Kulturwissenschaften

Kulturwissenschaften

Kulturwissenschaft erforscht die materielle und symbolische Dimension von Kulturen. Sie vereinigt die kulturellen Aspekte von Kunstwissenschaft, Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Sprachwissenschaft, Philosophie, Theologie, Psychologie und Soziologie zu einem interdisziplinären Fach.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Kulturwissenschaft als eigenständige Disziplin reicht in Deutschland auf Kulturphilosophie (Georg Simmel, Ernst Cassirer), Kulturgeschichte, historischer und philosophischer Anthropologie, Soziologie (Max Weber) und Kunstgeschichte (Aby Warburg) bis in die 1920er-Jahre zurück.

Seit den 1960er-Jahren hat sie unter dem angelsächsischen Begriff „cultural studies“ als fächerübergreifender Forschungsansatz, der die Bedeutung von Kultur als Alltagspraxis zu ergründen versucht, international an Bedeutung gewonnen.

Seit den 1980er-Jahren steht die Bezeichnung „Kulturwissenschaften“ zudem für eine neue Selbstbeschreibung der in der Tradition Wilhelm Diltheys in Deutschland „Geisteswissenschaften“ genannten Humanwissenschaften (engl. Humanities).

Kulturwissenschaft wird in Deutschland je nach Institutionalisierung stärker als empirische Kulturwissenschaft (Ethnologie oder Europäische Ethnologie) oder aber als historische Kulturwissenschaft (Kulturwissenschaft, Kulturgeschichte, Medienkultur) gelehrt.

Kulturwissenschaften und Kulturwissenschaft

Von den Kulturwissenschaften (im Plural), welche die Methode einzelner Geisteswissenschaften für die Untersuchung von Kultur behandelt kann nach Hartmut Böhme die neuere Disziplin der Kulturwissenschaft als Disziplin unterschieden werden, welche zwar für die Untersuchung von Kultur auch auf die Ergebnisse der Einzelwissenschaften angewiesen ist, aber trotz allem versucht durch Kulturreflexion und Kulturkritik übergreifende Zusammenhänge in den Blick zu bringen: "Dies unterscheidet die Kulturwissenschaft, jedenfalls in ihrer gegenwärtigen Phase, von den etablierten Geisteswissenschaften, die aufgrund ihrer hohen Spezialisierung den Kontakt zu jener Tradition weitgehend verloren haben, die R. Koselleck (1973) als den für die Moderne charakteristischen Zusammenhang von „Kritik und Krise“ beschrieben hat."[1]

Im Vergleich zu den Kulturwissenschaften kann die Kulturwissenschaft durch folgende Punkte unterschieden werden[2]:

  • Einerseits nimmt sie die Verdrängung der Geisteswissenschaften durch den Nationalsozialismus zurück, andererseits schließt sie nicht unmittelbar an die deutsche Tradition der Geisteswissenschaften an, sondern nimmt auch Ideen aus den Cultural Studies und Humanities mit auf.
  • Gegenstand ihrer Untersuchung ist nicht mehr nur die "hohe" Kultur, sondern sie bezieht alle Bereiche kulturellen Lebens mit ein.
  • Aufmerksamkeit widmet sie daher allen Massenmedien (also nicht mehr nur dem Buch), da Kultur nur in Medien geschieht.
  • Damit spielt nicht mehr nur die schriftliche Überlieferung eine zentrale Rolle, sondern alle kulturellen bildlichen Formen, d.h. perfomative Akte, Körperfiguren, Rituale und Habitus.
  • Als kulturelles Gedächtnis zählt somit nicht mehr nur das Geschriebene, sondern alle Verkörperungen und Einbettungen von Kultur, die sich für ihren Erhalt ständig neu aktualisieren und einschreiben müssen.
  • Die Kulturwissenschaft untersucht die Wanderungsbewegung der kulturellen Formen und Symbole über historische und ethnische Grenzen hinweg, wodurch zugleich ein Eurozentrismus vermieden wird.
  • Im Anschluß an die Kultursemiotik versteht sie Kultur als Symboluniversum und textualen Zusammenhang: Die Bedeutung einzelner kultureller Momente ergibt sich immer nur im Zusammenhang mit anderen Stellen dieses Textes, Kultur ist ein Text, in dem die Kulturwissenschaft liest, aus dem sie das kulturell Bedeutsame herausliest.

Internationaler Vergleich

Während sich insbesondere die anglo-amerikanischen „cultural studies“ als dezidiert politische Wissenschaft verstehen, untersuchen die meisten Vertreter der deutschen Kulturwissenschaft auch andere (politikfreie) Wissensgebiete. Dies liegt in der Geschichte der deutschen Kulturwissenschaft begründet.[3]

Die russische Kulturologie basiert hauptsächlich auf der Semiotik, wobei hier hauptsächlich die Tartuer (Juri Lotman) und Moskauer Schulen (Boris Uspenski) zu erwähnen sind. Aber auch Michail Bachtin als einer ihrer Vorläufer gehört zu ihrem Erbe.

Kritik

Friedrich Kittler kritisiert die „wunderbar vorgespielte, aber desto verlogenere wissenschaftliche Unschuld“ der Kulturwissenschaft, vor allem aber der angelsächsischen cultural studies. Statt sich im Standpunkt eines allem enthobenen Beobachters zu vermuten, fordert Kittler statt dessen „unsere eigene Wissenschaft“ als Sachverhalt „mit dessen eigenen Mitteln anzugehen.“[4] Indem er die Entstehung von Kulturwissenschaft und cultural studies historisiert, betont Kittler, daß auch die cultural studies nicht weltanschaulich neutral sind, sondern sich selbst als eine Form der gelebten Kultur erweisen.

„Vor allem hat jede Theorie, die einer sogenannten Gesellschaft (und sei es zu deren sogenannter Verbesserung) dient, über ihre Grundbegriffe schon vorentschieden. Sie hält jene Leere nicht aus und offen, in deren dunklem Raum es im Gegensatz zu einer allgegenwärtigen fable convenue nie ausgemacht sein kann, daß es den Rausch und die Götter, die Tragödie und den Himmel nie und nimmer gibt. Keine Menschen, keine Gesellschaften befinden darüber, ob und wann im Geschenk des Gusses zumal Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen weilen.“[5]

Kittler hält hier dem sich neutral gebenden Wissenschaftsbetrieb zum Vergleich eine alternative Welt entgegen, wie er sie in Nietzsches Geburt der Tragödie und in Heideggers Spätphilosophie des Gevierts findet. Weder weltanschauliche Neutralität noch ein absoluter Standpunkt lassen sich für Kittler durch den Forscher herstellen, sondern werden durch die mediengeschichtliche Dynamik bestimmt, die sich der Verfügbarkeit des Menschen entzieht. Diese Erkenntnis auf sich selbst anzuwenden fordert Kittler von den cultural studies und der Kulturwissenschaft.

Literatur

  • Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe: Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996, ISBN 3-499-55575-1
  • Hartmut Böhme, Peter Matussek, Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. 2. Auflage. Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002, ISBN 3-499-55608-1
  • Elize Bisanz (Hg.): "Kulturwissenschaft und Zeichentheorien.Zur Synthese von Theoria, Praxis und Poiesis." Reihe: Methoden der Kulturwissenschaft, LIT-Verlag, 2004, ISBN 3-8258-8085-0
  • Elize Bisanz (Hg.): "Diskursive Kulturwissenschaft. Analytische Zugänge zu symbolischen Formationen der pOst-Westlichen Identität in Deutschland.". Reihe: Methoden der Kulturwissenschaft, LIT-Verlag, 2005, ISBN 3-8258-8762-6
  • Manfred Engel: "Kulturwissenschaft/en – Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft – kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft". In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 1 (2001), S. 8-36
  • Ludger Heidbrink, Harald Welzer (Hgg.): Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften, Verlag C. H. Beck, München 2007, ISBN 3-406-55954-9
Fachzeitschriften
  • Michael C. Frank, Bettina Gockel, Thomas Hauschild, Dorothee Kimmich, Kirsten Mahlke (Hrsg.): ZfK - Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Band 1. transcript, Bielefeld 2007ff, ISSN 9783-9331 (ZfK Gesamtherausgeber: Thomas Hauschild und Lutz Musner)
Aktuelle Handbücher
  • Bachmann-Medick, Doris (2009): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (= rowohlts enzyklopädie 55675). 3. neu bearb. Auflage. Reinbek bei Hamburg.
  • Aleida Assmann (2006): Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen (= Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik Bd. 27). Berlin.
  • Jäger, Friedrich und Jörn Rüsen (Hrsg.) (2004): Handbuch der Kulturwissenschaften, drei Bände. Stuttgart.
  • List, Elisabeth und Erwin Fiala (Hrsg.) (2004): Grundlagen der Kulturwissenschaften. Interdisziplinäre Kulturstudien. Tübingen.
  • Reckwitz, Andreas (2000): Die Transformation der Kulturtheorien. Weilerswist.
Wissenschaftsgeschichte und kulturwissenschaftliche Archäologie
Sonstiges
  • Assimilation - Abgrenzung - Austausch. Interkulturalität in Sprache und Literatur. Hrsg. v. Jürgen Joachimsthaler und Maria K. Lasatowicz. Frankfurt/M.: Lang 2000, ISBN 3-631-34894-0
  • Regionalität als Kategorie der Sprach- und Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Instytut Filologii Germanskiej der Uniwersytet Opolski. Frankfurt/M.: Lang 2002, ISBN 3-631-39167-6
  • Csaba Földes: Interkulturelle Linguistik. Vorüberlegungen zu Konzepten, Problemen und Desiderata. Universitätsverlag, Veszprém 2003, ISBN 963-9495-20-4, Edition Praesens, Wien 2003, ISBN 3-7069-0230-3; siehe: http://www.vein.hu/german/Suppl.Volltext.pdf
  • Klaus P. Hansen: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. 3. Auflage. Francke, Tübingen 2003, ISBN 3-7720-2242-1
  • Mey, Marcus: Regionalismus in Großbritannien - kulturwissenschaftlich betrachtet, Berlin 2003: Duncker & Humblot

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Hartmut Böhme: Was ist Kulturwissenschaft?. 2001
  2. Vgl. Hartmut Böhme: Was ist Kulturwissenschaft?. 2001
  3. Vgl. Böhme 2002.
  4. Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. Fink, München 2001, S. 11.
  5. Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. Fink, München 2001, S. 249.

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