Lettrismus

Lettrismus

Der Lettrismus (frz. Lettrisme, zu frz. Lettre, Buchstabe) ist eine 1945 von Isidore Isou (1925—2007) in Paris gegründete literarische und künstlerische Bewegung, die in konsequenter Weiterführung und Systematisierung unter anderem dadaistischer und surrealistischer Tendenzen, die Zerlegung von Wörtern zu Buchstaben und deren Neuzusammensetzung zu sinnfreien Lautgebilden anstrebte.

Inhaltsverzeichnis

Entwicklung

Isidore Isou, ein 21-jähriger rumänischer Künstler, gab 1946 die Gründung der Lettristischen Bewegung bekannt. Die neue Bewegung mit etwa zwanzig Mitgliedern verkündete 1948 im Quartier Latin auf Plakaten optimistisch: 120.000 Jugendliche werden die Straße erobern, um die Lettristische Revolution zu machen.[1] Ziel war eine Revolutionierung der althergebrachten Ästhetik. Die Sprache sahen die Lettristen als in ihrer Kreativität erschöpft an, künstlerische Produktion sollte sich in Zukunft auf ein reineres und tiefgründigeres Element des Poesiemachens verlegen: den Buchstaben. Es sollten statt Bildern Zeichen benutzt werden, Isou nannte seine Theorie Hypergraphologie. Damit sollten Figürlichkeit und Abstraktion in der Malerei durch Buchstaben und Zeichen ersetzt werden.

Lettristen waren dafür bekannt, ihre Kleidung mit Buchstaben und Slogans zu versehen.[2]

Den Lettristen war auch bereits die Auseinandersetzung mit der Architektur sehr wichtig. Sie stellten die These auf, dass die Befreiung des Lebens auf die Befreiung der Stadt folgt. Dabei war ihnen wichtig, dass die Gesamtheit der Künste nicht abgehoben von der Wirklichkeit existiert, sondern sich auf eine lebenswerte Aktivität stützt. Somit waren die Lettristen mit einem neuen Lebensstil auf der Suche nach einem befreienden Städtebau. Dies war gleichzeitig theoretische Grundlage für die Situationisten.

Es kam zu einer Spaltung der Gruppe über die Frage, ob weiter Kunst und Ästhetik das Feld der Arbeit sein sollten oder dadaistische Antikunst und Sabotage das gebotene Mittel seien, um direkt auf die Wirklichkeit Einfluss zu nehmen. Die Sabotage-Fraktion gründete daraufhin die Lettristische Internationale.

Aus dem Kreis der Lettristen sind auch Guy Debord (der sich jedoch später von ihnen distanziert hat) und andere Protagonisten des Situationismus hervorgegangen. In der lettristischen Bewegung hatte sich eine Gruppierung gebildet, die sich um Guy Debord sammelte. Zum ersten Mal wurde diese Gruppe öffentlich wahrgenommen, als sie am 9. April 1950 bei einer Ostermesse in der Pariser Kathedrale Notre-Dame einen Pastor entführte und ihn durch Michel Mourre, einen Vertreter aus den eigenen Reihen ersetzte. Mourre, verkleidet als Dominikanermönch, hielt vor etwa 10.000 Besuchern der Messe eine „Predigt“, in der er verkündete „Gott ist tot“. In dem dabei entstehenden Tumult musste die Gruppe der anwesenden Lettristen fliehen und konnte nur knapp einem Lynchmord durch die aufgebrachte Menge entgehen.[3] Nachdem die Gruppierung außerdem versucht hatte, eine Pressekonferenz für Charlie Chaplin zu sprengen,[4] distanzierte sich Isou von ihnen, und es kam zur Gründung der Lettristischen Internationale durch die Debord-Anhänger, aus der später die Situationistische Internationale hervorging.

1972 stieß Mike Rose als einziger Deutscher auf die Pariser Gruppe der Lettristen. Die in dieser Zeit entstandenen „Zeichen“-Bilder wurden international bekannt. Eugen Gommringer schrieb über Mike Rose: „Er darf sich heute ganz richtig als ‚Der deutsche Beitrag zum Lettrismus‘ bezeichnen lassen.“[5]

Richard Grasshoff definiert Lettrismus in seiner Dissertation als eine „Produktionsstrategie, die in ihrem Kern mystische, ludische und dekompositorische Charakterzüge vereint“ und unterscheidet demnach die Varianten Mystischer Lettrismus, Ludistischer Lettrismus und Dekompositorischer Lettrismus; er vertritt die These, dass sich das enge Verständnis des Lettrismus als „Nonsens-Poesie“ oder rein avantgardistische Produktionsstrategie nicht aufrechterhalten lasse.

Der Lettrismus weist Parallelen zur konkreten Poesie und besonders zur visuellen Poesie auf und wurde auch von der Literaturwissenschaft adaptiert.

Zu den wichtigen Werken des frühen Lettristischen Films zählen Le film est déjà commencé? von Maurice Lemaître (1951), Traité de bave et d’éternité von Isidore Isou (1951) und L'Anticoncept von Gil J. Wolman (1952). Isou hat die Grundlagen der lettristischen Kinoästhetik in seiner Esthétique du cinéma (1953) beschrieben.

Zitate

  • […] und ich fand meine Leute. Da waren Alkoholiker, sehr junge Alkoholiker, wie wir alle es waren. Sie kamen nachmittags zusammen und dann gab es Musik, Lärm, Gespräche die ganze Nacht […]
  • Jeder ist ein Kind vieler Väter. Es gibt den Vater, den wir hassten, den Surrealismus und es gab den Vater, den wir liebten: DADA. – Michèle Bernstein
  • Wir sind diejenigen, die in die sozialen Kämpfe den einzig wahren Zorn hineintragen werden. Man macht die Revolution nicht, indem man 25216 Francs im Monat fordert. Sofort muß man sein Leben gewinnen, sein vollständig irdisches Leben, in dem alles machbar ist:
  • Wir müssen einen Aufruhr unterstützen, der uns betrifft, der dem Maß unserer Forderung entspricht. Wir stehen für eine bestimmte Idee des Glücks, selbst wenn sie bisher immer verloren hat, eine Idee, nach der sich jedes revolutionäre Programm zuerst ausrichten muss.

Siehe auch

Konkrete Poesie, Scat, Oulipo (Ouvroir de Littérature Potentielle)

Literatur

Einzelnachweise

  1. Marcus: Lipstick Traces, S. 280
  2. Marcus: Lipstick Traces, S. 337
  3. Marcus: Lipstick Traces, S. 289 ff.: Der Überfall auf Notre-Dame
  4. Marcus: Lipstick Traces, S. 335 f.
  5. Eugen Gommringer in: Mike Rose. Bamberg 1959–1979. Katalog zur Ausstellung in der Neuen Residenz, Bamberg: Mike Rose – ein erster Überblick über sein Werk, Hanau, 1979. ISBN 3-921726-05-0

Weblinks


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