile 1) Übertragung nach Riemanns Methode; Zeile 2) Übertragung nach Aubrys Methode von 1905; Zeile 3) Übertragung nach Aubrys Methode von 1907

Nur ein Teil der Musik des 13. Jahrhunderts ist entweder mit Hilfe der Modal- oder der Mensuralnotation rhythmisch genau notiert. Die frühe Mensuralnotation entstand erst spät im 13. Jahrhundert, und die Modalnotation lässt sich nur bei Stücken anwenden, die überwiegend melismatisch sind, bei denen also sehr viele Töne auf eine Silbe kommen. Die Lieder der Trobadors, Trouveres und Minnesänger sind jedoch meist überwiegend syllabisch, d. h. die meisten Silben haben nur einen Ton. Ähnliche Probleme ergeben sich beim Conductus. Der Musiktheoretiker Hugo Riemann hatte zwischen 1896 und 1902, von den Versmaßen im Minnesang ausgehend, eine Rhythmisierungsmethode für diese Stücke entwickelt: Jede Silbe bekam den Werte einer Viertelnote in einem 4/4-Takt, bei mehr Tönen pro Silbe wurde diese Viertelnote entsprechend unterteilt.[4]

Eine Alternative dazu entwickelte der französische Musikgelehrte Pierre Aubry ab 1905 für die Lieder der Trouveres: Zunächst versah auch er alle Textsilben mit gleich langen Notenwerten. Anders als Riemann wählte er jedoch einen Dreier-Takt, so dass sich bei mehreren Tönen pro Silbe Rhythmen ähnlich denen in Modalnotation und früher Motette ergaben.[5] Später, im Jahre 1907, erweiterte er seine Methode dadurch, dass nun auch der Text selbst rhythmisiert werden konnte[6] (1909 urteilte ein französisches Gericht, dass ihn dabei der Straßburger Romanist Jean Beck beeinflusst haben soll).[7] Den unterschiedlichen Versmaßen entsprachen dabei die unterschiedlichen Rhythmen der Modi.

Diese sogenannte Modaltheorie hatte gegenüber Riemanns Methode den Vorteil, dass hier Rhythmen verwendet wurden, die in der entsprechenden Zeit selbst beliebt waren. Die Auseinandersetzung darüber, wie Conducti sowie die Lieder der Trobadors, Trouveres und Minnesänger rhythmisiert werden sollten, spielte noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle in der Musikwissenschaft. Mittlerweile verwendet man bei Übertragungen solcher Stücke oft rhythmisch neutrale Übertragungen und überlässt die konkrete rhythmische Ausgestaltung den Ausführenden mittelalterlicher Musik.

Literatur

  • Willi Apel: Die Notation der polyphonen Musik. VEB Breitkopf & Härtel, Leipzig 1962, ISBN 3-7330-0031-5
  • John Haines: The Footnote Quarrels of the Modal Theory: A Remarkable Episode in the Reception of Medieval Music. In: Early Music History Jg. 20, 2001, S. 87–120

Einzelnachweise

  1. Apel S. 241–247.
  2. Apel S. 318–341, besonders S. 322–324 sowie S. 334–335.
  3. Beispielsweise ist die Klausel Johanne aus der Notre-dame-Handschrift F fol. 164v musikalisch identisch mit der Motette Ne sai que je die aus dem Codex Montpellier fol. 235r. Faksimile-Ausgabe der Handschrift F: Firenze, Biblioteca Mediceo-Laurenziana, Pluteo 29,I, Faksimile Ausgabe der Handschrift, hrsg. von Luther Dittmer, New York 1966–1967, 2 Bände. Faksimile-Ausgabe des Codex Montpellier: Polyphonies du XIIIe siecle. Le manuscrit H196 de la Faculté de Médecine de Montpellier. Bd. 1: Reproduction phototypique du manuscrit, hrsg. von Yvonne Rokseth, Paris 1935.
  4. Haines S. 90–92.
  5. Haines S. 93–94.
  6. Haines S. 99–100.
  7. Haines S. 100–108.

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