Antijudaismus in der Neuzeit

Antijudaismus in der Neuzeit

Antijudaismus ist jene vom Christentum geprägte Judenfeindlichkeit, die seit dem Entstehen der Kirche im 2. Jahrhundert das ganze Mittelalter durchzog, sich aber seit der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg differenzierte. Er entwickelte sich in der Neuzeit in den verschiedenen christlichen Konfessionen und Ländern unterschiedlich, bildete aber – besonders in Deutschland, Österreich, Frankreich, Polen und Russland – eine der entscheidenden Voraussetzungen für den säkularen, sozialdarwinistischen und rassistischen Antisemitismus.

Dieser Artikel setzt die Darstellung des Antijudaismus im Mittelalter voraus und stellt die Haltung zum Judentum in Europa seit der Reformation bis zur Gegenwart in den besonders vom Antijudaismus geprägten Ländern dar. Dabei greift er für andere Länder auch auf die mittelalterliche Vorgeschichte zurück.

Inhaltsverzeichnis

Reformationszeit

Der Humanismus

In Deutschland und Spanien verschlechterte sich die Lage der Juden im 15. Jahrhundert laufend. Ein Bild davon bietet der „Hexenhammer“, der von 1487 bis 1609 29 Auflagen erlebte und in riesigen Mengen verbreitet wurde. Die Dominikaner Jakob Sprenger und Heinrich Institoris verfassten diese „Hexenbulle“, um nicht nur Hexen-, sondern auch breit angelegte Judenverfolgung im Gefolge der Inquisition zu rechtfertigen.

In Italien dagegen kam es seit der Renaissance, die das antike philosophische Erbe wiederentdeckte, zu toleranten Begegnungen zwischen gebildeten jüdischen und christlichen Humanisten.

hob nach dem frühen Vorbild Ramon Llulls (Buch von den Heiden und den drei Weisen, 13. Jahrhundert) die Gemeinsamkeiten der drei monotheistischen Religionen hervor. Er verfasste nach der türkischen Eroberung Konstantinopels 1453 die Schrift De pace fidei: Gott sei so groß, dass eine Religion zu seiner Verehrung nicht ausreiche. Die besten Weisen sollten gemeinsam die Übereinstimmung der Religionen in einer Universalreligion herausfinden – die freilich für Kues mit dem Christentum identisch war.

übernahm wohl von Paulus Heredia die Spekulation über den Heiligsten Gottesnamen in der jüdischen Kabbala. In seinen 72 Propositiones erklärte er: Das Tetragramm JHWH weise zwingend auf den Namen Jesus (JHSUH) hin. Daher sei die jüdische Kabbala geradezu notwendig, um Gewissheit im christlichen Glauben zu erlangen. Dies verwarf eine päpstliche Kommission als Häresie.

Reuchlins Kampf um den Talmud

Johannes Reuchlin war einer der wenigen deutschen Theologen, die damals das Hebräische beherrschten. Sein Lehrer war der berühmte jüdische Arzt Jacob ben Jechiel Loans. Reuchlin studierte die Kabbala und übernahm Picos Auffassung, sie stimme mit der Philosophie des Pythagoras überein. In seinem Werk De verbo mirifico (1494) führen ein Jude, ein hellenistischer Philosoph und ein Christ (der Autor) einen fiktiven Trialog über den unaussprechlichen Gottesnamen. Dabei griff der Kölner Humanist auf Josef Gikatilla zurück, dessen Hauptwerke zur Kabbala Paulus Ricius unter dem Titel Porta lucis (Tor des Lichts) ins Lateinische übersetzt hatte. In De arte cabalistica (um 1507) verteidigte Reuchlin die theoretische Namensspekulation als Weg zur Erleuchtung, die praktische Namensmagie dagegen verwarf er.

Damit zog er sich den Hass der Kölner Dominikaner zu, die unter dem Inquisitor Jakob van Hoogstraten und dem jüdischen Konvertiten Johannes Pfefferkorn den Talmud bekämpften und nun auch Reuchlins Schriften auf den Index setzten. Der italienische Humanist und Franziskaner Petrus Galatinus verteidigte ihn mit der Schrift De arcanis Catholicae veritatis, die den Talmud zur Auslegung des Alten Testaments heranzog. Damit wolle er die hartnäckigen Juden durch Zitieren ihrer hebräischen Schriften widerlegen. Einen Überblick über diese gab Kardinal Aegidius Antonini von Viterbo. Auch dieser Freund Reuchlins wollte wie alle christlichen Kabbalisten die Juden bekehren.

Pfefferkorn hatte sich 1505 taufen lassen und verfasste eine Reihe äußerst judenfeindlicher Schriften, die die Dominikaner ins Lateinische übersetzten: den Judenspiegel (1507), die Judenbeichte (1508), das Osternbuch (1508) und den Judenfeind (1509). Darin beschrieb er die Juden als „gefährlicher als der Teufel“ und „Bluthunde“. Sie „trachteten den Christen nach dem Leben“. Es sei daher Pflicht jedes Christen, sie „wie räudige Hunde zu verjagen“. Vor allem ihre Bücher, in denen Gott, Jesus und Maria gelästert würden, seien an ihrer Verstocktheit und an aller Zwietracht unter den Christen Schuld. Erst wenn man sie ihnen gewaltsam wegnehme, könne man sie bekehren und Frieden unter Christen erreichen:

„All die Gewalt, die den Juden geschieht, ist aus der Meinung, dass sie dadurch zu dem heiligen christlichen Glauben bewegt werden möchten … zu ihrer besten Besserung und nicht unseres Nutzens wegen.“

Gegen den Erlass des Kaisers Maximilian I. an die Juden, ihre Schriften Pfefferkorn zu übergeben, behielt sich der Mainzer Kurfürst Uriel von Gemmingen 1509 erfolgreich eine Prüfung vor. Reuchlin setzte sich als einziger theologischer Gutachter unter Berufung auf römische Rechtstradition vorbehaltlos für den Erhalt des Talmud ein. Christus selbst habe den Juden geboten, in ihren Schriften nach der Wahrheit zu forschen. Der Talmud bewahre biblische Überlieferung und könne nicht so schädlich sein, da er einige Juden zu Christus geführt habe: Hier nannte Reuchlin Paulus von Burgos. Er kritisierte sogar das kirchliche Karfreitagsgebet, das Juden als „treulos“ und „ungläubig“ denunziere, obwohl sie ja gerade ihren Glauben treu bewahrten. Wenn ihre Schriften diese Beschimpfung zurückwiesen, so verteidigten sie damit nur ihren Glauben für ihre eigenen Anhänger.

Das löste heftigen Streit aus. Pfefferkorn schrieb voller Wut in seinem Handspiegel, Reuchlin begünstige die Juden und vertusche ihre Bosheit. Darauf gab dieser 1511 in seinem Augenspiegel eine sehr moderne Antwort:

„Ich begünstige Juden so, dass sie kein Unrecht tun, aber auch kein Unrecht leiden. Die Pflichten einfacher menschlicher Vereinigung, gesellschaftlichen Verkehrs verlangen, dass man selbst Verbrecher nicht für rechtlos erkläre und so behandele. Ungerechtigkeit ist Rohheit, die alle Menschlichkeit verleugnet und den, der ihr nachstrebt, zum wilden Tier macht.“

Hochstraten versuchte Reuchlin nun selbst vor das Inquisitionsgericht zu ziehen. Dieser rief Papst Leo X. an, der die Entscheidung den Bischöfen von Speyer und Worms übertrug. Diese sprachen Reuchlin 1514 frei. Doch Hochstraten erreichte eine Wiederaufnahme des Verfahrens: Nach jahrelangen Schriftfehden wurde Reuchlins Augenspiegel schließlich am 23. Juni 1520 verboten, er musste die Prozesskosten tragen. Zu diesem Umschwung hatten die polemischen Dunkelmännerbriefe von papstfeindlichen Rittern wie Ulrich von Hutten und die Abwehr der lutherischen Reformation entscheidend beigetragen.

Luthers Stellung zum Judentum

Martin Luther beeinflusste als Reformator entscheidend die Haltung des Protestantismus zum Judentum. Dabei unterschied er von Beginn an die theologische Auseinandersetzung um die Wahrheit des Glaubens vom politischen Umgang mit den Juden. Sein theologisches Urteil legte er früh fest und blieb darin im Kern gleich – seine politischen Ratschläge dagegen wandelten sich mit der Zeit je nach Situation erheblich.

1514 unterstützte er in einem Gutachten für den sächsischen Kurfürsten Reuchlin gegen die Kölner Dominikaner, die Talmudbücher verbrennen wollten. Er begründete dies aber konträr (WAB 1/7, 23f):

„Von allen Profeten ist geweissagt, dass die Juden Gott und ihren König Jesus schmähen und lästern werden … Und wenn sie versuchen, die Juden von ihren Lästerungen zu reinigen, werden sie erreichen, dass die Schrift und Gott als Lügner erscheinen … Aber verlass dich drauf: Gott allein wird am Werk sein … Denn sie sind so sehr durch den Zorn Gottes an ihren verkehrten Sinn dahingegeben, dass sie, wie der Prediger Salomo (1,15) sagt, unverbesserlich sind. Und jeder Unverbesserliche wird durch die Strafe schlimmer und bessert sich niemals.“

Luther glaubte also: Keine Maßnahme könne die heutigen Juden zu Christus bekehren, weil Gott bewirkt habe, dass sie ihn ablehnen, wie es die Bibel vorhersagte. Nur Gott selbst könne und werde diese „Verstockung“ überwinden. Bekehrungszwang sei dazu ebenso sinnlos wie „aufklärende“ Pädagogik. Damit stellte er die Juden aber nur den Christen an die Seite, die für ihn ebenso Gottes Zorngericht unterstellt und völlig auf sein Erbarmen angewiesen waren. Der Jude war für ihn der Typus des verlorenen Sünders, dem Christen zur Mahnung.

In seiner ersten Psalmenvorlesung 1513–1515 übernahm Luther die Substitutionstheologie der Patristik:

  • Gott habe sein Volk wegen dessen fortgesetzter Überheblichkeit „ausgespien“; Zeichen dafür sei seine Zerstreuung und der unumkehrbare Tempelverlust. Die Messiashoffnung der Juden sei vergeblich, so dass sie weder leiblich (politisch) noch geistlich (religiös) bestehen könnten. Dies sei Gottes Strafgericht über die Kreuzigung seines Sohnes (u.a. WA 3/82, 25f).
  • Es habe sie aber nicht gebessert, sondern verstockt: Sie beharrten auf ihrem Ungehorsam und trachteten, andere dazu zu verführen. Sie in diesem Äon zu bekehren, sei Illusion. Nach Jes 10,21 könne allenfalls ein Rest von ihnen gerettet werden (u.a. WA 4/468, 35ff).
  • Sie seien aktive Feinde der Christenheit; ihre talmudische Bibelauslegung lehre lauter Lügen, um die Wahrheit Christi aufzulösen und die Völker mit Hochmut gegen Gott zu erfüllen (ebd).

Luther misstraute den Rabbinern also ebenso wie der katholischen Scholastik und sah ihre Lehren als selbstgerechte Verfälschung des Wortes Gottes an. In beiden wiederholte sich für ihn ständig die Verwerfung Christi. Seine Römerbrief-Vorlesung 1515/16 führte dies weiter aus: Hinter denen, die sich ihrer eigenen Werke rühmen und dabei Gottes Vergebung missachten, stehe teuflische Überheblichkeit. Dies gelte nicht bloß für „Türken“ (Muslime) und Juden, sondern gerade auch für Christen, besonders deren Priester. Sie seien allesamt „Feinde des Kreuzes Christi“ (Phil 3,18 LUT), die weder Gott noch den Menschen dienen wollten.

Über antijudaistische Hetzprediger sagte er (WA 56/436, 13ff):

„In dreister Weise brechen sie in lästerliche Schimpfreden aus, wo sie doch mit ihnen Mitleid haben sollen und ähnliche Dinge für sich befürchten müssten … Als wären sie ihrer selbst und jener ganz sicher, erklären sie sich frech gleichsam als die Gesegneten und jene als die Verfluchten … Warum? Weil sie vergessen haben, was geschrieben steht … (Röm 12,14 LUT; 1 Kor 4,12f EU).“

Dies zielte auf die Selbsterkenntnis der christlichen Sünder, um sie Gottes allein rettender Gnade in die Arme zu treiben und zur Solidarität mit den leidenden Juden zu befähigen:

„Daher haben beide Grund, Gott zu loben, aber nicht, miteinander zu streiten.“

1523 schrieb Luther Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei. Die Schrift reagierte auf den katholischen Vorwurf, er habe die Jungfrauengeburt geleugnet. Als wunderbar gezeugter, aber natürlich geborener Sohn Marias sei Gottes Sohn zugleich aus „Abrahams Samen“ entstanden. Damit wollte Luther „der Juden etliche […] zum Christenglauben reizen“. Er beklagte, dass die katholische Kirche sie mit Zwangstaufen und Canones wie Hunde misshandelt und ihnen Christus vorenthalten habe. Es sei klar, dass sie sie so nicht habe bekehren können:

„Wenn man sie zwingt, als Geldverleiher ihren Unterhalt zu verdienen, wie sollte sie das bessern?“

Da nur Gottes Wort allein dies vermöge, solle man sie nicht politisch unterdrücken, sondern aus ihrer eigenen Bibel heraus überzeugen. Dazu müsse man anerkennen, dass Israel Gottes ersterwähltes Volk sei, dem Gott besondere Privilegien verliehen habe. Dann versuchte Luther, sie wie der spanische Dominikaner Raimundus Martini (Pugio fidei, um 1280) mit einem alttestamentlichen Schriftbeweis von Marias Jungfräulichkeit und Jesu Messianität zu überzeugen. Der Messias sei schon gekommen, so dass die jüdische Messiaserwartung Irrtum sei. Erst wenn sie das einsähen, könne man ihnen die für sie schwer begreifliche Erkenntnis nahebringen, dass „Gott … muge mensch seyn“.

Luther erwartete also, dass einige Juden sich nach erfolgreicher Reformation zum evangelischen Glauben bekehren würden. Doch um 1526 erlebte er, dass sie dies nicht taten, sondern selbst Missionserfolge unter jungen Christen hatten. Von nun an vertrat er öffentlich die Blindheit, Verstockung und Verfluchung aller Juden, die zum höheren Ruhm der Christenheit diene. Nur einzelne Juden könnten den Weg zum Heil finden, um so die Tür für alle offen zu halten. Dazu rechtfertigte er nun das Leiden, das sie durch Christen erfuhren, einschließlich des „Schandrocks“, den sie zu tragen hätten, aus der Bibel:

„Hilf Gott, wie oft und in viel Landen haben sie ein Spiel wider Christum angericht, darüber sie verbrannt, erwürgt und verjagt sind … Aber Christus und die Seinen bleiben fröhlich in Gott, als sie dadurch bestätigt werden in ihrem Glauben … Also sie den Fluch im Geist anziehen als ein täglich Kleid, so lass sie auch ein öffentlich Schandkleid äußerlich tragen, damit sie vor aller Welt als meine Feinde erkannt und veracht werden … “

Zuvor hatte Luthers Gerichtspredigt die evangelischen Christen den Türken, Papisten und Juden als vom Teufel verführten „Gotteslästerern“ an die Seite gestellt, um sie die Solidarität der Sünder zu lehren: Nun argumentierte er immer stärker für die politische Unterdrückung der rabbinischen Lehre, die er als große Gefahr sah.

Die Gründe für diesen Umschwung hängen mit dem 1525 niedergeschlagenen Bauernkrieg und dem erfolgreichen Augsburger Reichstag zusammen: Seitdem war die Reformation zur Sache der protestantischen Landesfürsten und Luther ihr kirchenpolitischer Ratgeber geworden. So erklärte er, Moses habe den Juden das Erheben von Wucherzinsen erlaubt; den Christen aber sei dies verboten. Jedoch dürfe die Obrigkeit den Juden die Gewinne aus dem Wucherzins mit Gewalt wieder abnehmen. Denn Gottes Zorn habe sie den Völkern unterworfen. Auf dieser Linie rechtfertigte Luther die politische und kirchenrechtliche Unterdrückung der Juden.

In dem Maß, wie er die Lage der evangelischen Länder von außen wie innen bedroht sah, verschärfte sich seine Ablehnung: Im Sommer 1532 plädierte er noch für die Aufnahme taufwilliger Juden, im Herbst wollte er den nächsten Juden mit einem Stein um den Hals in der Elbe „taufen“. 1533 plädierte er noch für Duldung, 1536 schon für die Vertreibung der Juden, 1537 warnte er alle, Fürsten wie Privatleute, vor Geschäften mit ihnen.

Dabei spielte Luthers Disput mit drei gelehrten Rabbinern über Weissagungen der Bibel eine Rolle: Er begegnete der missionarischen Kraft ihres Messianismus, der nach den Vertreibungen des 15. Jahrhunderts damals unter Juden verbreitet war. Er glaubte, diesen genauso hart wie die „Schwärmer“ bekämpfen zu müssen, weil er in beiden die Gefahr gesetzlichen Zwanges für die Christen sah.

1538 schrieb er den Brief wider die Sabbather an einen guten Freund. Um Missionserfolge der Juden in Böhmen und Mähren abzuwehren, argumentierte er für eine christologische Einheit der Bibel: Das Alte Testament weise von sich aus immer deutlicher auf die Menschwerdung Gottes in seinem Messias hin, die die Juden leugneten. Dazu kam das alte patristische Argument, die Tempelzerstörung sei die Strafe für Israels Ablehnung Chrísti gewesen und beweise seine Verwerfung.

1544 schrieb er Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi: Darin machte er die Talmud-Exegese der Bibel lächerlich und griff dazu die antijüdische Hetze des Antonius Margaritha auf. Jüdische Feindseligkeit gegen Christus zeigten ihr Ketzerfluch im Achtzehnbittengebet und ihre Toledot Jeschu, die Jesus als Zauberer und unehelich gezeugten Wechselbalg verunglimpften. Dagegen behauptete er, das Alte Testament habe nicht nur den Messias, sondern auch die Jungfrauengeburt vorhergesagt. Er versuchte wie Athanasius und Augustinus von Hippo, in Bibelstellen detailliert die Rede des Vaters, des Sohnes und des Geistes zu unterscheiden. Nur in seinem eigenen Wort sei Gottes dreifältige Wesenseinheit zu finden. Die Vernunft könne nicht einmal über die formale Existenz des Schöpfers adäquat urteilen, schon gar nicht über das Ende der Geschichte spekulieren.

Damit griff Luther die natürliche Theologie des Thomas von Aquin und der jüdischen Kabbala an. Dazu datierte er den Fristablauf der bei Daniel angekündigten 70 Jahrwochen auf Tod und Auferstehung Jesu. Die nachbiblische Geschichte des Judentums sei also seit 1.468 Jahren ohne jede Verheißung. So wollte er mittels jüdischer Bibelauslegung den jüdischen Glauben widerlegen. Diese berechnende Apologetik wertete aber unter der Hand die historische Exegese jüdischer Theologen wie Nikolaus von Lyra und Paul von Burgos auf, die Luther kannte. Hatten seine reformatorischen Frühschriften die Vernunft als gänzlich untauglich zur Erkenntnis Gottes dargestellt, so gab er ihr nun ein gewisses Eigenrecht zum Erweis der Messianität Jesu aus der Gesamtbibel. Hieran knüpfte die spätere lutherische Orthodoxie an.

1543 schrieb er Von den Jüden und iren Lügen, um Christen über die aus seiner Sicht falsche jüdische Theologie aufzuklären. Grundfehler der Juden sei ihr Glaube, dass ihre Erwählung sie bereits vor Gott rechtfertige. Aber alle Menschen seien Sünder und stünden unter Gottes Zorn. Mit dieser Bußpredigt verquickte er aber die traditionelle antijudaistische Polemik: Juden seien alle verstockt, blutdürstig, rachsüchtig, geldgierig, leibhaftige Teufel usw. Sie würden die christliche Jugend wider besseres Wissen verführen, auf einen anderen, rein weltlichen Christus zu warten.

Auch das Klischee des jüdischen Ausbeuters griff er auf:

„Jawohl, sie halten uns (Christen) in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein […] sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.“

In Wahrheit waren die Juden meist die „Kammerknechte“ der „Junker“, für die sie arbeiten mussten, nicht deren heimliche Herren. Luthers Zerrbild appellierte an den Sozialneid der Bevölkerung: Nicht angeblicher Reichtum, sondern die „Verstocktheit“ und Missionserfolge der Juden unter Christen machten ihm Sorge. Darum forderte er eine „scharfe Barmherzigkeit“:

  • ihre Synagogen niederzubrennen,
  • ihre Häuser zu zerstören,
  • sie in Ställen unterzubringen,
  • ihre Bücher wegzunehmen,
  • ihren Rabbinern das Lehren,
  • ihren Händlern das Reisen,
  • ihren Geldverleihern das „Wucher“-Geschäft zu verbieten,
  • sie von den Straßen zu verbannen,
  • ihr Geld und ihren Schmuck einzuziehen als Staatsrücklage,
  • sie zu harter körperlicher Arbeit zu zwingen und
  • sie aus allen evangelischen Ländern auszuweisen.

Dieser harte Maßnahmenkatalog sollte die jüdische Religionsausübung unterbinden, nicht die Bevölkerung zu Pogromen aufhetzen. Luther verbot explizit, Juden zu verfluchen und persönlich anzugreifen. Er wandte sich an die Obrigkeit, die Gott zur Abwehr des Bösen eingesetzt habe, und forderte von ihr nun die Gewalt, die er 1523 noch abgelehnt hatte. Da er die jüdische Religion nicht neben dem Christentum anerkennen konnte, fand er keine theologische Lösung und suchte stattdessen eine politische. – Doch die evangelischen Fürsten konnten auf den jüdischen Wirtschaftsfaktor nicht ohne weiteres verzichten und setzten Luthers Forderungen nicht um. Nur das Kurfürstentum Sachsen erließ ein Lehrverbot für Rabbiner.

Luthers Schrift bündelte die mittelalterliche Judenfeindschaft, sammelte und verstärkte sämtliche damals umlaufenden Klischees und überlieferte sie der Neuzeit. Er folgte darin dem Hauptstrom der christlichen Theologie, der die Juden erst zu bekehren versuchte, dann ihre Verfolgung rechtfertigte und sie schließlich aktiv betrieb. In seiner letzten Predigt am 15. Februar 1546 mahnte er jedoch erneut, sich um die Bekehrung der Juden zu bemühen, und relativierte damit seine früheren antijüdischen Forderungen. Der theologische Hintergrund jedoch blieb derselbe: Ohne das Evangelium gab es für ihn keine Erlösung, nur den Tod. So wollte Luther im Grunde auch die „verstockten“ Juden bis zuletzt für den Glauben an Jesus Christus gewinnen.

Andere Autoren der Reformationszeit

Die Reformation geschah in einer Zeit großer politischer, sozialer und ökonomischer Umbrüche. Der um 1450 erfundene Buchdruck erlaubte, Schriften in Massenauflage in ganz Europa zu verbreiten. Das Bildungsniveau wuchs. Debatten über theologische Fragen erregten viele Gemüter und blieben keine innerkirchliche Angelegenheit mehr. Luthers Bibelübersetzung erlaubte auch Laien die Überprüfung der Quelltexte und ermöglichte einen direkten Dialog mit jüdischen Theologen, wenn dieser auch noch selten geschah. Protestantische Pastoren erweiterten ihre Kenntnis der Hebräischen Bibel. Der Humanismus schuf erste Ansätze einer historisch-kritischen Bibelexegese.

Die Haltung von Luthers Schülern und Zeitgenossen zum Judentum ist daher differenzierter als die der katholischen Scholastik. Bei einigen Reformatoren wuchs die Ablehnung noch, während sich philosophisch geschulte Humanisten eher mäßigend zu Gunsten der Juden äußerten. Der literarische Judenhass war jedoch nicht immer Hauptanliegen der Autoren, sondern Konvention und Mittel, um sich Gehör zu verschaffen (siehe Links).

Paul Staffelsteiner verfasste 1536 Eine kurtze underrichtung. Darin bezeichnete er jüdische Gläubige als „Heuchler und Blender", ihren Glauben als „ungegrundte erdichtete Ceremonien". Dieser „aufklärerische“ Ansatz richtete sich nur gegen Juden.

Von Wolfgang Rus erschien 1536 das judenfeindliche Buch der Altveter / des Israelitischen Volks / nemlich woher di Synagog, das Volck Gottes / oder die Kirche iren ursprung habe. Er stand in der Tradition der frühchristlichen Geschichtsfälschung.

Antonius Margaritha war als jüdischer Konvertit politischer Berater christlicher Herrscher für antijüdische Maßnahmen. Sein Werk Der gantz judisch Glaub von 1531 zog das Fazit: „In summa kein Jud will keynem Christen wol“. Über die Arbeitsmoral der Juden hieß es wie bei Luther:

„Nach diesem tun die Juden den ganzen Tag nichts. Wenn sie bedürfen einzuheizen, Licht anzuzünden, Kühe zu melken etc., nehmen sie etwa einen einfältigen armen Christen, der ihnen solches tue. Des berühmen sie sich, sie bilden sich ein, sie seien also Herren und die Christen ihre Knechte, sprechen, sie haben noch das wahre Regiment und die Herrschaft, sintemal die Christen ihnen dienten in aller Arbeit und sie müßig liegen.“

Auch das Motiv einer feindlichen Allianz von Türken und Juden gegen Christen trug er vor:

„Die Juden frohlocken sehr, wenn sich ein Krieg in der Christenheit vor allem durch den Türken erhebt. Dann beten sie weiter gegen alle Obrigkeit der Christen. Sie können nicht leugnen, dass ihr Fluche auf die jetzigen christlichen Königreiche und das Kaisertum gehe.“

Die Reformatoren zitierten Margaritha gern als Experten. Doch 1530 auf dem Reichstag in Augsburg verlor er eine öffentliche Disputation gegen Josel von Rosheim, den damaligen Rechtsanwalt („Schtadlan“) der Juden im Kaiserreich. Dieser widerlegte den Verdacht der Illoyalität und unterstützte den Kaiser gegen die evangelischen Reichsstände und Kurfürsten, weil er Luthers Ablehnung der Juden erkannt hatte. Margaritha musste die Versammlung verlassen. Trotzdem übernahm Luther 1543 die meisten seiner antijüdischen Stereotypen und Forderungen.

Martin Bucer schrieb 1539 einen Ratgeber, der Juden wie Nutztiere sah: von den jude/ ob un wie die unde den Christe zu halten sind. Er empfahl, sie zu unterdrücken:

„ir Recht ist jnen von dem Barmhertzigen Gott vff erlegt, das sie bey den volkern, bey denen sie wonen, die vndersten und der schwanz sein vnd am aller herttestenn gehalten werden sollen.“

Das entsprach den judenfeindlichen Konzilsedikten von 1215, zeigt also deren Kontinuität. Dass auch bibelfeste Reformatoren, die sonst der katholischen Tradition den Kampf angesagt hatten, hier nur dem Zeitgeist folgten, ließ für die Zukunft nichts Gutes ahnen.

Philipp Melanchthon und der Schweizer Reformator Heinrich Bullinger jedoch kritisierten Luthers Schem Hamphoras (1544) öffentlich: Sie sei „von einem Schweinehirten, nicht von einem berühmten Seelenhirten geschrieben.“ Luthers Schmähschriften fanden also auch bei seinen Anhängern nicht immer Anklang. So verteidigte Melanchthon auf dem Ständetag in Frankfurt am Main 1539 posthum die Unschuld von 38 Juden, die 1510 wegen Hostiendiebstahls verbrannt worden waren.

Andreas Osiander schrieb 1529 ein Gutachten zu einem Mordfall, das er 1540 anonym veröffentlichte, bald aber als Autor von Johannes Eck entdeckt wurde: Ob es wahr und glaublich sey, daß die Juden der Christen kindt heymlich erwürgen und ihr Blut gebrauchen. Darin engagierte er sich differenziert gegen die antijudaistischen Ritualmordlegenden und fasste zusammen: Wer aber will so teuflische Hirngespinste glauben, die gegen Gottes Wort, die Natur und alle Vernunft sind? Diese Haltung blieb jedoch eine Ausnahme. Viele Christen hielten ihre Vorurteile weiter fest, obwohl Renaissance, Humanismus und beginnende Aufklärung ihnen bessere Kenntnis des Judentums ermöglichten.

Vom Trienter Konzil bis zum Westfälischen Frieden

Papst Leo X. hatte zwar 1515 auf dem Laterankonzil eine Vorzensur für alle gedruckten Werke einführen lassen, diese aber gegenüber hebräischen Schriften liberal gehandhabt: So wurde in Venedig 1523 erstmals die babylonische Gemara gedruckt. Der jüdische Verleger Gerson ben Mose Soncino druckte außerdem zahlreiche Talmudausgaben und half aus Spanien geflohenen Juden. Diese Blütezeit ging seit Paul III. 1548 zu Ende.

Unter Papst Julius III. ließ die römische Inquisition im Kirchenstaat alle talmudischen Bücher einziehen und am jüdischen Neujahrsfest, dem 9. September 1553, öffentlich verbrennen. Weitere Bücherverbrennungen folgten in Pesaro unter dem Inquisitor Michele Ghislieri, der spätere Papst Pius V., in Venedig und Ancona. Alle Bücher sollten vor dem Druck der Zensur vorgelegt werden; tatsächlich ließ Paul IV. auf Betreiben des Konvertiten Andreas de Monte 1557 auch alle bereits zensierten hebräischen Bücher einziehen. Er gab 1559 den ersten Index verbotener Bücher heraus, der die Lektüre des Talmud und aller Kommentare dazu verbot.

Papst Pius IV. erlaubte im Trienter Index 1564 jedoch wieder den Druck talmudischer Schriften, sofern sie anders genannt wurden und keine Schmähungen des Christentums enthielten. Jakob von Bonaventura hatte das Trienter Konzil für die italienischen Juden erfolgreich darum gebeten und sich zur Übernahme der Prüfungskosten bereit erklärt. Seitdem hieß der „bereinigte“ Talmud für Juden stets Gemara oder Schischa Sedarim. Sie sorgten teilweise selbst für die Zensur, indem sie Listen der für Christen anstößigen Stellen anlegten, so z.B. der Rabbiner Abraham Provenzale aus Mantua um 1555.

Hinzu kam die Verschärfung der Sozialpolitik gegenüber den Juden im Kirchenstaat: Papst Paul IV. witterte angesichts der Ausbreitung des Protestantismus überall „Ketzerei“ und sah Juden als deren Drahtzieher. 1555 erließ er die Bulle Cum nimis absurdum, um die römischen Juden zu demütigen und an ihrer Entfaltung zu hindern. Er verbot christlichen Hausangestellten Dienste und die Anrede „Herr“ für Juden, diesen den Aufenthalt nahe Kirchen, gebot ihnen Latein als einzige Geschäftssprache und zwang sie zur Umsiedlung in den ärmsten Stadtteil am Tiberufer. Am 26. Juli mussten sie alle in das neue Ghetto ziehen.

Papst Pius IV. hob einige dieser Maßnahmen seines Vorgängers wieder auf. Er erlaubte, dass Juden auf Reisen keinen Judenhut tragen mussten, so dass sie besser vor Überfällen geschützt waren. Auch die eingezogenen Bücher gab er ihnen zurück. Doch er regierte nur sechs Jahre; sein Nachfolger Pius V. erneuerte 1566 nur drei Monate nach Amtsantritt die Bulle Cum nimis absurdum und verbot jeden Kontakt zwischen Neuchristen (getauften Juden) und Juden: Sie durften nicht miteinander speisen und das jüdische Ghetto bei Folterandrohung nicht betreten. 1569 wies er alle Juden aus dem Kirchenstaat aus. Er rechtfertigte dies neben den bekannten Gottesmord-Anklagen mit angeblicher Wahrsagerei und Zauberei. Wer nach drei Monaten noch anzutreffen wäre, würde seinen ganzen Besitz verlieren. Nur die Juden in Rom und Ancona waren ausgenommen, weil er nahe dem Heiligen Stuhl ihre Bekehrung erhoffte.

Damit war die kurze Phase der toleranten Begegnung von jüdischen und christlichen Humanisten beendet. Doch anders als der Talmud blieben die Kabbala-Schriften von der katholischen Zensur weitgehend unbehelligt und konnten sogar neu gedruckt werden: so der Sohar 1558/59.

17. und 18. Jahrhundert

Der lutherische Antijudaismus blieb aktiv, etwa 1699 mit der Polemik Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz / Nebst einigen Vorbereitungs-Mitteln zu der Jüden Bekehrung des Celler Konsistorialpredigers Sigismund Hosmann.[1]

Doch traten seit dem 17. Jahrhundert vermehrt Vertreter eines Philosemitismus auf, die eine generelle Verurteilung des Judentums ablehnten und auf seine Vorzüge hinwiesen: so beispielsweise Hugo Grotius, Simon Episcopius (1583–1643), Pierre Jurieu (1637–1713), Johann Christoph Wagenseil (1633–1705). Dieser verlangte sogar, die jüdische Literatur für die christliche Exegese der Bibel heranzuziehen. Im Pietismus wurde Israel als Gottes ersterwähltes Volk dann weithin anerkannt, jedoch umso mehr versucht, es zu Christus zu bekehren.

Einige aufgeklärte Philosophen und Theologen des 18. Jahrhunderts, beispielsweise Montesquieu und auf jüdischer Seite Moses Mendelssohn haben dann die rechtliche Gleichstellung der Juden verlangt. Diese Entwicklung ging jedoch mit der Abkehr von den biblischen Traditionen einher. Sie verallgemeinerte die Besonderheit von Juden- und Christentum zu einer humanen Idee, Moral und Religiosität.

19. und 20. Jahrhundert

Polen

Polen war seit 1306 ein eigenes Königreich und wurde von Kasimir dem Großen politisch und ökonomisch gefestigt. 1367 erlaubte er Juden die freie Ansiedlung und gewährte ihnen Gewerbe- und Steuerfreiheit. Dies war damals außergewöhnlich und bewirkte einen Zustrom von jüdischen Einwanderern aus ganz Europa. Sie blieben hier nicht auf das Geldgeschäft beschränkt und stellten bald in ganz Polen einen Hauptanteil an der Schicht des Kleinbürgertums. Zudem lebten sie meist in eigenen Stadtbezirken, dem „Schtetl“, und hatten dort ihre eigene Verwaltung, die „Kahale“. So standen sich Juden und Polen wie zwei Volksgruppen gegenüber.

Im 16. Jahrhundert machten polnische Adelige Juden häufig zu ihren Gutsverwaltern und Geschäftsführern. Nach der Union mit Litauen (1569) wurden Juden meist Landverpächter ukrainischer Bauern und zogen sich als „Ausbeuter“, „Fremde“ und „Ungetaufte“ deren Hass zu. Der Kosakenaufstand von 1649 ging mit Massakern der Bauernheere an etwa 10.000 polnischen Juden und Katholiken einher. Beide fochten in der Schlacht bei Beresteczko 1651 Seite an Seite dagegen.

Im 18. Jahrhundert zerfiel Polen als Staat. Das beendete dort die Toleranz gegen andere Religionen und Minderheiten. Es kam zu zahlreichen Ritualmord-Prozessen und Lynchmorden an Juden. Nach einer Beschwerde ihres Vertreters und einer Empfehlung des mit der Untersuchung der Vorwürfe beauftragten Kardinals Ganganelli, des späteren Papstes Clemens XIV., verdammte Papst Benedikt XIV. 1758 die „Blutlüge“. Der polnische König August III. bestätigte dies 1763 und setzte damit den Pogromen vorerst ein Ende.

Im Zuge der von der Aufklärung inspirierten Gleichstellung wurde 1764 die jüdische Selbstverwaltung in Polen abgeschafft. Zudem spaltete sich das polnische Judentum in Chassidim („Fromme“) und Mitnaggedim (populäre Mystiker und orthodoxe Talmudisten). Der Haidamakenaufstand 1768 brachte erneute Bauernmassaker an Juden.

Der „Vierjährige Reichstag“, der von 1788 an Staats- und Wirtschaftsreformen beschloss, änderte nichts an der Lage der Juden. Das polnische Bürgertum lehnte ihre Gleichstellung ab, wollte sie aber zugleich zur Assimilation zwingen. Selbst progressive Reformer wie Pater Stanisław Staszic sahen sie als „Heuschreckenplage“ und „Schmarotzerhaufen“.

Um ihren Patriotismus zu zeigen, nahmen viele Juden 1794 am Aufstand von Tadeusz Kościuszko gegen die dritte Teilung Polens teil. Ein jüdisches Regiment fiel am 4. November im Kampf für Polens Freiheit und Einheit gegen die russischen Eroberer.

Napoleon Bonaparte gründete 1807 das Herzogtum Warschau. Doch er nahm die im Code Napoleon verankerte Gleichberechtigung der Juden schon 1808 wieder zurück. Dem folgte der Herzog Friedrich August von Sachsen mit einem Dekret, das den Juden die Bürgerrechte für 10 Jahre aberkannte, bis sie sich assimiliert hätten. Juden, die sich im Lebensstil ganz den Christen anpassten, erhielten jedoch zur Antwort:

„Wie können aber die sich zu den mosaischen Gesetzen Bekennenden dieses Land als ihr Vaterland ansehen? Sind sie nicht von dem Wunsche beseelt, in die Heimat ihrer Vorfahren zurückzukehren? Fühlen sie sich nicht als eine Nation für sich? Mit der Änderung der Tracht ist es noch lange nicht getan.“

So wurde das Judentum in Polen weniger als Religionsgemeinschaft denn als eigenes Volk betrachtet und ausgegrenzt. Daran knüpfte der polnische Nationalismus und Antisemitismus im 19. Jahrhundert fast nahtlos an.

Deutschland

Kaiserreich

Im Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts wurde es dann zur Regel, den angeblich überlegenen Universalismus und Moralismus der „absoluten“ christlichen Religion am unterlegenen, engen, materialistischen, überholten Judentum zu profilieren. Gerade die idealistischen und romantischen Heroen des Geistes erwiesen sich als hilflos und anfällig für das Umsichgreifen des sozialdarwinistisch und rassistisch begründeten Antisemitismus.

Dazu kam eine Politisierung des Christentums in lutherischer Tradition wie bei dem Berliner Hofprediger Adolf Stöcker. Luthers antijüdische Schriften wurden wiederentdeckt und ausgiebig für antisemitische Propaganda benutzt. Daran konnten später Nazis wie Julius Streicher, Alfred Rosenberg und „Der Stürmer“ anknüpfen. Dabei wurde allerdings Luthers theologischer und zeitgeschichtlicher Kontext stets ignoriert. Erst ab 1945 begann die evangelische Kirche, zeitbedingte Judenfeindlichkeit und genuine Wort-Gottes-Theologie bei Luther auseinanderzuhalten.

Weimarer Republik

Die Novemberrevolution beendete mit der Monarchie die Oberaufsicht des Kaisers über die Kirche (Summepiskopat) und das „Landesherrliche Kirchenregiment“, also das Recht der Landesregierungen, die höchsten Kirchenbeamten einzusetzen. Die Weimarer Verfassung gestattete den evangelischen Kirchen erstmals weitgehende Selbstverwaltung nach rein kirchlichen Gesichtspunkten. Das Synodalprinzip stärkte die Laien gegenüber Pastoren und Bischöfen.

1922 gründete sich der Deutsche Evangelische Kirchenbund (DEK) als gemeinsames Dach bekenntnisgebundener Landeskirchen. Das Konzept einer „Volkskirche“, deren Gemeinden auf kommunaler Ebene von der Bevölkerung getragen und für ihre Belange offen sein sollten, konnte sich nun entfalten. Diese ungewohnte Unabhängigkeit vom Staat verunsicherte viele evangelische Pastoren, die sich in der Kaiserzeit im deutschnationalen Bürgertum heimisch gefühlt hatten.

Ein Großteil war von Theologen ausgebildet worden, die den 1. Weltkrieg mittrugen. Die Pfarrer waren häufig in antisemitischen Studentenverbindungen wie dem Verein Deutscher Studenten organisiert. Seit Stoecker und Paul de Lagarde hatten sich Teile des Luthertums dem rassistischen Antisemitismus geöffnet und diesen als politisches Programm über das Kriegsende hinaus etabliert.

In der Nachkriegsnot erhielten der rückwärts gewandte Nationalismus und Antisemitismus enormen Auftrieb. Juden wie Hugo Preuß oder Walter Rathenau, die seit der Revolution in Führungspositionen aufsteigen konnten, wurden zur Zielscheibe des Hasses. Neue bürgerliche Parteien wie die DNVP propagierten die Dolchstoßlegende und lasteten alle Krisenphänomene dem „zersetzenden“ Einfluss des „Weltjudentums“ an.

Eine Flut von Veröffentlichungen stärkte diese Propaganda. Typisch für den Zeitgeist war Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes: Er stellte das Judentum als grenzen- und heimatloses, nur materiellen Zielen verhaftetes, unter die Völker zerstreutes „Fremdvolk“ dar, das wie ein Naturgesetz den Niedergang der „Wirtvölker“ und damit Hass und blutige Konflikte erzeugen würde. Das rechtfertigte rassistische „Lösungen“ der Judenfrage.

Viele Protestanten standen der deutsch-völkischen Bewegung nahe, die die tragenden politischen Kräfte der Weimarer Republik, Sozialdemokratie, Liberalismus und katholische Zentrumspartei, erbittert bekämpfte. In ihren Augen bedrohten die „Gottlosen“ im Verbund mit Katholiken und Juden die Verbindung von Volkstum und evangelischer Religion. Dabei behielt die Mehrheit Vorbehalte gegen den unverblümten Rassismus und wollte das Christentum dem Volkstum überordnen.

Eine Minderheit wandte sich jedoch der nun aufstrebenden „deutschchristlichen Bewegung" zu, die das Alte Testament als „jüdische Religionsurkunde“ abwertete und das Christentum „entjuden“ wollte, um es mit „germanischer“ Verehrung von „Blut und Boden“ zu verschmelzen. Von beiden Seiten aus wurden so die Grenzlinien zwischen christlichem Antijudaismus, der den Juden die Tür zur Kirche offenhielt, und rassistischem Antisemitismus, der sie aus dem Volksglauben geistig und politisch „ausmerzen“ wollte, immer mehr verwischt.

Zeit des Nationalsozialismus

Von diesen Strömungen im Kulturprotestantismus während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik ausgehend, hatte der kirchliche Antijudaismus dem staatlichen Antisemitismus der Nationalsozialismus wenig entgegenzusetzen.

Zwar kam es aufgrund der von den Deutschen Christen erzwungenen Ausschließung von protestantischen Pfarrern jüdischer Abstammung, „Arisierung" genannt, zur Gründung des Pfarrernotbundes und zu einem Kirchenkampf, aus dem 1934 die Bekennende Kirche hervorging. Doch auch in dieser evangelischen Opposition überwogen antijudaistische und obrigkeitshörige Einstellungen, so dass es zu keinem kirchlichen Widerstand gegen die immer deutlichere Judenverfolgung des NS-Regimes kam und man sich weithin auf die Verteidigung kirchlicher Selbstverwaltung gegen staatliche Eingriffe begrenzte.

Eine Ausnahme war Dietrich Bonhoeffer, der sich dem Widerstand des Kreisauer Kreises und Plänen zu einem Attentat auf Hitler anschloss. Schon 1933 ahnte Bonhoeffer das kommende Geschehen im Betheler Bekenntnis voraus:

„Wir verwerfen jeden Versuch, die geschichtliche Sendung irgendeines Volkes mit dem heilsgeschichtlichen Auftrag Israels zu vergleichen oder zu verwechseln. Es kann nie und nimmer Auftrag eines Volkes sein, an den Juden den Mord von Golgatha zu rächen.“

Der Holocaust wurde dadurch nicht aufgehalten, sondern konnte nicht zuletzt wegen der jahrhundertelangen kirchlichen Volkserziehung im Geist des Antijudaismus mit Hilfe 100.000er getaufter Mitläufer durchgeführt werden. Daher haben die Kirchen den Völkermord am europäischen Judentum, die Shoa, mitzuverantworten.

Antijudaismus nach 1945

Kirchliche Erklärungen

Nach 1945 begann ganz allmählich die Aufarbeitung des christlichen Antijudaismus und Neubestimmung des Verhältnisses zum Judentum. In der ersten Nachkriegserklärung der neu gegründeten EKD, dem Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945, fehlte noch jeder ausdrückliche Hinweis auf die Shoa; selbst die Aussage Martin Niemöllers (Durch uns ist großes Leid über viele Völker und Länder gekommen) fand nur gegen heftigen Widerspruch Eingang in den Wortlaut.

Erst unter dem Einfluss von Theologen wie Karl Barth, Helmut Gollwitzer und Friedrich-Wilhelm Marquardt kam es zu einer theologischen Neubesinnung auf die unaufgebbaren jüdischen Wurzeln und Inhalte des christlichen Glaubens. Die Deutschen Evangelischen Kirchentage der 1960er Jahre leisteten dabei exegetische, aufklärende und religionsdialogische Arbeiten. Ein Meilenstein zur Revision antijudaistischer theologischer Positionen war der Synodalbeschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden, den die Evangelische Kirche im Rheinland am 11. Januar 1980 fasste. Eine Reihe evangelischer Landeskirchen folgte dem mit ähnlichen Erklärungen und Verfassungsänderungen. Eine Gruppe jüdischer Gelehrter des National Jewish Scholars Project hat diese Bemühungen der christlichen Seite im Juli 2002 mit der Erklärung DABRU EMET (deutsch: Redet Wahrheit) gewürdigt.

In vielen Bereichen von Kirche und Theologie sowie im Religionsunterricht bleiben antijudaistische Stereotypen jedoch bis in die Gegenwart hinein wirksam. Kritik finden deshalb manche feministischen Theologinnen.[2] Weiterhin wird das rabbinische Judentum vor allem wegen des lutherischen Gegensatzes von „Gesetz“ und „Evangelium“ oft als angeblich äußerliche, am „Buchstaben“ haftende Gesetzesfrömmigkeit, als Kasuistik, „Werkreligion“ u.ä. dargestellt und bildet so die Negativfolie für die angeblich ethisch überlegene Lehre Jesu und des Christentums.

Benedikt XVI. formulierte 2008 die Karfreitagsfürbitte für die Juden für die Tridentinische Messe neu. Diese Ausnahmefassung stieß auf Proteste bei Vertretern jüdischer Gemeinden, etwa dem Zentralrat der Juden in Deutschland[3] und vielen Christen, etwa beim Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralrat der Katholiken.[4]

Siehe auch

Literatur

Übersicht
Reformationszeit
  • Heiko Oberman: Wurzeln des Antisemitismus. Severin und Siedler Verlag, 1981
  • Heiko Oberman: Luther, Israel und die Juden. Befangen in der mittelalterlichen Tradition. In: Martin Luther heute. Themenheft 3, Bundeszentrale für politische Bildung, 1983
  • Peter von der Osten-Sacken: Martin Luther und die Juden, 2002
Pietismus
  • Peter Blastenbrei: Johann Christoph Wagenseil und seine Stellung zum Judentum, Harald Fischer, Erlangen 2004, ISBN 3-89131-409-4
NS-Zeit
  • Michael Ley: Holokaust als Menschenopfer, ISBN 3-8258-6408-1
  • David Flusser: Ulrich Wilckens und die Juden, in: Evangelische Theologie, Gütersloh, 1974, S. 236–243
  • Gerhard Lindemann: Antijudaismus und Antisemitismus in den evangelischen Landeskirchen während der NS-Zeit. In: Geschichte und Gesellschaft, 29. Jahrgang, Heft 4: Protestantismus und Nationalsozialismus, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, S. 575–607
nach 1945
  • Rat der EKD (Hrsg.): Christen und Juden I–III, Gütersloher Verlagshaus 2002

Weblinks

Einzelbelege

  1. Der Titel lautete fortgesetzt: „Auf Veranlassung der erschröcklichen Gottes-Lästerung / welche der Jude Jonas Meyer von Wunstorff / als er vor der Fürstl. Residentz-Stadt Zelle / nebst andern hochberüchtigten Dieben den 21. Martii An. 1699. abgethan / und nach dem Qverbalcken des Gerichts / behueff einer Winde, öffentlich in der Lufft schwebende, hinauffgezogen ward / Zu vieler tausend Zuschauer höchster Bestürtzung, ausgerufen / …“; Hieronymus Friederich Hoffmann, Celle 1699.
  2. Rafaela Eulberg: Jesus, der erste Feminist und der Mord an der Göttin? Antijudaismus in christlich-feministischer Theologie und in Ansätzen postchristlicher Feministinnen
  3. Pressemitteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland: Zentralrat und Rabbiner kritisieren neuen Wortlaut der katholischen Fürbitten
  4. ZdK: Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim ZdK veröffentlicht Stellungnahme zur Karfreitagsfürbitte „Für die Juden“

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