Lucretia

Lucretia
Die Vergewaltigung der Lucretia; Gemälde von Tizian, 1571

Lucretia (vor 500 v. Chr.) war laut späterer Tradition eine römische Frau aus der (halb-)mythischen Frühzeit, Tochter des Spurius Lucretius Tricipitinus und Gattin des Collatinus aus der königlichen Familie der Tarquinier. Sie war berühmt für ihre Schönheit und noch mehr für ihre Tugendhaftigkeit.

Inhaltsverzeichnis

Überlieferung

Die spätere, vor allem bei Titus Livius greifbare Überlieferung[1] berichtet die folgende Geschichte: Im 6. Jahrhundert v. Chr. fühlte sich demnach in Rom keiner seines Lebens, seiner Familien und seiner Ahnen sicher. Das Regime von Tarquinius Superbus war unerträglich, aber nicht nur für die Römer, die zu der Zeit noch Hirten und Bauern waren und daher noch keine gleichwertigen Vertreter in der Politik hatten. Auch für die mächtigen Etrusker und selbst für die Verwandten des Königs waren es unsichere Zeiten. Daher verschworen sich viele Männer aus dem Tarquinischen Adelsgeschlecht gegen den Tyrannen, um ihn zu stürzen. Unter diesen waren der Enkel von Tanaquil, Brutus, und der Mann von Lucretia, Collatinus.

Während der Besetzung der Stadt Ardea kamen die jungen Prinzen der Tarquinier abends in ihren Zelten zusammen. Eines Abends trafen sie sich im Zelt von Sextus Tarquinius, einem Sohn des Königs, und unterhielten sich über Frauen.[2] Das Gespräch erhitzte sich bei der Behauptung von Collatinus – dem Einzigen, der nicht mit einer Etruskerin, sondern mit einer Römerin verheiratet war –, dass seine Frau Lucretia über allen anderen Frauen stehe. Um sie zu überzeugen, lud Collatinus die anderen zu einem Besuch bei ihr ein. Im Gegensatz zu ihren Schwägerinnen fand man sie nicht beim Gelage oder bei anderen für Frauen der damaligen Zeit unschicklichen Dingen, sondern umgeben von ihren Mägden beim Spinnen der Wolle, im Schein einer Öllampe. Augenblicklich begehrte Sextus die Gattin seines Kameraden.[3]

Tarquinius und Lucretia von Antonio Bellucci
Marcantonio Raimondi, Lucretia, ca. 1510/11, Kupferstich

Während einer Abwesenheit ihres Ehemannes besuchte er unter einem Vorwand Lucretia, die ihm Einlass gewährte, da er ein entfernter Verwandter von Collatinus war. In der Nacht dann schlich er sich in ihr Zimmer und wollte sie vergewaltigen. Er bedrohte sie mit seinem Schwert, doch sie erklärte, lieber sterben zu wollen als ihrem Mann untreu zu werden. Als Tarquinius jedoch damit drohte, ihren Leichnam neben den eines toten Sklaven zu legen und sie dann der Unzucht zu beschuldigen (weswegen er dann beide auf frischer Tat getötet habe), ließ sie die Tat über sich ergehen. Nach der Vergewaltigung verschwand Tarquinius und Lucretia ließ nach ihrem Mann und ihrem Vater rufen.[4] Sie erzählte beiden den Hergang und wurde von ihnen für unschuldig befunden. Trotzdem brachte Lucretia sich um, damit künftig keine untreue Frau sich auf ihr Schicksal berufen könne und somit unbestraft davonkomme. Diese sexuelle Gewalttat löste beim Volk einen Aufstand aus, die Königsgegner aus dem Hause der Tarquinier nutzten diese Gelegenheit und stürzten das unbarmherzige Regime.[5]

Bedeutung

Diese Erzählung markierte (nach traditioneller Datierung 510/09 v. Chr.) das Ende der Monarchie und den Anfang der römischen Republik. Somit gehört „Die Schändung der Lucretia“ zum Gründungsmythos der Römischen Republik. Ein geschichtlicher Nachweis ist nicht überliefert: Die Vergewaltigung Lucretias wird erstmals von Livius zum Ende des ersten Buches von Ab urbe condita in den Kapitel 58–60 berichtet. Von dieser Sage wurden viele Autoren inspiriert (s. u.); die meisten Althistoriker halten die Geschichte zumindest in der vorliegenden Form für eine spätere Erfindung, die auch den Einfluss griechischer Tyrannentopik verrät.

In den Künsten

Lucretia ist die Titelheldin zahlreicher Werke mit dem Zentralthema der ehelichen Treue und geschändeten Keuschheit.

Belletristik, Musik

  • The Sisters of Mercy: Lucretia My Reflection, Dritte Singleauskopplung vom Album Floodland (1987)
  • Megadeth: Lucretia, Thrash Metal-Song (erschienen unter Capitol Records auf der LP Rust in Piece von 1990)
  • Kreator: Lucretia My Reflection, Thrash Metal, erschien auf dem Album "Voices of Transgression"
  • Momus: The Rape of Lucretia, auf dem Album Circus Maximus
  • Ovid: Fasti, Verswerk (darin die Geschehnisse um Lukretia)
  • William Shakespeare: The Rape of Lucrece, Langgedicht Hierbei steht nicht mehr das römische Ideal der Tugend einer „Uxor Romana“ im Vordergrund, sondern tragische und machtpolitische Elemente. Die feindselige Untat des Tarquin wird nur durch Erzählungen seines Gegners Collatin fokussiert und der Täter begegnet Lucretia erstmals, als er sie schändet. Sie verlangt ihrem Mann einen Racheschwur ab.
  • Alexander Puschkin: Graf Nulin, Parodie
  • Jean Giraudoux: Pour Lucrèce, Schauspiel
  • André Obey: Le Viol de Lucrèce, Bühnenstück
  • Benjamin Britten: The Rape of Lucretia, Oper
  • Mario Vargas Llosa: Lob der Stiefmutter, Roman
Sodoma: Der Tod Lucretias, 1513

Bildende Künste

Die Gestalt der Lucretia erscheint auch in bildlichen Darstellungen der Neun Guten Heldinnen, sie ist in dieser ikonografischen Reihe eine Vertreterin des Heidentums. So wurde sie in der Renaissance ein bedeutendes ‚weltliches‘ Thema:

Das Museum für Spätantike und Byzantinische Kunst (Bode-Museum) zeigt die Bedrohung von Lucretia mit dem Messer durch Tarquinius in einer Plastik des italienischen Bildhauers Pietro Tacca von 1700.[6]

Literatur

  • Ian Donaldson: The Rapes of Lucretia. A Myth and its Transformations, Oxford 1982
  • Marie Theres Fögen: Römische Rechtsgeschichte. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, Göttingen 2002, 21–55
  • Jan Follak: Coluccio Salutatis Declamatio Lucretie und die Menschenbilder im exemplum der Lucretia von der Antike bis zur Neuzeit, Diss. Konstanz 2002 Volltext der UB Konstanz
  • Heinz Galinsky: Der Lucretia-Stoff in der Weltliteratur, Breslau 1932
  • Harald Norbert Geldner: Lucretia und Verginia, Studien zur Virtus der Frau in der römischen und griechischen Literatur. Mainz 1977
  • Martin Holtermann: Die Faszination der Lucretia-Gestalt. Rezeptionsdokumente und ihre Behandlung im Lateinunterricht. In: Ianus. Informationen zum Altsprachlichen Unterricht 26, 2005, 20–30
  • Melissa M. Matthes: The Rape of Lucretia and the Foundation of Republics, Pennsylvania State UP 2000

Weblinks

 Commons: Lucretia – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweis

  1. Siehe Livius, I, 57-60.
  2. Livius, I, 57, 5-8: „[…]; regii quidem iuvenes interdum otium conuiuiis comisationibusque inter se terebant. […] incidit de uxoribus mentio. Suam quisque laudare miris modis […] citatis equis auolant Romam.“
  3. Livius, I, 57, 9-11: „[…] ubi Lucretiam haudquaquam ut regias nurus, quas in conuiuio luxuque cum aequalibus viderant tempus terentes sed nocte sera deditam lanae inter lucubrantes ancillas in medio aedium sedentem inveniunt. Muliebris certaminis laus penes Lucretiam fuit. […] Ibi Sex. Tarquinium mala libido Lucretiae per vim stuprandae capit; […].“
  4. Livius, I, 58, 1-5: „Paucis interiectis diebus Sex. Tarquinius inscio Collatino cum comite uno Collatiam venit. […] amore ardens […] stricto gladio ad dormientem Lucretiam venit […] tum Tarquinius fateri amorem, orare, miscere precibus minas, versare in omnes partes muliebrem animum. […] cum mortua iugulatum seruum nudum positurum ait, ut in sordido adulterio necata dicatur.“
  5. Livius, I, 58, 6 bis 59, 4: „Lucretiam sedentem maestam in cubiculo inveniunt. Aduentu suorum lacrimae obortae […]. Dant ordine omnes fidem; consolantur aegram animi avertendo noxam ab coacta in auctorem delicti […]. Cultrum, quem sub veste abditum habebat, eum in corde defigit, prolapsaque in volnus moribunda cecidit. Conclamat vir paterque. […] ‚Per hunc‘ inquit ‚castissimum ante regiam iniuriam sanguinem iuro, vosque, di, testes facio me L. Tarquinium Superbum cum scelerata coniuge et omni liberorum stirpe ferro igni quacumque dehinc vi possim exsecuturum, nec illos nec alium quemquam regnare Romae passurum.‘ Cultrum deinde Collatino tradit, inde Lucretio ac Valerio […]. […] tum Brutus castigator lacrimarum atque inertium querellarum auctorque quod viros, quod Romanos deceret, arma capiendi adversus hostilia ausos. Ferocissimus quisque iuvenum cum armis voluntarius adest […].“
  6. Der Tagesspiegel Bildergalerie 23. Oktober 2006

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