Lyssenkoismus

Lyssenkoismus

Der Lyssenkoismus war eine von dem Agrarwissenschaftler Trofim Denissowitsch Lyssenko begründete pseudowissenschaftliche Lehre, unter anderem auf Basis des Lamarckismus. Lyssenko gewann in der stalinistischen Sowjetunion vor allem zwischen 1940 und 1964 eine tonangebende Stellung. Die dadurch verursachten schweren Ernteeinbußen wurden angeblichen Saboteuren zugeschrieben. Damit verbunden war ein Feldzug gegen die sogenannte „faschistische“ und „bourgeoise“ Genetik sowie gegen jene Biologen, die sich mit dieser Disziplin befassten. Das zentrale Postulat des Lyssenkoismus lautete, dass die Eigenschaften von Kulturpflanzen und anderen Organismen nicht durch Gene, sondern durch Umweltbedingungen bestimmt werden.

Die Entwicklung des Lyssenkoismus war mehr als eine ideologisch bedingte Bevorzugung einer Forschungsrichtung. Nikolai Iwanowitsch Wawilow hatte Lyssenko aufgrund dessen Forschungen zur Pflanzenphysiologie über Jahre gefördert. Wawilow hatte genau das System der zentralisierten Forschungseinrichtungen wie der Leninakademie der Agrarwissenschaften eingerichtet, welches von Lyssenko dann übernommen und mit dessen Vorgaben beherrscht wurde.

Dasselbe System funktionierte beim Aufbau der Rüstungsindustrie und des Russischen Raumfahrtprogramms und fand international große Beachtung. Die Landwirtschaft hingegen blieb bis zum Ende der Sowjetunion ein Krisenbereich.[1] In dem Sinne gilt der Lyssenkoismus nach wie vor als Mahnung für die Wissenschaftspolitik, hinsichtlich eines zu starken Einflusses der Politik auf die Wissenschaft wie auch hinsichtlich der Benutzung politischer Kontakte zum Aufstieg einzelner Wissenschaftler.

Inhaltsverzeichnis

Lyssenkos Aufstieg

Lyssenko (links) während einer Rede 1935 im Kreml, rechts oben Stalin

Im Jahre 1931 verabschiedete das Zentralkomitee der KPdSU eine Resolution, wonach innerhalb weniger Jahre alle in der UdSSR angebauten Getreidearten in vielfältiger Weise verbessert und zugleich an alle Anbaugebiete angepasst werden sollten.[2] Dieser Plan war aus wissenschaftlicher Sicht unsinnig und selbst in einer viel längeren Zeitspanne nicht erfüllbar. Auf der Konferenz der sowjetischen Akademie der Landwirtschafts-Wissenschaften 1936 trat jedoch der Agrarwissenschaftler Trofim Denissowitsch Lyssenko auf, der damals am Allunionsinstitut für Genetik und Zuchtverfahren in Odessa tätig war, und kündigte an, die veranschlagten Ziele mittels unkonventioneller Methoden in sehr kurzer Zeit erreichen zu können. Lyssenko verwarf die herrschende Lehre in der Genetik und behauptete, es gebe gar keine Gene und man könne verschiedene Getreidesorten durch geeignete Kulturbedingungen ineinander umwandeln. Dabei genoss er die persönliche Unterstützung des Diktators Josef Stalin, der ihn öffentlich lobte und protegierte.

Schon 1938 wurde Lyssenko zum Präsidenten der Akademie für Landwirtschafts-Wissenschaften ernannt, und seine Thesen erlangten bald allgemeine Gültigkeit in der SU, während kritische Stimmen − wie allgemein in jener Phase des Stalinismus – massiv unterdrückt wurden und kaum zur Geltung kamen. Zu den zentralen Themen des Lyssenkoismus gehörte neben der Veränderung von Getreidesorten durch spezielle Kulturbedingungen auch die „Artumwandlung“, bei der ebenfalls durch bestimmte Kulturbedingungen etwa aus Weizenkörnern Roggenpflanzen hervorgehen sollten.[3] Wichtig war auch die Technik, insbesondere Baum-Setzlinge in „Nestern“ eng beieinander auszupflanzen, damit im Zuge der „Selbstausdünnung“ nur die besten überlebten und die übrigen sich „opferten“. Darüber hinaus propagierte Lyssenko besondere Düngermischungen wie etwa die Kombination von Superphosphat und Kalk, die wirkungslos ist, weil diese beiden Substanzen sich zu unlöslichem Calciumphosphat verbinden.

Die sowjetischen Massenmedien stellten Lyssenko als ein Genie dar, das die Landwirtschaft revolutionierte. Die Propaganda liebte es, Geschichten von einfachen Bauern groß heraus zu bringen, die durch ihre Geschicklichkeit und Erfahrung praktische Probleme lösten. Lyssenko genoss diese Aufmerksamkeit der Medien und nutzte sie, um Genetiker anzuschwärzen und seine eigenen Ideen zu verbreiten. Wo er sich in der Fachwissenschaft nicht durchsetzen konnte, half ihm die Propaganda: Lyssenkos Erfolge wurden übertrieben und die Misserfolge totgeschwiegen. Er führte selten kontrollierte Experimente durch, denn hauptsächlich verließ er sich auf Fragebögen von Bauern, mit denen er zum Beispiel „bewies“, dass die von ihm propagierte Vernalisation die Weizenerträge um 15% erhöhen würde.

Lyssenkos politischer Erfolg beruhte erheblich auf seiner Herkunft als Bauernkind. Die meisten Biologen stammten aus dem Bürgertum, und das war seit der Oktoberrevolution ideologisch suspekt. Arbeiter und Bauern sollten jetzt die herrschende Schicht stellen. Obendrein war Lyssenko begeisterter Anhänger Stalins und seines Systems.

Lyssenko hatte schnell „Lösungen“ für aktuelle Probleme parat. Wann immer die Kommunistische Partei gerade entschieden hatte, eine neue Getreidesorte zu verwenden oder neues Agrarland zu erschließen - Lyssenko tauchte mit praktischen Ratschlägen auf. Er entwickelte seine Ideen - die Vernalisation, das Blätterabschneiden bei Baumwollpflanzen, die gruppenweise Anpflanzung von Bäumen bis hin zu merkwürdigen Düngermischungen – in einem so hohen Tempo, dass die akademischen Wissenschaftler kaum Zeit hatten, diese teilweise unnützen und oftmals gefährlichen Lehren zu untersuchen und ggf. zu widerlegen.

Konsequenzen für die Sowjetunion und die Wissenschaft

Die staatliche Presse applaudierte Lyssenkos „praktischen Fortschritten“ und zog die Motive seiner Kritiker in Zweifel. Schließlich wurde er von Stalin zu seinem persönlichen Landwirtschaftsberater ernannt - eine Position, die Lyssenko dafür nutzte, Biologen als „Fliegen-Liebhaber und Menschenhasser“ zu denunzieren. Außerdem setzte er die Hetze gegen „Saboteure“ fort, die angeblich vorhatten, die Wirtschaft der UdSSR zu ruinieren. Sabotage war ein Straftatbestand in der Sowjetunion. [4] Lyssenko bestritt – wie auch die Partei – jeden Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Biologie.

Die Missernten der sowjetischen Landwirtschaft in den 1930er Jahren beruhten zum großen Teil darauf, dass viele Bauern die Kollektivierungspolitik ablehnten. Lyssenkos Methoden boten einen Weg, die Bauern aktiv am Ernteerfolg und an der „Landwirtschaftsrevolution“ teilnehmen zu lassen. Für die Parteifunktionäre war ein Bauer, der – für welchen Zweck auch immer – Getreide ansäte, nützlich, im Gegensatz zur vorher verbreiteten Praxis, Getreide zu zerstören, um es nicht dem Staat zu überlassen.

Die akademischen Wissenschaftler dagegen konnten keine einfachen oder sofort umsetzbaren Neuerungen vorschlagen, und so geriet die Scharlatanerie Lyssenkos bei der kommunistischen Partei in einen guten Ruf. Dieser Ruf breitete sich auch über die Grenzen der Sowjetunion in anderen kommunistischen Parteien aus, wo Lyssenkos Thesen zeitweise herrschende Doktrin wurden.

Eine eigene Wissenschaft Lyssenkos existierte niemals. Er kopierte die Ideen Iwan Mitschurins und wendete eine Art Lamarckismus an. Die Pflanzen, so Lyssenko, wechselten ihre Gestalt durch Hybridisierung, Pfropfung und andere nicht-genetische Techniken. Zahlreiche Forscher nehmen an, dass Lyssenkos Erfolg in der Sowjetunion darauf beruhte, dass nach marxistischer Auffassung erbliche Einflüsse auf die menschliche Entwicklung minimal seien. Andere betonen, dass er seine Modelle nie auf die Humanbiologie anwandte, sondern sie streng auf Pflanzen beschränkte. Vorstellungen wie Erblichkeit oder Eugenik lehnte Lyssenko als bourgeoisen Einfluss auf die Wissenschaft ab, der in der Diktatur des Proletariats bekämpft werden musste.

Der Lyssenkoismus war – wie die Japhetitentheorie Nikolai Jakowlewitsch Marrs in der Linguistik – ein Auswuchs des Umstandes, dass ein pseudowissenschaftlicher Ansatz aus ideologischen Gründen in einer totalitären Diktatur mit allen Mitteln gefördert wurde.

Verfolgung der Wissenschaftler und nachfolgende Entwicklung

Die zunächst noch offenen Auseinandersetzungen zwischen den Genetikern und den Anhängern Lyssenkos wurden entschieden, als die Genetiker durch den „Großen Terror“ 1937 sämtliche Fürsprecher in der Politik verloren. Daraufhin wurden auch viele Wissenschaftler (u.a. Solomon Levit, Grigorii Levitskii, Isaak Agol, Georgii Nadson) verhaftet und umgebracht unter dem Vorwand, mit „Feinden des Volkes“ zu kooperieren.[5][6][7] Andere Genetiker wurden durch Rufschädigung von ihren Stellen verdrängt. Zu den wenigen Forschungszentren der Genetiker, die sich etwas länger halten konnten, gehörten das von Nikolai Koltsov, der 1940 vergiftet wurde[6], sowie das Institut von Nikolai Wawilow. Wawilow wurde 1940 verhaftet und starb drei Jahre später im Gefängnis.

Genetik wurde als eine „faschistische und bourgeoise Wissenschaft“ bezeichnet. Hier zeichnet sich eine Parallele zu der unter den Nationalsozialisten als „jüdisch“ verfolgten Relativitätstheorie ab, die durch eine „Deutsche Physik“ ersetzt werden sollte. 1948 wurde die Genetik schließlich offiziell zur „bourgeoisen Pseudowissenschaft“ erklärt – daraufhin wurden alle verbliebenen Genetiker entlassen oder eingesperrt. Auch Evolutionsbiologen wie Ivan Schmalhausen wurden ihrer Ämter enthoben.

Auch Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow unterstützte Lyssenko bedingungslos, und erst nach Chruschtschows Sturz 1964, der unter anderem durch die anhaltenden Misserfolge in der Landwirtschaft verursacht war, konnten Lyssenkos Irrlehren als solche bezeichnet und verworfen werden.[3] 1965/66 wurde der Biologie-Unterricht in der Sowjetunion ausgesetzt, um neue Lehrpläne entwickeln und die Lehrer umschulen zu können.

Der US-amerikanische Physiker Carl Sagan verglich das Bestreben evangelikaler Kreise in den USA, den Kreationismus in die Lehrpläne der Schulen einzuführen, mit einer Vorstufe des Lyssenkoismus, da kreationistisch orientierte Politiker bestimmen wollen, was als Wissenschaft zu gelten hat.

Einzelnachweise

  1. The Lysenko Effect: The Politics of Science, Nils Roll-Hansen, Humanity Books: 2005
  2. Peter von Sengbusch: Einführung in die Allgemeine Biologie, 2. Aufl. Springer 1977, S.148
  3. a b Sengbusch, S. 149
  4. siehe [1]
  5. Nikolai Krementsov: Stalinist Science. Princeton University Press (1997)
  6. a b Valery N. Soyfer: The consequences of political dictatorship for Russian science Nat Rev Gen 2, 723–729 (2001)
  7. Nikolai Krementsov: A “second front” in Soviet genetics: The international dimension of the Lysenko controversy, 1944–1947. Journal of the History of Biology 29 (1996)

Literatur

  • Die Lage in der biologischen Wissenschaft. Tagung der Lenin-Akademie der landwirtschaftlichen Wissenschaften der UdSSR. 31. Juli - 7.August 1948. Stenographischer Bericht. Verlag für fremdsprachige Literatur. Moskau 1949. (darin das gleichnamige Referat Lyssenkos: S.9-59)
  • Shores A. Medwedjew: Der Fall Lyssenko – Eine Wissenschaft kapituliert. Hoffmann & Campe 1982.
  • Johann-Peter Regelmann: Die Geschichte des Lyssenkoismus. Rita G. Fischer Verlag Frankfurt (Main) 1980.
  • Valery N. Soyfer: Lysenko and the Tragedy of Soviet Science, Rutgers University Press, 1994

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