Mauerschützenprozesse

Mauerschützenprozesse

Als Mauerschützenprozesse werden Gerichtsverfahren wegen der tödlichen Schüsse an der Berliner Mauer und des Schießbefehls während der deutschen Teilung (1961 bis 1989) bezeichnet. In den von 1991 bis 2004 vor Gerichten in Berlin, Potsdam und Neuruppin geführten Verfahren waren sowohl ausführende Personen als auch politisch und militärisch Verantwortliche des DDR-Regimes angeklagt.

Inhaltsverzeichnis

Legitimation

Die Verfahren konnten durchgeführt werden, weil Vorabprüfungen mit der Feststellung endeten, dass Tötungen von Menschen auch in der DDR strafbar waren. Diese Feststellung geht auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zurück, der im Verfahren wegen des Todes von Manfred Weylandt 1994 beschloss, dass die gezielte Tötung von unbewaffneten Flüchtlingen „wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und völkerrechtlich geschützte Menschenrechte“ auch in der DDR unrecht war.[1] Ein Sonderfall waren die Schüsse auf fahnenflüchtige NVA-Soldaten, da dieses auch in der Bundesrepublik strafbar war.[2]

Verfahren

Die Verfahren basierten wesentlich auf Unterlagen, die von der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter seit ihrer Gründung 1961 gesammelt worden waren.[3]

Insgesamt kam es in Berlin und Potsdam zu 112 Verfahren gegen 246 Personen, die sich als Schützen oder Tatbeteiligte vor Gericht verantworten mussten. Etwa die Hälfte der Angeklagten wurden freigesprochen. 132 Angeklagte wurden wegen ihrer Taten oder Tatbeteiligungen zu Freiheits- oder Bewährungsstrafen verurteilt. Darunter waren 10 Mitglieder der SED-Führung, 42 führende Militärs und 80 ehemalige Grenzsoldaten. Dazu kamen 19 Verfahren mit 31 Angeklagten in Neuruppin, die für 19 Todesschützen mit Bewährungsstrafen endeten. Für den Mord an Walter Kittel wurde der Todesschütze mit der längsten Freiheitsstrafe von 10 Jahren belegt. Im Allgemeinen bekamen die Todesschützen Strafen zwischen 6 und 24 Monaten auf Bewährung, während die Befehlshabenden mit zunehmender Verantwortung höhere Strafen bekamen.[2] Gegen die ausführenden Soldaten an der innerdeutschen Grenze gab es eigene Verfahren an anderen Gerichten.

Angeklagte

Die meisten Angeklagten waren ehemalige Grenzsoldaten und Mannschaftsdienstgrade der Nationalen Volksarmee (NVA), die an der Grenze schossen oder den Schützen halfen. Außerdem waren Personen aus der politischen Führung der DDR angeklagt.

Prozess gegen die Staatsführung

Der erste große Prozess begann am 13. November 1992 vor der 27. Kammer des Landgericht Berlins. Verfahren gegen einzelne Angeklagte wurden jedoch abgetrennt. Es waren folgende Personen angeklagt:[4]

  • Erich Honecker (ehemaliger Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats (NVR), des Staatsrates und Generalsekretär des ZK der SED): Das Berliner Verfassungsgericht hob die Entscheidung zur Verhandlungsfähigkeit der 27. Kammer des Landgericht Berlins auf. Honecker verließ Deutschland am Tag seiner Freilassung in einer Sondermaschine Richtung Chile. Die Kosten für den Flug trug das Land Berlin.
  • Erich Mielke (Minister für Staatssicherheit): Das Verfahren wurde abgetrennt und später wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Mielke wurde in einem anderen Verfahren wegen eines Doppelmordes an Polizisten 1931 verurteilt.
  • Willi Stoph (Vorsitzender des Ministerrats): Nachdem Stoph am ersten Verhandlungstag nicht erschien, wurde das Verfahren abgetrennt und später wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt.
  • Heinz Keßler (Minister für Verteidigung) bekam siebeneinhalb Jahre Haft wegen Anstiftung zum Totschlag.
  • Fritz Streletz (Stellvertretender Minister für Nationale Verteidigung und Chef des Hauptstabes der NVA) bekam fünfeinhalb Jahre Haft wegen Anstiftung zum Totschlag.
  • Hans Albrecht bekam dreieinhalb Jahre Haft wegen Beihilfe zum Totschlag. Der Bundesgerichtshof verlängerte die Strafe später auf fünf Jahre.

Politbüroprozess

1997 endete vor dem Landgericht Berlin der Prozess gegen Mitglieder des Politbüros der SED. Urteile ergingen gegen Egon Krenz (sechseinhalb Jahre Haft), Günter Schabowski und Günther Kleiber (je drei Jahre Haft). Nachdem das Urteil Anfang 2000 vom Bundesgerichtshof bestätigt wurde, traten die drei ihre Haftstrafen an. Die Verfahren gegen die ebenfalls angeklagten Harry Tisch, Kurt Hager, Erich Mückenberger und Horst Dohlus wurden wegen des Todes Tischs oder aus gesundheitlichen Gründen eingestellt.[5]

Letzte Prozesse

Als letzte Mitglieder des Politbüros wurden im August 2004 Hans-Joachim Böhme und Werner Lorenz vom Landgericht Berlin zu Bewährungsstrafen verurteilt. Der letzte Prozess gegen DDR-Grenzsoldaten ging am 9. November 2004 – genau 15 Jahre nach dem Fall der Mauer – mit einem Schuldspruch zu Ende.

Literatur

Einzelnachweise

  1. Az5 StR 167/94 26. Juli 1994, zitiert nach Gerhad Werle 2002: Strafjustiz und DDR-Unrecht Band 2, Teilband 1, S. 182
  2. a b Herlte, 2009 S. 24 f.
  3. spiegel.de 18. Dezember 1989: Hochwasser in den Akten. - Ost-Berliner Aufklärer möchten nun die Unterlagen aus der westdeutschen Sammelstelle für DDR-Straftaten haben.
  4. Bräutigam, S. 971 ff.
  5. Politbüroprozess bei chronikderwende.de (redaktionell betreut vom rbb und der ARD

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