Medientheorie

Medientheorie

Als Medientheorie werden spezifische oder generalisierte Forschungsansätze verstanden, die das Wesen und die Wirkungsweise von Einzelmedien oder der Massenmedien generell zu erklären versuchen. Es werden darin häufig Rückbezüge genommen auf die Kommunikations- und die Informationstheorie.

Die Medientheorie gehört neben der Medienanalyse und der Mediengeschichte zu einer der drei zentralen Arbeitsfelder der Medienwissenschaft.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Zurzeit steht eine einheitliche Medientheorie noch aus. Ein Grund hierfür dürfte sein, dass es bislang noch nicht gelungen ist, eine Rubrizierung nach technischen Medienbegriffen mit einer sinnvollen und stimmigen Definition von Medium bzw. Medien in Einklang zu bringen.

Das hängt aber auch mit den Herangehensweisen zusammen: Die Philosophie, die selbst hinter einem scheinbar einfachen Begriff wie Technik ganze Felder von Fragestellungen aufdeckt, wird naturgemäß bei der Betrachtung der Medien nicht zu einheitlichen Schlussfolgerungen kommen.

So können einige Medientheorien eher als Philosophien der Medien (Medienphilosophie) betrachtet werden, andere sind soziologische Theorien (denen heute aber häufig der Vorwurf gemacht wird, die Medialität der Medien zu verkennen, und mit ungenügenden Begrifflichkeiten zu arbeiten). Man beachte hier auch die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen von geisteswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Medienwissenschaft. In der geistes-/kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft wird oftmals ein einheitlicher Medienbegriff gar nicht mehr angestrebt.

In der der Medienphilosophie nahestehenden Medienkritik verbindet sich Medientheorie mit der Kritik an den Folgen moderner Medien für Gesellschaft, Politik und Pädagogik. Dabei ist die neurophysiologisch begründete Richtung der Kritik (Manfred Spitzer) und die eher geisteswissenschaftlich oder kulturphilosophisch orientierte Richtung Neil Postmans und Giovanni Sartoris am einflussreichsten, aber auch umstrittensten.

Systematik der Medientheorien

Es existieren verschiedene Ansätze zur Systematisierung vorhandener Medientheorien.

Systematik nach Faulstich/Faßler

Werner Faulstich unterscheidet beispielsweise vier Kategorien von Medientheorien:

  1. Einzelmedientheorien: Film-, Hörfunk, Fernseh-, Theater-, Buch- und Brieftheorien.
  2. kommunikationstheoretische Medientheorien: Betrachtung von Medien als Teil eines Kommunikationsprozesses.
  3. gesellschaftskritische Medientheorien: explizit kritischer Ansatz; Unterscheidung nach dem emanzipatorischen Gehalt der Medientheorie, siehe auch: emanzipatorische Medientheorien.
    • Beispiel: Dieter Prokop: Massenkommunikation im Kontext der kapitalistischen Gesellschaft.
  4. systemtheoretische Medientheorien: Kommunikation als Teil oder Form des gesellschaftlichen Handelns.
    • Beispiel: Talcott Parsons: Geld und Macht als zentrale gesellschaftliche Interaktionsmedien.
    • Beispiel: Niklas Luhmann: symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien

Bei einem objektorientierten Ordnungsprinzip werden ebenfalls vier Gruppen von Einzelmedien unterschieden (nach Harry Pross):

  • Primärmedien: ohne Einsatz von Technik;
  • Sekundärmedien: Technikeinsatz bei der Produktion;
  • Tertiärmedien: Technikeinsatz bei der Produktion und Rezeption;

Manfred Faßler erweitert dieses Modell in seinem Buch "Was ist Kommunikation?" (1997) um

  • Quartärmedien: Technikeinsatz bei der digitalen Distribution.

Systematik nach Leschke

Folgende Ansätze lassen sich in einem Phasenmodell nach Rainer Leschke (2001) als Ordnungsmodelle unterscheiden:

Primäre Intermedialität

Ansätze der primären Intermedialität beschäftigen sich vor allem mit dem Verhältnis unterschiedlicher Medien zueinander (Medienvergleich); diese Ansätze entstehen meist, wenn eine neue Medientechnik entwickelt wird oder wenn ein Funktionswandel eintritt, beispielsweise beim Übergang zu den Massenmedien. Sie sind vortheoretisch und beschränken sich auf Einzelaussagen über ihre Untersuchungsgegenstände.

Beispiele:

Sekundäre Intermedialität

Intermedialitätstheorien: sekundäre Intermedialität

Rationalisierte Praxis

Wenn sich ein neues Medium etabliert hat, setzt eine an der Praxis orientierte Reflexion ein; dabei werden schwerpunktmäßig nicht mehr Vergleiche mit anderen Medien angestellt, es tritt dagegen das betrachtete Einzelmedium und dessen spezifische Eigenschaften in den Mittelpunkt, beispielsweise die Montage bei Sergej Eisenstein. Diese medientheoretischen Ansätze der rationalisierten Praxis erheben nicht den Anspruch einer vollständigen Theorie des Mediums – sie sind ebenfalls vortheoretisch – und versuchen, relevante Teilbereiche zu systematisieren.

Beispiele

Brechts Radiotheorie:

  • Bertolt Brecht: Radio – Eine vorsintflutliche Erfindung? In: Derselbe: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 18, Frankfurt a. M., S. 119-121.
  • Bertolt Brecht: Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks. In: Derselbe: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 18, Frankfurt a. M., S. 121-123.
  • Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: Derselbe: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 18, Frankfurt a. M., S. 127-134.
  • Bertolt Brecht: Über Verwertungen. In: Derselbe: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 18, Frankfurt a. M., S. 123-124.
  • Sergej M. Eisenstein: Montage der Attraktionen. Zur Inszenierung von A. N. Ostrovskijs Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste im Moskauer Proletkult. In: Franz-Josef Albersmeier (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 1990, S. 46-57.
  • Howard Rheingold: Tools for Thought. 1986.
  • Howard Rheingold: Virtuelle Gemeinschaft: Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers. Bonn/Paris/Reading (Massachusetts) u.a. 1994.
  • Sherry Turkle: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet. Reinbek bei Hamburg 1998
  • Dziga Vertov: Schriften zum Film. Hrsg. von W. Beilenhoff. München 1973

Einzelmedienontologien

Einzelmedienontologien versuchen, das Wesen eines neuen Mediums, das sich bereits etabliert hat, zu bestimmen. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen gehen sie dabei methodisch und systematisch vor; sie beschäftigen sich nicht mehr nur mit Details des Mediencharakters, sondern streben Allgemeingültigkeit in Bezug auf das Einzelmedium an. Einzelmedienontologien sind nur eingeschränkt auf andere Medien übertragbar.

Beispiele
  • Rudolf Arnheim: Rundfunk als Hörkunst. München/Wien 1979.
  • Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Frankfurt a M. 1988.
  • Béla Balázs: Der Geist des Films. Frankfurt a. M. 1972.
  • André Bazin: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Köln 1979.
  • Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt am Main 1989.
  • Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main 1991.
  • Werner Faulstich: Radiotheorie. Eine Studie zum Hörspiel The war of the worlds (1938) von Orson Welles. Tübingen 1981.
  • Jochen Hörisch : Gott, Geld, Medien - Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Frankfurt 2004. (edition suhrkamp 2363); Eine Geschichte der Medien (=Taschenbuchausgabe von Der Sinn und die Sinne - Eine Geschichte der Medien. Ffm 2001). Ffm 2004 (Suhrkamp Taschenbuch 3629), 2. Auflage. 2006.
  • Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1993.

Generelle (generalisierende) Medientheorien

Generelle beziehungsweise generalisierende Medientheorien werden entwickelt, um mehrere Medien theoretisch zu erfassen; sie werden in der Regel unter Rückgriff auf die Modelle und Methoden anderer Wissenschaftsdisziplinen wie der Kultur- oder Sozialwissenschaften entworfen. Sie ersetzen die Einzelmedienontologien nicht, sondern ergänzen diese.

Beispiele

Generelle (generalisierende) Medienontologien

Generelle beziehungsweise generalisierende Medienontologien versuchen, über die Aussagen der generellen (beziehungsweise generalisierenden) Medientheorien hinaus zu gehen und allgemeingültige Aussagen über das Wesen und die Struktur von Medien an sich zu machen und eine Universaltheorie zu schaffen; mit diesem Allgemeinheitsanspruch schließen sie eine Koexistenz mit der generellen Medientheorie aus, sie sind inkompatibel zueinander. Außerdem lösen sich generelle Medienontologien von benachbarten Wissenschaftsdisziplinen und stellen eigenständige medientheoretische Paradigmen auf.

  • Jean Baudrillard: Requiem für die Medien. (1972). In: Derselbe: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen. Berlin 1978.
  • Vilém Flusser: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien. Vilém Flusser Schriften Bd. 1. Stefan Bollmann, Edith Flusser (Hrsg), 2., durchgesehene Aufl. Mannheim 1995.
  • Vilém Flusser: Kommunikologie. Schriften Bd. 4. Stefan Bollmann, Edith Flusser (Hrsg.), Mannheim 1996.
  • Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Düsseldorf/Wien/New York/Moskau 1992.
  • Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Bonn/Paris/Reading, Massachusetts u.a. 1995; siehe auch: Gutenberg-Galaxis
  • Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. München/Wien 1986.
  • Paul Virilio: Der negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung. München/Wien 1989.

Intermedialitätstheorien: sekundäre Intermedialität

Die Ansätze der sekundären Intermedialität versuchen, Intermedialität zu verallgemeinern und eine generelle Medientheorie zu schaffen; sie bestimmen das Wesen von Medien aus der Interferenz der Medien zueinander. Sie bilden somit eine spezielle Variante der generellen Medienontologie.

  • Thomas Eicher, Ulf Bleckmann (Hrsg.): Intermedialität. Vom Bild zum Text. Bielefeld 1994
  • Jürgen E. Müller: Intermedialität. 1996
  • Karl Prümm: Intermedialität und Multimedialität. Eine Skizze medienwissenschaftlicher Forschungsfelder. In: Rainer Bohn, Eggo Müller; Rainer Ruppert (Hrsg.): Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft. Berlin 1988

Systematik nach Liebrand/Schneider/Bohnenkamp/Frahm

Liebrand/Schneider/Bohnenkamp/Frahm suchen nicht nach einem einheitlichen Medienbegriff, weil dieser ihrer Meinung nach überflüssig und aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu vermeiden ist. Sie untersuchen vielmehr, wann und unter welchen Bedingungen etwas zu einem Medium wird. Von daher unterscheiden sie in ihrer Einführung vier Perspektiven der Medientheorie, die mit vier Kernbegriffen zusammenhängen:

  • Zeichen (semiotische Medientheorien) – hier werden Theorien zusammengestellt, die sich mit der Zeichenhaftigkeit von Sprache bzw. Kultur insgesamt auseinandersetzen
  • Technik (anthropologische und technikzentrierte Medientheorien) – diese Rubrik fasst Theorien zusammen, die auf die 'körperliche' Interaktion von Mensch und Technik abstellen, wobei anthropologische Theorien ihren Ausgangspunkt vom Menschen, technikzentrierte Theorien von der Technik ausgehen
  • Gesellschaft (gesellschaftsorientierte Medientheorien) – an dieser Stelle werden Theorien genannt, die nicht nur die Beziehung von Medien und einzelne Menschen, sondern die gegenseitige Formierung von Medien und Gesellschaft in den Blick nehmen
  • System (systemtheoretische Medientheorien) – eine besondere Stelle nehmen systemtheoretische Medientheorien an, die auf kybernetischen und konstruktivistischen Annahmen basieren.

Siehe auch

Medien

Begriffe

Analyse und Geschichte

Theorien der Medien

Weblinks

Literatur

Lexika

  • Dieter Prokop: Gegen Medien-Lügen. Das neue Kulturindustrie-Lexikon. VSA Verlag, Hamburg 2004.
  • Helmut Schanze (mit Susanne Pütz): Metzler Lexikon Medientheorie, Medienwissenschaft: Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Metzler, Stuttgart u.a. 2002, ISBN 3-476-01761-3.

Textsammlungen

  • Claus Pias, Joseph Vogl et al.: Kursbuch Medienkultur. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999, ISBN 3-421-05310-3.
  • Günter Helmes, Werner Köster: Texte zur Medientheorie. Reclam, Ditzingen 2002, ISBN 3-15-018239-5.

Übersichtsdarstellungen

Medientheorie und Gesellschaftstheorie

  • Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Edition Tiamat, Berlin 1996.
  • Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004.
  • Dieter Prokop: Ästhetik der Kulturindustrie. Tectum Verlag, Marburg 2009.

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