Maßregelvollzug

Maßregelvollzug
Neubau der Maßregelvollzugsklinik in Köln-Westhoven

Im Maßregelvollzug (auch „Forensik“) werden nach § 63 und § 64 Strafgesetzbuch (StGB) unter bestimmten Umständen psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter untergebracht. Daneben gibt es als weitere Form der so genannten Maßregeln der Besserung und Sicherung die Sicherungsverwahrung, die nach § 66 StGB verhängt werden kann.

Inhaltsverzeichnis

Geschichtliche Hintergründe

Die gesetzliche Umsetzung eines zweigliedrigen Umgangs mit schweren Straftaten, Strafe für Tatschuld, Sicherung und Besserung für Schuldunfähigkeit wurde im September 1893 im Vorentwurf zum schweizerischen Strafgesetzbuch von dem Berner Professor Carl Stooss formuliert. Vom Entwurf dieses Gedankens in Europa bis zu seiner Festlegung dauerte es noch 40 Jahre. Am 24. November 1933, auf den Tag genau 7 Monate nach der Veröffentlichung der Ermächtigungsgesetze im Reichsgesetzblatt, wurden mit dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung (RGBl. Band 1, 995) die Maßregeln der Sicherung und Besserung in das Strafgesetzbuch eingeführt. Die Gesetze der Maßregeln der Besserung und Sicherung dienen im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland als die "zweite Spur" der strafrechtlichen Sanktionen.

Statistik

Maßregel-
vollzug[1][2]
Jahr Personen
1970 4.401
1975 3.677
1980 3.237
1985 3.462
1990 3.649
1995 4.275
2000 5.872
2005 8.113
2009 9.251

Problematisch ist die Zunahme der Einweisungen und der Rückgang von Entlassungen, die sich in mehreren Ländern Europas beobachten lässt. Nachdem in der Bundesrepublik die Psychiatriereform nach 1975 und eine große Strafrechtsreform seit 1973 zu einem Rückgang der Belegungen beitrugen, kommt es seit 1990 zu einem starken Anstieg, in vielen Fällen zur Überbelegung. Dies betrifft auch die Unterbringung von Alkoholikern und Drogenabhängigen nach § 64 StGB. Die Unterbringung nach § 63 StGB dauert immer länger, und weniger Patienten können entlassen werden. Im Durchschnitt haben Maßregelvollzugspatienten heute bereits sechs bis acht Jahre Unterbringung hinter sich.

Im alten Bundesgebiet im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt aufgrund strafrichterlicher Anordnung Untergebrachte waren am 1. Januar 1987 3.746 Personen, am 31. März 2009 9.251 Personen, davon einstweilige Unterbringung in psychiatrischem Krankenhaus bzw. Entziehungsanstalt nach § 126a StPO 794 Personen, im psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB ohne einstweilige Unterbringung 6.102 Personen, in der Entziehungsanstalt nach § 64 StGB 2.642 Personen, davon wiederum 1.605 im Drogenentzug.[2]

Kosten

Im Jahre 2004 betrugen in Mecklenburg-Vorpommern die Kosten pro Patientenjahr 92.923 Euro.[3] Eine Hochrechnung des vom Land Mecklenburg-Vorpommern festgelegten Tagessatzes ergibt einen Betrag in Höhe von 82.198 Euro, der die landesweit anfallenden Overhead-Kosten vernachlässigt.[3] Im Vergleich dazu kostete die reguläre Haft im Jahr 2003 nur 35.770 Euro.[3]

Rechtsgrundlagen

Fachlich zuständig ist die forensische Psychiatrie. Nach dem Strafgesetzbuch werden im Maßregelvollzug psychisch kranke Rechtsbrecher untergebracht, die im Sinne der § 20 oder § 21 StGB als schuldunfähig oder vermindert schuldfähig gelten, bei denen zugleich unter Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat eine weitere Gefährlichkeit zu erwarten ist und wenn ein Zusammenhang zwischen Delikt und psychischer Störung besteht. Bei suchtkranken Delinquenten muss für eine Einweisung in eine Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB keine Einschränkung der Schuldfähigkeit vorliegen.

Diese genannten Feststellungen trifft das Gericht in der Hauptverhandlung. Die Betroffenen werden anschließend in den Maßregelvollzug eingewiesen. Im Vollzug gelten die Maßregelvollzugsgesetze. Z.T. sind dies eigene Landesgesetze, z.T. Abschnitte in den Psychisch-Kranken-Gesetzen der anderen Bundesländer.

  • § 63 StGB − Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus − bezieht sich auf schuldunfähige oder vermindert schuldfähige Straftäter, die aufgrund ihrer Erkrankung als für die Allgemeinheit gefährlich gelten und von denen weitere erhebliche Straftaten (Gewaltdelikte, aber auch Sexualdelikte) zu erwarten sind. Diese Maßregel ist unbefristet.
  • § 64 StGB − Unterbringung in der Entziehungsanstalt − bezieht sich auf suchtkranke Straftäter. Diese Maßregel ist grundsätzlich auf zwei Jahre befristet, wobei sich die Aufenthaltsdauer in der Maßregel durch entsprechende Höchstfristberechnungen verschieben/verlängern kann.

Auftrag des Maßregelvollzugs

Beide Gruppen werden im Maßregelvollzug in erster Linie als Patienten betrachtet. Es gilt aber der gesetzliche Auftrag der „Besserung und Sicherung“. Seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1985 gilt für den Maßregelvollzug der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Im Zuge der Strafrechtsreformen seit 1998 wurde die Bewährungs-Entlassung aus dem Maßregelvollzug vom Gesetzgeber unter öffentlichem Druck deutlich erschwert.

Die Maßregelvollzugs-Einrichtungen sind psychiatrisch-forensische Fachkrankenhäuser oder Abteilungen an psychiatrischen Kliniken. Der Maßregelvollzug ist vom Strafvollzug und von der Sicherungsverwahrung gefährlicher (meist Wiederholungs-)Täter zu unterscheiden.

Krankheitsbilder

Viele der gemäß § 63 StGB untergebrachten Patienten leiden unter schizophrenen Psychosen, oft in Überlagerung mit Abhängigkeitserkrankungen. Eine andere große Gruppe leidet unter schweren Persönlichkeitsstörungen oder unter schwer behandelbaren sexuellen Abweichungen (Paraphilien) wie Pädophilie. Vergleichsweise seltener sind affektive Psychosen (etwa chronische Manien), andere Wahnkrankheiten (z. B. anhaltende wahnhafte Störung, isolierter Eifersuchtswahn) oder organisch bedingte Psychosen. Eine kleinere Gruppe hat eine Intelligenzminderung, oft einhergehend mit Impulskontrollstörung. Im Vollzug gemäß § 64 StGB steht die Alkoholabhängigkeit im Vordergrund, danach Drogenabhängigkeit, häufig liegen zugleich schwere Persönlichkeitsstörungen vor.

Schutz und Therapie

Maßregelvollzugseinrichtungen sollen ein Höchstmaß an Sicherheit für die Bevölkerung und eine sinnvolle Therapie für die Patienten (auch gegen deren Willen) gewährleisten. Zugleich müssen sie behandeln und eine möglichst weitgehende psychische Stabilisierung und Rehabilitation ermöglichen. Dieser Zielkonflikt ist nur lösbar durch abgestufte, ständig überprüfte Vollzugslockerungen von der Ausführung bis hin zum Freigang und Urlaub. Die Behandlung erstreckt sich über Jahre, weil die rechtlichen Anforderungen an die Entlassung hoch sind. Die Entlassung zur Bewährung ist erst bei eindeutig günstiger Prognosestellung durch forensische Sachverständige möglich. Die Ärztekammern und die DGPPN haben eigens hierfür Ausbildungsrichtlinien erarbeitet. Die Ausbildung zum forensischen Psychiater gemäß den Ärztekammern sieht eine Weiterbildungszeit von insgesamt 3 Jahren in entsprechenden Maßregelvollzuseinrichtungen vor.[4] Die DGPPN verlangt im Wesentlichen eine definierte Anzahl von unter Supervision der DGPPN angefertigten Gutachten.[5] Daneben gibt es die Rechtspsychologie, die sich mit der Ausbildung der Diplompsychologen befasst. Zuständig für die Resozialisierung der Maßregelvollzugspatienten im Sinne einer Letztverantwortung sind jedoch die Strafvollstreckungskammern, die mit Berufsrichtern besetzt sind. Diese überprüfen auch regelmäßig die Fortdauer der Maßregel. Rechtsgrundlage des Vollzuges und der psychotherapeutischen und medikamentösen Behandlung des Betroffenen sind die Maßregelvollzugsgesetze der Länder.

Die Sicherheit wird je nach Ausprägung des Krankheitsbildes und des Risikoprofils (Fluchtgefahr, Gewaltbereitschaft, psychische Stabilität, Art der Störung) einerseits durch technische Maßnahmen wie Sicherheitsschleusen, Überwachungskameras, Fenstervergitterung sowie Zäune gewährleistet, andererseits durch die Therapie der Patienten und deren Beziehungen zu den Betreuern und Therapeuten. Viele Patienten leiden selbst unter ihren psychischen Störungen oder durch deren Folgen. Wenn sie sich im Rahmen der Therapie psychisch stabilisieren oder „nachreifen“ oder neue Kompetenzen erwerben und dies im Erleben von wohlwollenden Beziehungsangeboten seitens der Therapeuten, ist dies die beste Sicherungsmaßnahme, die sowohl vor Entweichungen als auch vor Rückfällen schützt. Neue oder als besonders gefährlich eingestufte Patienten werden in besonders gesicherten Bereichen untergebracht. Eine nachhaltige Stabilisierung der psychischen Störungen und damit Sicherheit kann jedoch nur durch eine erfolgreiche Therapie erreicht werden. Dies erfordert (menschlich und fachlich) besonders qualifizierte Therapeuten, denen es gelingt, im „Täter“ auch den Menschen wahrzunehmen, auch wenn das Delikt furchtbar war, und diesen als Patienten ggf. über Jahre zu behandeln. Das spezifische Behandlungs-Know-how ist bisher als Ausbildungsinhalt kaum verfügbar, sondern existiert als gewonnenes Wissen an Maßregelvollzugseinrichtungen, die sich seit langem um Therapien bemühen. Bei der Prognose zum Risiko erneuter einschlägiger Straftaten werden klinisch-intuitive, statistische und kriterienorientierte Methoden unterschieden. Letztere verwenden Checklisten, die besonders risikoträchtige Merkmale des Patienten abprüfen und teilweise quantitativ bewertet werden. Die Gerichte verlangen zunehmend die Einbeziehung der Checklisten. Der Bundesgerichtshof BGH hat in den letzten Jahren die Anforderungen an die Prognose-Begutachtung stärker formalisiert und hierzu Leitlinien herausgegeben, welche von forensischen Experten mitentwickelt wurden.

Problem Entweichungen

Die Maßregelvollzugs-Einrichtungen verweisen immer wieder darauf hin, dass die Zahl der Entweichungen in letzter Zeit abgenommen hat und insbesondere gravierende einschlägige Straftaten durch aus dem Maßregelvollzug entwichene Straftäter statistisch selten sind. Dennoch gibt es in den Gemeinden, in denen Maßregelvollzugs-Einrichtungen angesiedelt sind, massive Ängste und Vorbehalte der Bevölkerung. Ein großes Problem ist die Verlängerung der Behandlungszeiten durch die erhöhten rechtlichen Anforderungen an die Entlassung zur Bewährung. Sie führt zu einer immer höheren Auslastung bis Überbelegung der Einrichtungen, die nicht hinreichend durch Personalzuwachs ausgeglichen wird. Teilweise kommt es noch zur Fehlbelegung allgemein-psychiatrischer Betten.

Modellprojekte

Modellprojekte in Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben belegt, dass die Zahl einschlägiger Rückfälle durch eine konsequente Nachbehandlung deutlich gesenkt wird. Inzwischen haben sich forensische Ambulanzen an den Kliniken in Hessen bewährt. Mehrere Bundesländer haben forensische Institutsambulanzen eingerichtet. So sollen Entlassungen beschleunigt werden, ohne das Risiko für die Bevölkerung zu erhöhen.

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt aufgrund strafrichterlicher Anordnung Untergebrachte am 31.3.
  2. a b Statistisches Bundesamt
  3. a b c Horst Entorf: Evaluation des Maßregelvollzugs: Grundzüge einer Kosten-Nutzen-Analyse. In: Darmstadt Discussion Papers in Economics. 183, 2007 (http://www.download.tu-darmstadt.de/wi/vwl/ddpie/ddpie_183.pdf).
  4. Bundesärztekammer PDF
  5. DGPPN


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