Lehrgedicht

Lehrgedicht

Ein Lehrgedicht ist die Darstellung eines Sachgegenstandes aus Kultur, Gesellschaft, Literatur oder Naturwissenschaft in hochpoetischer Form. Das gängige Versmaß der Lehrdichtung ist der stichische Hexameter, Lehrgedichte im elegischen Distichon, in Sotadeen oder in jambischen Versmaßen kommen ebenfalls vor, sind aber weitaus seltener. Das Lehrgedicht ist an sich eine Gattung der griechisch-römischen Literatur, die aber vom 15. bis 18. Jahrhundert (im Zuge der Rückbesinnung auf die Antike) eine Renaissance erlebt. Der überwiegende Teil der Lehrgedichte wurde daher (nach den Anfängen der Lehrdichtung in Griechenland) in lateinischer Sprache abgefasst, es gibt jedoch durchaus auch volkssprachliche Lehrgedichte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts stirbt die Gattung weitgehend aus.

Ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert ist Karl Herschmanns Das unterhaltende Bridge-Lehrbuch, das in paarweise gereimten vierhebigen Jamben die Regeln dieses Kartenspiels nebst Hinweisen zur Spielstrategie darlegt.

Geschichte des Lehrgedichts

Die frühesten Zeugnisse für Lehrdichtung ("didaktische Poesie") stammen aus dem 7. Jahrhundert vor Christus. Der griechische Dichter Hesiod aus Askra in Böotien verfasste in dieser Zeit ein Gedicht über die Entstehung der Welt (s. Schöpfungsmythen) und die Genealogien griechischer Götter (Theogonie) und ein weiteres über Landwirtschaft (Werke und Tage, gr. ἔργα καὶ ἡμέραι / érga kai hemérai; der zweite Teil, "Tage", ist wahrscheinlich unecht), dessen Hintergrund ein Erbschaftsstreit mit seinem Bruder Perses ist. Obwohl sowohl die "Theogonie" als auch die "Erga" keine Lehrgedichte im eigentlichen Sinne sind, gelten sie späteren Dichtern als Prototypen didaktischer Poesie, an denen man sich vielfach orientierte.

Im klassischen Griechenland des fünften Jahrhunderts vor Christus nutzten die unteritalischen Naturphilosophen Parmenides und Empedokles die poetische Form zur Darstellung ihrer Lehre: Sowohl von Parmenides' Lehrgedicht "Über das Sein" als auch von Empedokles' Lehrgedicht "Über die Natur" sind allerdings nur wenige Fragmente erhalten geblieben, die gleichwohl einen guten Eindruck von der Sprachgewalt ihrer Verfasser vermitteln.

Einen Wandel machte das Lehrgedicht in der Zeit des Hellenismus durch, da die Verfasser von Lehrgedichten von dieser Zeit an nicht mehr die Ergebnisse eigener Forschungen in dichterischer Form präsentierten, sondern ihren Stoff aus einer fachwissenschaftlichen Prosavorlage entnehmen. Das früheste (und zugleich wirkungsreichste) Zeugnis hellenistischer Lehrdichtung sind die Phainomena des Aratos (Kilikien), die in etwa 1000 Versen den Sternenhimmel und besondere Himmelserscheinungen, z.B. Kometen, beschreiben. Erhalten sind aus hellenistischer Zeit ferner zwei Lehrgedichte des Nikandros aus Kolophon, die sich in jeweils etwa 600 Versen mit gefährlichen Tieren (v.a. Schlangen - "Theriaká) und mit den Heilmitteln gegen Schlangenbisse ("Alexipharmaka") beschäftigen. Weitere Lehrgedichte Nikanders, etwa die botantisch ausgerichteten Georgika, sind nur fragmentarisch erhalten geblieben.

Das römische Lehrgedicht beginnt mit der Übersetzung einer hellenistischen Vorlage des Archestratos von Gela durch den Dichter Ennius, der dessen "Hedypatheia", eine metrische Sammlung von Kochrezepten, ins Lateinische übertrug. Von diesem wie von den anderen frühen römischen Lehrgedichten, etwa den literarhistorischen Stücken des Accius, des Porcius Licinius und des Volcacius Sedigitus, sind nur wenige Fragmente erhalten. Eine wesentliche Neuerung der Gattung stellt das Lehrgedicht "De rerum natura" des T. Lucretius Carus dar; das sowohl aufgrund seines Umfangs von sechs Büchern als auch sprachlich-stilistisch sowie in einzelnen Szenen auf das heroische Epos Bezug nimmt und der Fiktionalität z.B. der homerischen Gedichte die Rationalität epikureischer Welterklärung entgegenstellt, durch die den Menschen die Furcht vor dem Tod und die Furcht vor den Göttern genommen werden soll. Als Reaktionen auf das Lehrgedicht des Lucrez sind die beiden "großen" frühkaiserzeitlichen Lehrgedichte des Vergil und des Manilius zu verstehen: Thema von Vergils Lehrgedicht "Georgica" sind zwar, mit deutlichem Bezug auf Hesiods Erga und Nikanders Georgika (deren Titel Vergil übernommen hat), Landbau, Vieh- und Bienenzucht und die Arbeiten, die der Bauer zu verrichten hat. Dem lucrezischen Konzept einer zufällig entstandenen Welt aus Atomen, in der der freie Wille das Produkt einer zufälligen Abweichung im stetigen Atomregen ist und die Seele ein sterbliches Organ, das sich nach dem Tod des Menschen in ihre Atome verflüchtigt, stellt Vergil das Konzept eines planvollen, von einem göttlichen Allgeist durchzogenen Kosmos entgegen, in dem zerstörerische und ordnende Kräfte in einem stetigen Kampf liegen. Vergil sieht die Welt als einen Ort, an dem dem Menschen harte Arbeit abverlangt wird, die ihn jedoch ganz positiv zu Kreativität und Erfindungreichtum zwingt, so dass es ihm möglich ist, das immer wieder hervorbrechende Chaos, das sich für Vergil im Wildwuchs der Natur, aber auch im Krieg und in der Liebe manifestiert, zu bändigen.

Ovid begründet die römische Liebesdidaktik und verwendet Stoffe und Figuren der Elegie und Komödie, dichtet im elegischen Distichon. Auch heute noch lesenswert ist der Anfang des Lehrgedicht über Schönheitsmittel (medicamina faciei femineae), wo ein Loblied auf die Zivilisation gesungen wird. Heitere Betrachtungen des Liebeslebens voller Ironie finden sich in seiner Liebeskunst, der Ars amatoria; Gegenstand dieses Gedichts ist nicht die Liebe als Leidenschaft, sondern die Erotik als gesellschaftliches Phänomen. Die Remedia amoris (Heilmittel gegen die Liebe) nehmen Bezug auf das Ärgernis, das die ars amandi erregt hatte: zur Technik der Erotik gehöre es auch, sich von einer Leidenschaft, die unbequem wird, freimachen zu können.

Die Spätantike kehrt noch einmal zurück zum griechischen Lehrgedicht: Postumius Rufius Festus Avienus (2. Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr.) benutzt eine griechische Vorlage in der Schilderung der Meeresküste von der Bretagne bis zum Schwarzen Meer (De ora maritima). Die stoffliche Grundlage ist wohl der Periplus des karthagischen Seefahrers Himilko aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Das Werk ist in jambischen Trimetern abgefasst und stützt sich am Schluss auf den Pontus-Exkurs der Historien Sallusts. Es ist eine wertvolle Quelle für die karthagische Expansion in den Atlantik und für die alte Geographie und Seefahrt. Es sind die ältesten Nachrichten über Westeuropa.

Literatur


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  • Lehrgedicht — Lehrgedicht, didaktisches Gedicht, Dichtungsart, in welcher der Zweck der Belehrung vorwaltet: wie die Theogonien und Kosmogonien der Alten, die Fabel, die Parabel und die Gnomen oder Spruchgedichte etc …   Kleines Konversations-Lexikon

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  • Lehrgedicht: Weltentstehung, Bienenzucht, Sternenhimmel und Liebe —   Am Anfang der didaktischen Poesie standen in Griechenland die in Hexametern abgefassten Lehrgedichte Hesiods (um 700 v. Chr.). In seiner »Theogonie« schildert er die Entstehung der Götterwelt und die Abfolge der Göttergeschlechter bis hin zur… …   Universal-Lexikon

  • Lehrgedicht, das — Das Lehrgedicht, des es, plur. die e, ein Gedicht, dessen vornehmster Endzweck ist, zu lehren oder zu unterrichten …   Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart

  • Lehrgedicht — Lehr|ge|dicht 〈n. 11〉 Lehrdichtung in Gedichtform * * * Lehr|ge|dicht, das (Literaturwiss.): vgl. ↑ Lehrdichtung. * * * Lehr|ge|dicht, das (Literaturw.): vgl. ↑Lehrdichtung …   Universal-Lexikon

  • Lehrgedicht — Lehr|ge|dicht …   Die deutsche Rechtschreibung

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