Marienthalstudie

Marienthalstudie

Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit (1933) ist der Titel einer Untersuchung von Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel zu den Folgen von Arbeitslosigkeit, die zu den Klassikern der empirischen Soziologie gehört.

Inhaltsverzeichnis

Die Untersuchung

Heute würde das von einem Team um Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld herum ausgeführte Projekt als "Action research" bezeichnet werden (vgl. auch: "Teilnehmende Beobachtung", "Feldforschung") und als Beispiel der Theoriebildung in Kombination von quantitativen und qualitativen Daten, vorgefundenen Daten und erhobenen Daten dienen. Auch wenn diese Konzepte jünger als die Arbeit über die Arbeitslosen von Marienthal sind, wurden hier - unter dem Begriff "Soziographie" - Meilensteine für diese Methoden gesetzt.

Die Arbeitersiedlung Marienthal liegt in Gramatneusiedl, einem Ort in der Nähe Wiens. Nach der Schließung einer Fabrik, nach deren Inbetriebnahme die Gemeinde gegründet worden war, entstand jäh eine umfangreiche Arbeitslosigkeit. Um Zugang zu den Menschen in Marienthal zu gewinnen, haben die Autoren dieser Studie nicht nur Kontakt zu politischen und gesellschaftlichen Gruppen und Vereinen gesucht, sondern auch Kleidersammlungen, ärztliche Sprechstunden, Erziehungsberatungen, Turn- und Zeichenkurse durchgeführt. Ziel war es, die Menschen für das Forschungsprojekt zu gewinnen. Zugleich diente jedes dieser Mittel (inkl. der in dieser Hinsicht ethisch fragwürdigen Sprechstunden) auch dazu, durch teilnehmende Beobachtung Informationen über die Marienthaler Bevölkerung zu erlangen.

Für jede Familie in Marienthal wurden Katasterblätter angelegt, auf denen die verschiedenen Beobachtungen und Interviews festgehalten wurden, vom ordentlichen oder ungeordneten Zustand der Wohnung beim Besuch wegen der Kleidersammlung bis hin zu Dingen, die bei der Erziehungsberatung, beim Arztbesuch oder bei der Beobachtung im "Arbeiterheim" besprochen wurden. Es wurden etwa dreißig ausführliche Interviews geführt, einige Journale über die Zeiteinteilung angefertigt und Essenslisten erstellt. Die amtliche Statistik wurde ebenfalls herangezogen.

Das veröffentlichte Ergebnis der Studie gibt einen breiten und tiefgehenden Überblick in das Leben mit der damaligen Form von Arbeitslosenunterstützung, ohne baldige Aussicht auf Beschäftigung. Insbesondere wird nachgezeichnet, wie sich aufgrund der Hoffnungslosigkeit durch die Arbeitslosigkeit das Zeitbudget verändert. Wenn eigentlich eine Aufgabe zu erfüllen wäre, wird sie trotzdem liegen gelassen. Es fehlt die Zeiteinteilung, das feste Raster, eine Tagesstruktur.

Auswirkungen der Studie

Durch Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden der Sozialforschung (Beobachtung, Strukturierte Beobachtungsprotokolle, Haushaltserhebungen, Fragebögen, Zeitverwendungsbögen, Interviews, Gespräche und gleichzeitige Hilfestellungen) ist diese 1933 erstveröffentlichte Arbeit methodisch richtungsweisend - auch wenn ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum erst Jahr(zehnt)e später erfolgte. Die Gruppe österreichischer Forschungssoziologen wies am Beispiel der von der niedergegangenen Textilindustrie geprägten Kleinstadt Marienthal in ihrer Feldforschungsuntersuchung erstmalig in dieser Form, Präzision und Tiefe sozio-psychologische Wirkungen von Arbeitslosigkeit nach und zeigte im Hauptergebnis, dass Arbeitslosigkeit nicht (wie bis dahin meist erwartet) zur aktiven Revolution, sondern vielmehr zur passiven Resignation führt.

Die Arbeitslosen von Marienthal ist aber nicht nur eine mit vielen Beispielen illustrierte dichte empirische Beschreibung, sondern auch eine sozialtheoretisch anregende Arbeit mit Blick auf die vier Haltungstypen der auch innerlich Ungebrochenen, der Resignierten, der Verzweifelten und der verwahrlost Apathischen – wobei lediglich der erste Typus noch „Pläne und Hoffnungen für die Zukunft“ kannte, während die Resignation, Verzweiflung und Apathie der drei anderen Typen „zum Verzicht auf eine Zukunft führte, die nicht einmal mehr in der Phantasie als Plan eine Rolle spielt“. Als entscheidende Dimension erwies sich die Fähigkeit, "für die Zukunft Pläne und Hoffnungen" bewahren und entwickeln zu können, also eine grundlegende Dimension humanen Gattungsvermögens nicht zu verlieren: die Antizipation möglicher Entwicklungen.

Das Buch wird durch einen in den 1950er Jahren hinzugefügten "Vorspruch" von Lazarsfeld, in der er die Arbeit in ihrem Verhältnis zu damaligen und zeitgenössischen Schulen der Soziologie einordnet, und einen methodischen Anhang von Zeisel zur Geschichte der Soziografie ergänzt.

Verfilmung

Einstweilen wird es Mittag ist ein bedeutender österreichischer Fernsehfilm über die Marienthalstudie von Karin Brandauer (Erstsendung 1. Mai 1988 im ORF).

Textausgabe

  • Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. (mit Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel) Hirzel, Leipzig 1933, später: Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, ISBN 3-518-10769-0

Literatur

  • Richard Albrecht: Zukunftsperspektiven: Arbeitslosigkeit - Subjekt- und Realanalyse; in: Forum Wissenschaft, 24 (2007) 1, S. 61-63 ([1])
  • Reinhard Müller: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie. Studienverlag Innsbruck 2008, ISBN 978-3-7065-4347-7

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