Ludwik Fleck

Ludwik Fleck

Ludwik Fleck (* 11. Juli 1896 in Lemberg, Österreich-Ungarn; † 5. Juni 1961 in Nes Ziona, Israel) war ein polnischer Mikrobiologe, Mediziner und Wissenschaftstheoretiker. Sein philosophisches Hauptwerk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache ist ein Klassiker der modernen Wissenschaftsforschung und einflussreich in Wissenschaftsgeschichte, -theorie und -soziologie.

Nach Fleck muss eine erfolgreiche Erkenntnistheorie die historischen und sozialen Faktoren berücksichtigen, durch die Erkenntniskriterien geformt werden. Im Zusammenhang mit dieser These lehnt er die Formulierung universeller Erkenntniskriterien ab und gilt als Vordenker der historischen Epistemologie.[1] Flecks philosophisches Werk blieb zu seinen Lebzeiten weitgehend unberücksichtigt, in den ersten 20 Jahren nach der Veröffentlichung seines Hauptwerkes wurden vermutlich weniger als 500 Exemplare verkauft.[2] Die neuere Rezeption wurde durch Thomas S. Kuhn angestoßen, der im Vorwort von Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen bemerkte, dass Fleck viele „meiner eigenen Gedanken vorwegnimmt“.[3]

Inhaltsverzeichnis

Leben

Lwów, die Geburtsstadt von Ludwik Fleck, war damals ein multikulturelles Zentrum in der k.u.k.-Vielvölker-Provinz Galizien, wurde später polnisch und liegt heute in der Ukraine. Fleck besuchte das polnische Lyceum und schrieb sich später als Medizin-Student an der Universität Lwów ein. 1920 wurde er Assistent des Typhus-Spezialisten Rudolf Weigl in Przemyśl, dem er 1921 zurück an die Universität in Lwów folgte. Von 1923 bis 1935 arbeitete er in der Abteilung für Innere Medizin im Allgemeinen Krankenhaus in Lwów und als Direktor des Bakteriologischen Instituts der lokalen Sozialversicherungs-Behörden. Ab 1935 arbeitete er in einem von ihm selbst gegründeten Bakteriologischen Institut.

Nach dem Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt wurde Lwów 1939 sowjetisch besetzt. Die Medizin-Ausbildung der Universität wurde ein unabhängiges Kolleg, das sogenannte Ukrainische Institut für Medizin, an dem Fleck als Lehrer und als Direktor der Mikrobiologischen Abteilung arbeitete. Beim deutschen Angriff auf die Sowjetunion wurde Lwow von deutschen Truppen besetzt und Fleck verlor seine Stellung. Zusammen mit seiner Frau Ernestina Waldman und dem Sohn Ryszard wurde er wegen seiner jüdischen Herkunft gezwungen, in das Ghetto Lemberg zu ziehen, wo er als Wissenschaftler und Arzt arbeitete. Fleck isolierte Impfstoffe aus dem Urin von Typhus-Kranken. Da er vor dem Krieg international publiziert hatte, wurden die Nazis auf ihn aufmerksam und sperrten ihn im Dezember 1942 zusammen mit seiner Familie ein, um ihn zu zwingen, für die Laokoon-Pharmazeutische Fabrik Typhus-Serum zu produzieren. Ende Januar wurde er mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert, wo er ab dem 7. Februar 1943 im Block 10 in der Serum-Diagnose von Typhus, Syphilis und anderen Krankheiten beschäftigt wurde. Ab Dezember 1943 bis zur Befreiung am 11. April 1945 wurde er gezwungen, im Labor von Block 50 des Konzentrationslagers Buchenwald für das sogenannte Hygiene-Institut der Waffen-SS einen Impfstoff gegen das Fleckfieber zu entwickeln. Er soll wirkungslose klare Impfflüssigkeit an die SS ausgeliefert und aussortierte, aber wirkungsvolle, getrübte Impfflüssigkeit für Häftlinge verwendet haben. [4]

Fleck, seine Frau und sein Sohn überlebten den Zweiten Weltkrieg. Zwischen 1945 und 1952 war er Chef des Mikrobiologischen Instituts der Fakultät für Medizin der Marie Curie-Universität von Lublin; 1952 zog er mit seiner Frau nach Warschau, wo er Direktor der Abteilung für Mikrobiologie und Immunologie des Staatlichen Instituts für Mutter und Kind wurde. 1954 wurde er zum Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Hauptforschungsgegenstand für Fleck waren die agglutinierenden Leukozyten unter Bedingungen des Stresses und bei Infektionen. In den Jahren nach 1945 betreute er mehr als 50 Doktorarbeiten und publizierte mehr als 80 Studien in polnischen, französischen, englischen und Schweizer wissenschaftlichen Zeitschriften. Vorlesungen und Kongresse besuchte Fleck in Dänemark, Frankreich, der UdSSR, den USA und Brasilien.

Nach einem Herzinfarkt und einer Krebsdiagnose (Lymphsarkom) emigrierte Fleck mit seiner Frau zum Sohn Ryszard Fleck, der nach dem Krieg nach Israel ausgewandert war. Hier arbeitete Fleck am Institut für biologische Forschung in Ness Ziona, wo er am 5. Juni 1961 im Alter von 64 Jahren nach einem zweiten Herzinfarkt starb.

Frühe wissenschaftstheoretische Schriften

Flecks erste wissenschaftstheoretische Arbeit „Über einige Merkmale des ärztlichen Denkens“ wurde 1927 in polnischer Sprache publiziert und basierte auf einem Vortrag, den er 1926 vor der Gesellschaft der Freunde der Geschichte der Medizin in Lwów gehalten hatte. Der Vortrag verdeutlicht, auf welche Weise Flecks Wissenschaftsverständnis durch seinen medizinischen Standpunkt geprägt wurde. Nach Fleck zeichnet sich die Medizin durch eine Reihe von Merkmalen aus, die von Wissenschaftstheoretikern und -historikern vernachlässigt werden, da sie in der Regel von dem Paradigma der Physik oder Chemie ausgehen. „Der Gegenstand ärztlicher Erkenntnis selbst unterscheidet sich im Grundsatz vom Gegenstand naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Während der Naturforscher typische, normale Phänomene sucht, studiert der Arzt gerade die nicht typischen, nicht normalen, krankhaften Phänomene.“[5] Dies habe zur Folge, dass das Ziel des medizinischen Denkens nicht auf die Formulierung allgemeiner Naturgesetze ausgerichtet sei und dass die Krankheitstypen der medizinischen Taxonomie zwangsläufig idealisierte Fiktionen darstellten. Die medizinische Beschreibung könne daher auch keine allgemeingültige Theorie formulieren, sondern sei immer an praktisch dominierte Standpunkte gebunden.

Flecks Theorie des ärztlichen Denkens nimmt bereits einige seiner später ausformulierten Ideen zur Kontextgebundenheit des Wissens voraus, bleibt jedoch auf die Medizin beschränkt, während den klassischen Naturwissenschaften eine Standpunkt-unabhängige Beschreibung der Welt durch allgemeine Naturgesetze zugesprochen wird. Dies ändert sich allerdings bereits mit Flecks zweitem wissenschaftstheoretischen Aufsatz „Zur Krise der Wirklichkeit“, der 1929 in der Zeitschrift Die Naturwissenschaften erschien. Dieser Aufsatz enthält einige von Flecks am stärksten relativistisch anmutenden Beschreibungen, die auf jede Form von Denken und Wissenschaft bezogen sind: „Jedes denkende Individuum hat also als Mitglied irgendeiner Gesellschaft seine eigene Wirklichkeit, in der und nach der es lebt. Jeder Mensch besitzt sogar viele, zum Teil widersprechende Wirklichkeiten: die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens, eine berufliche, eine religiöse, eine politische und eine kleine wissenschaftliche Wirklichkeit.“[6] Flecks Aufsatz war eine Reaktion auf Kurt Riezlers Artikel „Die Krise der ‚Wirklichkeit’“, der ein Jahr zuvor in der gleichen Zeitschrift erschienen war.[7] Nach Riezler befindet sich die Idee einer absoluten Wirklichkeit in der Krise, da im Rahmen der Relativitätstheorie und Quantenphysik das scheinbar sicherste Wissen erschüttert werde und die strikten Naturgesetze durch „statistische Gesetzmäßigkeiten“ ersetzt würden. Fleck reagiert auf diese Diagnose, indem er fordert, die Idee einer absoluten Wirklichkeit aufzugeben und die Verschränkung von Beobachter und Beobachtetem von der Quantentheorie allgemein auf die Wissenschaften auszudehnen.

Der Wissenschaftshistoriker Christian Bonah hat darauf hingewiesen, dass die naturwissenschaftlichen Krisendebatten der Zwischenkriegszeit nicht auf die Physik beschränkt blieben, sondern auch in Flecks eigenem Forschungsgebiet, der Medizin, eine herausragende Bedeutung erlangten.[8] 1929 veröffentlichte etwa Julius Moses einen Text mit dem Titel „Die Krise der Medizin“, in dem er den medizinischen Disziplinen vorwarf, sich mit einem zunehmend mechanisierten Zugang von den Patienten und ihren Problemen entfernt zu haben.[9] Die Kritik der modernen Medizin erreichte 1930 im Zuge des Lübecker Impfunglücks ihren Höhepunkt, bei dem 77 Kinder infolge eines kontaminierten Tuberkuloseimpfstoffes starben. Bonah argumentiert, dass Flecks Werk auch als eine Reaktion auf das Krisendenken in der zeitgenössischen Medizin zu verstehen ist.

Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache

Fleck verband wissenschaftliches und philosophisches Denken, einzelwissenschaftliche Analyse und allgemeine Wissenschaftstheorie. Er entwickelte in seinem Hauptwerk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache die Begriffe Denkstil und Denkkollektiv. Der Begriff des Denkstils ist Vorläufer zum Paradigma in der Wissenschaftstheorie von Thomas Kuhn. Die Idee, die Fleck mit dem Konzept des Denkkollektivs verband, findet sich in Kuhns Konzeption der Normalwissenschaft.

Denkkollektiv

Erkenntnis ist nach Ansicht Flecks ein soziales Phänomen und daher nicht als eine zweiseitige Relation zwischen Subjekt und Objekt zu verstehen. Vielmehr müsse als dritter Faktor im Erkenntnisprozess das Denkkollektiv eingeführt werden, das „als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“ definiert wird. In diesem Sinne sei das Denkkollektiv der „Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstils.“[10]

Der Begriff des Denkkollektivs ist im Werk Flecks allgemein gefasst, so dass er sich auf verschiedene soziale Zusammenhänge anwenden lässt. So behandelt Fleck etwa Wissenschaftlergruppen als Denkkollektive, wenn sie sich auf einer gemeinsamen experimentellen und theoretischen Basis mit einem Problem beschäftigen. Zugleich erörtert er jedoch auch breitere außerwissenschaftliche Zusammenhänge unter Bezug auf das Denkstilkonzept. In diesem Sinne könne etwa die Modewelt oder eine Religionsgemeinschaft ein Denkkollektiv bilden.[11] Fleck entwickelt den Begriff des Denkkollektivs am Beispiel der Wissenschaftlergruppen, die an der Diagnostik der Syphilis arbeiteten und letztlich zum Verfahren der Wassermann-Reaktion gelangten.

In seiner einfachsten Form entstehe ein Denkkollektiv, wenn „zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen“.[12] Von einer solchen zufälligen Konstellation seien jedoch stabile Denkkollektive zu unterscheiden, die sich durch einen etablierten Denkstil mit Beharrungstendenz auszeichnen. „Beharrungstendenz“ meint, dass die wesentlichen Überzeugungen und Handlungsmuster von den Mitgliedern des Denkkollektivs als so selbstverständlich wahrgenommen werden, dass eine Veränderung undenkbar erscheint. Dass es dennoch zu Veränderungen komme, lasse sich primär durch den interkollektiven Gedankenverkehr erklären, der immer „eine Verschiebung oder Veränderung der Denkwerte zur Folge habe.“[11]

Schließlich postuliert Fleck eine interne Struktur des Denkkollektivs, die sich sozialwissenschaftlich analysieren lasse. Von besonderer Bedeutung sei die Unterscheidung zwischen einem esoterischen Kreis der Fachspezialisten und einem exoterischen Kreis der interessierten Laien. Zwischen diesen beiden Extremen gebe es eine Reihe von Abstufungen, so könne etwa der allgemeine Biologe eine Mittelrolle zwischen dem spezialisierten mikrobiologischen Syphilisforscher und dem interessierten Laien einnehmen. Der internen Struktur des Denkkollektivs entsprechen nach Ansicht Flecks verschiedene Publikationsformen: Die Zeitschriftenwissenschaft, die Handbuchwissenschaft und die populäre Wissenschaft. Dabei wirke jedoch nicht nur der esoterische Kreis auf die Peripherie, der intrakollektive Gedankenverkehr gehe vielmehr in beide Richtungen: Die populäre Wissenschaft „bildet die spezifische öffentliche Meinung und die Weltanschauung und wirkt in dieser Gestalt auf den Fachmann zurück“.[13]

Denkstil

Das Denkkollektiv wird durch einen Denkstil zusammengehalten, der von Fleck als „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ definiert wird.[14] Der Denkstil lege fest, was innerhalb des Kollektivs als wissenschaftliches Problem, evidentes Urteil oder angemessene Methode gelte. Auch was als Wahrheit gelte, könne nur in der stilgemäßen Auflösung von Problemen bestimmt werden:

Solche stilgemäße Auflösung, nur singular möglich, heißt Wahrheit. Sie ist nicht »relativ« oder gar »subjektiv« im populären Sinne des Wortes. Sie ist immer oder fast immer, innerhalb eines Denkstils, vollständig determiniert. Man kann nie sagen, derselbe Gedanke sei für A wahr und für B falsch. Gehören A und B demselben Denkkollektive an, dann ist der Gedanke für beide entweder wahr oder falsch. Gehören sie aber verschiedenen Denkkollektiven an, so ist es eben nicht derselbe Gedanke, da er für einen von ihnen unklar sein muß oder von ihm anders verstanden wird.“

Ludwik Fleck[15]

Der Denkstil werde zwar im intra- und interkollektiven Gedankenaustausch permanent geringfügig verändert, erzeuge jedoch zugleich einen Denkzwang, der grundlegende Veränderungen ver- oder zumindest behindere. Diese „Beharrungstendenz“ im Denkstil wird nach Fleck durch fünf Strategien gesichert.[16] Erstens scheine ein Widerspruch zum Meinungssystem undenkbar, so dass gar nicht erst nach konträren Evidenzen gesucht werde. Sollten dennoch widersprechende Evidenzen auftauchen, so blieben sie zweitens ungesehen und ignoriert. Wenn ein Forscher dennoch auf einen Widerspruch stoße, so bleibe dieser drittens häufig verschwiegen und nicht diskutiert. Sollte der Widerspruch dennoch offensichtlich werden, so werde er viertens mittels großer Kraftanstrengung in das Meinungssystem integriert. Insbesondere dieses Merkmal hat in der neueren Wissenschaftsgeschichte und -theorie große Beachtung gefunden. Ein klassisches Beispiel ist die Konstruktion von Epizyklen zur Verteidigung des geozentrischen Weltbildes.[17] Schließlich argumentiert Fleck, dass ein Denkstil sogar Beobachtungen „erdichte“, die der herrschenden Anschauung entsprechen. So wurde etwa die Analogie maskuliner und femininer Geschlechtsteile in zahlreichen anatomischen Lehrbüchern gezeichnet, auch wenn sie dem heutigen Beobachter als pure Fiktion erscheint.

Wenn es trotz derartiger Mechanismen zu einer grundlegenden Veränderung des Denkstils kommt, so verschwinden nach Fleck die alten Meinungssysteme nicht vollständig. Zum einen gebe es Minderheiten, die an einem alten Denkstil festhalten, wie etwa an der Astrologie, Alchemie und Magie. Zudem sei jeder Denkstil wesentlich durch seine Vorgänger geprägt. „Wahrscheinlich bilden sich nur sehr wenige vollkommen neue Begriffe ohne irgendeine Beziehung zu früheren Denkstilen. Nur ihre Färbung ändert sich zumeist, wie der wissenschaftliche Begriff der Kraft dem alltäglichen Kraftbegriff oder der neue Syphilisbegriff dem mystischen entstammt.“[15]

Obwohl jeder Denkstil somit auf den Schultern vergangener Meinungssysteme stehe, können die Veränderungen so grundlegend sein, dass Denkstile eine vollkommen fremde Gedankenwelt konstituieren. Als Illustration verweist Fleck etwa auf einen Text aus dem 18. Jahrhundert, der behauptet, dass man nach dem Essen leichter als vor dem Essen sei, so wie auch Lebende leichter als Tote und fröhliche Menschen leichter als traurige Menschen seien. Aus der Perspektive des modernen Begriffs der Schwere scheinen diese Behauptungen absurd, allerdings beruhten sie auf einer in sich kohärenten Verknüpfung von Schwere, Schwerfälligkeit und Schwermut: „Diese Menschen haben beobachtet, nachgedacht, Ähnlichkeiten gefunden und verbunden, allgemeine Prinzipien aufgestellt – und doch ein ganz anderes Wissen aufgebaut als wir.“[18]

Rezeption

Vor dem Zweiten Weltkrieg

Flecks Arbeiten wurden vor dem Zweiten Weltkrieg nur spärlich rezipiert. Einerseits war das intellektuelle Klima der späten 1920er und frühen 1930er Jahren günstig für Flecks Thesen, wie etwa die sich entwickelnde Wissenssoziologie Karl Mannheims und die Krisendebatten in den deutschsprachigen Wissenschaften zeigen. Andererseits nahm Fleck als Mikrobiologe im polnischen Lwów sowohl beruflich als auch geographisch eine Außenseiterposition in der wissenschaftstheoretischen Debatte ein. Hinzu kam der zunehmende Antisemitismus, der die Rezeption von Flecks 1935 in deutscher Sprache veröffentlichten Hauptwerk stark einschränkte.

Dennoch blieben Flecks Arbeiten nicht vollständig unberücksichtigt. Ab 1937 führte Fleck etwa eine Debatte mit der polnischen Wissenschaftstheoretikerin Izydora Dambska, die als Vertreterin der Warszawa-Lwów-Schule stark vom zeitgenössischen Neopositivismus beeinflusst war. Dambska warf Fleck vor, einen inakzeptablen Relativismus zu propagieren, da „aus der Verneinung der Möglichkeit einer intersubjektiven Erkenntnis die Ablehnung der Möglichkeit von Wissenschaft“ folge.[19] Fleck reagierte auf die Kritik mit einer Verteidigung der Denkstiltheorie, die von veralteten Vorurteilen befreien und neue forschungswürdige Bereiche enthüllen würde. „In diesem Sinne, das heisst wegen ihrer befreienden und heuristischen Rolle, meine ich, dass sie wahr ist.“[20]

Thomas Schnelle und Lothar Schäfer verweisen auf insgesamt 20 Rezensionen von Flecks Monographie, die jedoch größtenteils in medizinischen Fachzeitschriften erschienen und keine breite wissenschaftstheoretische Debatte auslösten.[21] Unter ihnen ist auch eine Rezension in der Klinischen Wochenschrift, die Flecks Arbeit für den Nationalsozialismus zu vereinnahmen suchte: „In eigentümlicher und von dieser Seite her ein wenig unerwarteter Weise schließt sich Fleck damit unserem neuen deutschen Denkstil an, der eine voraussetzungslose, absolute Wissenschaft verneint.“[22] Zugleich wurde in der Rezension jedoch auch deutlich, dass Flecks pluralistisches Ideal von Denkkollektiven im demokratischen Gedankenaustausch nicht mit der nationalsozialistischen Ideologie in Einklang zu bringen war.

Zögerliche Wiederentdeckung

Nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten Flecks Schriften weitgehend in Vergessenheit. Zwar bemühte sich Fleck um eine Neuauflage seines Werks, der Verlag hatte jedoch Bedenken, da auch 1959 noch 258 Exemplare der Erstauflage vorhanden waren.[23] Zu einer langsamen Wiederentdeckung kam es erst ein Jahr nach Flecks Tod 1961 durch die Erwähnung im Vorwort von Thomas Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Kuhn war eher zufällig auf das Werk Flecks gestoßen und merkte im Vorwort an, dass es viele seiner Gedanken vorwegnehme.

Jenseits dieser kurzen Bemerkung ging Kuhn jedoch nicht weiter auf Fleck ein und erst in den 1970er Jahren erscheinen Arbeiten, die sich detaillierter mit seinem Werk auseinandersetzen.[24] Diese Arbeiten blieben jedoch vereinzelt und betrachteten Fleck häufig aus der Perspektive eines historischen Vorläufers Kuhns. Zu einer breiten und eigenständigen Fleckrezeption kam es erst durch die Neuauflage der Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache beim Suhrkamp Verlag 1980 und die englischsprachige Ausgabe die von Thaddeus J. Trenn und Robert K. Merton 1979 bei Chicago University Press herausgegeben wurde.[25]

Neuere Rezeption

Im Laufe der letzten 30 Jahre hat sich Flecks Werk zu einem Klassiker der Wissenschaftsgeschichte, -soziologie und -theorie entwickelt. Entsprechend erklären Erich Otto Graf und Karl Mutter, dass Fleck „weitgehend im Mainstream” der entsprechenden Forschung aufgegangen sei.[26] Derartige Einschätzungen beziehen sich insbesondere auf Flecks These, dass sich die Entwicklung der Wissenschaften nicht unter Bezug auf allgemeine Erkenntniskriterien und Methoden rekonstruieren lässt. Im Sinne von Flecks Denkstiltheorie müssten vielmehr verschiedene methodologische, soziale und forschungspraktische Faktoren berücksichtigt werden, die zudem selbst dem historischen Wandel unterworfen seien. Eine besondere Beachtung erfährt Fleck im Rahmen der so genannten historischen Epistemologie, die die historische Entwicklung von zentralen Erkenntnisbegriffen wie Beobachtung, Experiment, Objektivität oder Argument untersucht.

Umstritten bleibt Flecks Werk demgegenüber im Verhältnis von Erkenntnistheorie und Relativismus: Wenn wissenschaftliche Tatsachen nur im Rahmen eines bestimmten Denkstils Gültigkeit beanspruchen können, stellt sich die Frage nach der Existenz von denkstilunabhängigen Tatsachen und somit einer denkstilunabhängigen Realität. Zu den schärfsten Kritikerinnen gehört Eva Hedfors, die Fleck als einen „Sokal vor Sokal“ präsentierte[27] und hierfür selbst massiver Kritik ausgesetzt war.[28] Claus Zittel argumentiert, dass es im Werk Flecks eine Spannung zwischen relativistischen Annahmen und Allgemeingültigkeit beanspruchenden Thesen zur Funktion des Denkstils gebe.[29]

Auszeichnungen

Werke

Eine vollständige Fleck-Bibliographie von T. Schnelle findet sich in: Robert S. Cohen, Thomas Schnelle (Hrsg.): Cognition and fact – Materials on Ludwik Fleck. D.-Reidel-Verlag, Dordrecht 1986, ISBN 90-277-1902-0, S. 445–457.

  • Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-518-27912-2 (Reihe Suhrkamp Wissenschaft, stw 312, Original auf deutsch 1935).
  • Erfahrung und Tatsache. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-28004-X (Gesammelte Aufsätze, mit einer vollständigen Bibliographie der Veröffentlichungen Ludwik Flecks, Reihe Suhrkamp Wissenschaft, stw 404).
  • Berichte über die Ermordung von Juden in Lemberg und in Treblinka
  • Investigation of epidemic typhus in the Ghetto of Lwów in 1941–1942. (PDF-Datei; 31 kB)
  • Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, herausgegeben von Sylwia Werner, Claus Zittel u.a., Suhrkamp Verlag, Berlin 2011[30]

Literatur

  • Thomas Schnelle: Ludwik Fleck - Leben und Denken, Dissertation, Hochschulverlag, Freiburg im Breisgau 1982 ISBN 3-8107-2165-4

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Vgl etwa. Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, Junius, Hamburg, 2007, S. 47–54.
  2. Erich Otto Graf und Karl Mutter: „Zur Rezeption des Werkes von Ludwik Fleck“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 54, 2000, S. 283.
  3. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. rev. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976 (Org. 1962), S. 8, ISBN 3-518-27625-5.
  4. Vgl. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle: Ludwik Flecks Begründung der soziologischen Betrachtungsweise in der Wissenschaftstheorie, in Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. XIII.
  5. „Über einige Merkmale des wissenschaftlichen Denkens“, in: Erfahrung und Tatsache, Gesammelte Aufsätze, Suhrkamp, 1983, S. 37.
  6. „Zur Krise der Wirklichkeit“, in: Erfahrung und Tatsache, Gesammelte Aufsätze, Suhrkamp, 1983, S. 37, S. 48.
  7. Kurt Riezler: „Die Krise der Wirklichkeit“, in Die Naturwissenschaften, Heft 37/38, 1928, S. 706–712.
  8. Christian Bonah: „Experimental rage: the development of medical ethics and the genesis of scientific facts. Ludwik Fleck: an answer to the crisis of modern medicine in interwar Germany?“ in: Social History of Medicine 15 (2), 2002, S. 187–207.
  9. Julius Moses: „Die Krise der Medizin“, in: Biologische Heilkunst, 10, 1929, S. 804–805 und 832–833.
  10. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Suhrkamp 1980, ISBN 3-518-27912-2, S. 55.
  11. a b Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Suhrkamp 1980, S. 141.
  12. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Suhrkamp 1980, S. 135.
  13. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Suhrkamp 1980, S. 150.
  14. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Suhrkamp 1980, S. 130.
  15. a b Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Suhrkamp 1980, S. 131.
  16. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Suhrkamp 1980, S. 40–53.
  17. Vgl. etwa Alan Chalmers: Wege der Wissenschaft. Springer, Berlin, 1999, S. 78ff. und S. 108–115.
  18. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Suhrkamp 1980, S. 168.
  19. Dambska, zitiert nach Claus Zittel: „Die Entstehung von Entwicklung von Ludwik Flecks vergleichender ‚Erkenntnistheorie’“, in: Bożena Chołuj, Jan C. Joerden (Hg.): Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion: Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis, Lang, 2007, ISBN 3-631-56508-9, S. 448 f.
  20. Fleck, zitiert nach: Griesecke, Birgit: Was machen normale Menschen, wenn sie nicht schlafen? Ludwik Fleck, Izydora Dambska und die ethnografische Herausforderung der frühen Wissenschaftssoziologie. In: Egloff, Rainer (Hg.) Tatsache - Denkstil - Kontroverse: Auseinandersetzungen mit Ludwik Fleck, Zürich, Collegium Helveticum, 2005, S. 27.
  21. Thomas Schnelle und Lothar Schäfer: „Einleitung“, in: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Suhrkamp 1980, ISBN 3-518-27912-2, S. XLV.
  22. Hans Petersen: „Ludwig Flecks Lehre vom Denkstil und dem Denkkollektiv“, in: Klinische Wochenschrift 15 (7), 1936, S. 239.
  23. Erich Otto Graf und Karl Mutter: „Zur Rezeption des Werkes von Ludwik Fleck“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 54, 2000, S. 282 f.
  24. Z. B. Dieter Wittich: „Eine aufschlussreiche Quelle für das Verstandnis der gesellschaftlichen Rolle des Denkens von Thomas S. Kuhn“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 26, 1978, S. 105–113.
  25. Ludwik Fleck: Genesis and development of a scientific fact. University of Chicago Press, Chicago 1979, ISBN 0-226-25324-4.
  26. Erich Otto Graf und Karl Mutter: „Zur Rezeption des Werkes von Ludwik Fleck“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 54, 2000, S. 284.
  27. Am ausführlichsten in ihrer Dissertation: Eva Hedfors: The reading of Ludwik Fleck. Sources and context. Licentiate thesis in philosophy from the Royal Institute of Technology, 2005.
  28. Amsterdamska et al.: „Medical Science in the Light of a Flawed Study of the Holocaust: A Comment on Eva Hedfor's Paper on Ludwik Fleck“, in: Social Studies of Science, 38, 2008, S. 937–944.
  29. Claus Zittel: „Die Entstehung von Entwicklung von Ludwik Flecks vergleichender ‚Erkenntnistheorie’“, in: Bożena Chołuj, Jan C. Joerden (Hg.): Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion: Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis. Lang, 2007, ISBN 3-631-56508-9.
  30. Rezension in der Frankurter Allgemeinen Zeitung vom 24. Oktober 2011, online http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/buecher-der-woche/f-a-z-sachbuecher-der-woche-von-den-denkstilen-der-wissenschaft-11498249.html

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