Korrumpierungseffekt

Korrumpierungseffekt

Der Korrumpierungseffekt (auch Effekt der übermäßigen Rechtfertigung oder Selbst-Korrumpierung) bezeichnet die Verdrängung von primärer Motivation (Handeln aus eigenem, inneren Antrieb, „intrinsische Motivation“) durch sekundäre Motivation (Handeln aufgrund von Belohnungen oder Forderungen von Mitmenschen, „extrinsische Motivation“). Fällt der äußere Anreiz weg, reduziert sich auch das ursprünglich gerne und freiwillig gezeigte Verhalten. Man spricht auch vom Verdrängungseffekt, wobei die Verdrängung eines Motivs durch ein anderes gemeint ist. Im Englischen ist der Effekt als Overjustification-Effect (etwa: Überrechtfertigungseffekt) bekannt.

Der Effekt tritt auf, wenn Menschen bewusst oder unbewusst ihr eigenes Verhalten mit äußerem Druck (zwingende Umstände) oder Sog (Belohnung) begründen, obwohl die wahre Ursache des Verhaltens in eigenen Wünschen oder Interessen lag (zum Beispiel Neugier). Intrinsische Motivation kann also nur korrumpiert werden, wenn sie vorhanden und groß genug ist. Ist das Anfangsinteresse ohnehin gering, funktionieren äußere Anreize hingegen.[1]

Inhaltsverzeichnis

Theorie

Daryl Bem[2] leitete diesen Effekt aus seiner Selbstwahrnehmungstheorie ab. Der Effekt wird zusammenfassend so erklärt: Die Person nimmt wahr, dass sie für eine Tätigkeit, die sie bisher gern ausgeübt hat, eine Belohnung erhält. Daraus resultiert eine kognitive Neubewertung der Tätigkeit. Die Person nimmt nunmehr an, dass sie die Tätigkeit doch nicht so gerne tut, denn sie wird ja dafür so belohnt, wie sie es von anderen, von ihr weniger gern getanen Tätigkeiten kennt. Die Person korrumpiert ihre eigene Bewertung und kann darüber zu einer Änderung ihrer Motivation kommen, was sich nachteilig auf die Leistungen in der ehemals gern ausgeübten Tätigkeit auswirken kann.

Diese Theorie hat kontroverse Diskussionen unter anderem in der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie (ABO) ausgelöst, vor allem wegen ihrer Voraussage, dass eine (finanziell höhere) Belohnung nicht in allen Fällen angebracht sei, insbesondere dann nicht, wenn sich die Person engagiert mit einer Tätigkeit beschäftigt, was andererseits den Optimalzustand in vielen kommerziellen Tätigkeitsfeldern darstellt, der deshalb auch höher belohnt werden sollte. Es ist schwer vertretbar, warum eine Person, die intrinsisch motiviert arbeitet und dabei mehr leistet, nicht höher belohnt werden sollte als andere Personen, die die ihnen übertragenen Arbeiten aus extrinsischen Motiven lediglich zufriedenstellend oder routiniert erledigen. Dies führte zu Kritiken und zu weitergehenden Forschungen.

Forschungen zum Korrumpierungseffekt

Deci[3] lieferte 1971 erste experimentelle Bestätigungen zum Korrumpierungeffekt. Auch eine Meta-Analyse von 1999 mit 128 Studien[4] zeigte bedeutsame negative Effekte aufgrund von Belohnungen, eingeschränkter Autonomie und externer Verhaltenskontrolle auf die intrinsische Motivation.

Greene, Sternberg und Lepper (1976) gaben Grundschülern neue Mathematikspiele und maßen 13 Tage lang, wie viel Zeit die Kinder freiwillig mit den Spielen verbrachten. In den folgenden 11 Tagen erhielten die Kinder Belohnungen für dieselbe Tätigkeit. Nach Absetzen der Belohnung sank, wie vorhergesagt, die Beschäftigungsdauer unter das Anfangsniveau und unter das Niveau der Kontrollgruppe.[5]

Auch die Verhaltensökonomen Ernst Fehr und Armin Falk haben in einer Studie 2002 zeigen können, dass sich finanzielle Anreize kontraproduktiv auf die Motivation auswirken können.[6]

Pädagogik

Wie können Eltern und Lehrer den Effekt der übermäßigen Rechtfertigung vermeiden? Entscheidend ist, welche Botschaft beim Kind ankommt.[7] Wenn man es schon dafür belohnt, sich mit der gewünschten Aufgabe bloß zu beschäftigen (wie in der Studie von Greene, Sternberg und Lepper), tritt der Effekt mit größerer Wahrscheinlichkeit auf, als wenn man es dafür belohnt, die Aufgabe bewältigt zu haben.[8] Leistung zu belohnen darf aber nicht dazu führen, dass sich das Kind unter ständiger kritischer Beobachtung fühlt, weil die dadurch ausgelösten negativen Gefühle („Bewertungsangst“) eine vorher vorhandene intrinsische Motivation ebenfalls zerstören können.[9] Vermeiden sollte man den Vergleich mit Anderen (zum Beispiel Mitschülern); gelobt werden sollte die individuelle Verbesserung.[10] Vor allem sollten Erzieher die Botschaft vermeiden, dass das jeweilige Gebiet (Sportart, Schulfach oder ähnliches) Fähigkeiten erfordert, die man entweder hat oder nicht hat.[11] Optimal ist die Botschaft, dass Anstrengung funktioniert, dass Üben hilft, dass das Kind sich also auf jedem Gebiet verbessern kann, wenn es sich Mühe gibt.

Kulturabhängigkeit

In fernöstlichen Kulturen werden Kinder viel seltener gelobt als in westlichen,[12] während der intrinsische Wunsch, die eigene Leistung zu verbessern, hier stärker ist.[13][14]

Kritik

Die Forschungen zum Korrumpierungseffekt wurden - insbesondere von verhaltensanalytischer Seite - vielfach kritisiert[15][16]. Vor allem wird darauf verwiesen, dass darin nicht zwischen dem "Belohnen" einer Person und dem "Verstärken" eines Verhaltens differenziert wird (zu den Unterschieden siehe hier). Auch das Konzept der intrinsischen Motivation selbst wird als in sich widersprüchlich und unempirisch zurückgewiesen[17].

Nach einer Metastudie von 2001[18] mit 145 Studien lässt sich ein Absinken der intrinsischen Motivation in Folge von Belohnungen in der Regel auf den falschen Einsatz von Verstärkern zurückführen. Alles in allem fassen die Autoren zusammen, dass ihre Metaanalyse keinen Hinweis auf schädliche Wirkungen von Belohnungen erbracht hätte ("In terms of the overall effects of reward, our meta-analysis indicates no evidence for detrimental effects of reward on measures of intrinsic motivation", S. 21). Der Korrumpierungseffekt wird von den Autoren als Mythos bezeichnet.[19] Negative Effekte von Belohnung wurden nur dann gefunden, wenn bei zunächst hohem Interesse deutliche, erwartete (vorher angekündigte) und von der Leistung unabhängige Belohnungen gegeben werden. War das Interesse bereits gering, verringerte sich die intrinsische Motivation durch Belohnung nicht weiter, sondern sie wurde sogar verstärkt. Bei hohem Interesse können verbale Belohnungen die intrinsische Motivation verstärken.

Literatur

  • Harackiewicz, Durik, Barron (Hgs.): Multiple goals, optimal motivation, and the development of interest New York: Cambridge University Press, 2005

Quellen

  1. E. Aronson, T. D. Wilson, R. M. Akert: Sozialpsychologie. Pearson Studium. 6. Auflage 2008. ISBN 978-3-8273-7359-5, S. 142
  2. Bem, D. J. (1967). Self-perception. An alternative interpretation of cognitive dissonance phenomena. Psychological Review, 74, 536 – 537.
  3. Deci, E. L. (1971). Effects of externally mediated rewards on intrinsic motivation. Journal of Personality and Social Psychology, 18, 105 – 115
  4. Deci, E. L., Koestner, R., & Ryan, R. M. (1999). A meta-analytic review of experiments examining the effects of extrinsic rewards on intrinsic motivation. Psychological Bulletin, 125, 627-668. Artikel online (PDF-Datei; 7MB).
  5. Greene, Sternberg und Lepper (1976). Overjustification in a token economy. Journal of Personality and Social Psychology, 34, S. 1219-1234
  6. Ernst Fehr und Armin Falk: „Psychological foundations of incentives“. European Economic Review 46 (2002) S. 687 – 724
  7. J. Henderlong, M. R. Lepper (2002): The effects of praise on children's intrinsic motivation: A review and synthesis. Psychological Bulletin, 128, S. 774-795
  8. E. L. Deci, R. M. Ryan (1985). Intrinsic motivation and self-determination in human behavior. New York, Plenum
  9. J. M. Harackiewicz (1989). Performance evaluation and intrinsic motivation processes: The effects of achievement orientation and rewards. In: Buss & Cantor (Hgs.) Personality Psychology: Recent trends and emerging directions. New York: Springer, S. 128-137
  10. E. Aronson, T. D. Wilson, R. M. Akert: Sozialpsychologie. Pearson Studium. 6. Auflage 2008. ISBN 978-3-8273-7359-5, S. 144
  11. C. S. Dweck (1999). Self-theories: Their role in motivation, personality, and development. Philadelphia: Psychology Press
  12. F. Salili (1996). Learning and motivation: An Asian perspective. Psychology and Developing Societies, 8, S. 55-81
  13. S. J. Heine et al. (1999). Is there a universal need for positive self-regard? Psychological Review, 106, S. 766-794
  14. C. C. Lewis (1995). Educating hearts and minds: Reflections on Japanese preschool and elementary education. Cambridge, UK: Cambridge University Press
  15. Alyce M. Dickinson: The detrimental effects of extrinsic reinforcement on "intrinsic motivation". In The Behavior Analyst. Kalamazoo Mich 12.1989, H.1, S.1–15 (PDF 2,55 MB). ISSN 0738-6729
  16. "social scientists who warn that high pay will ruin the interest and motivation of ... workers, rarely counsel low reward of professional services and creative efforts" (Albert Bandura: Social foundations of thought and action. A social cognitive theory. Prentice-Hall, Englewood 1986. ISBN 978-0138156145, S. 236).
  17. Steven Reiss: Extrinsic and intrinsic motivation at 30. Unresolved scientific issues. In The Behavior Analyst. Kalamazoo Mich 28.2005, H.1, S.1–14 (PDF 2,0 MB). ISSN 0738-6729
  18. Judy Cameron, Katherine M. Banko, W. David Pierce: Pervasive negative effects of rewards on intrinsic motivation. The myth continues. In: The Behavior Analyst. Kalamazoo Mich 24.2001, H.1, S.1–44 (PDF 5,7 MB). ISSN 0738-6729
  19. vgl. dazu auch die Replik von Deci, E., Koestner, R. & Ryan, R. (2001). „The pervasive negative effects of rewards on intrinsic motivation: Response to Cameron“, Review of Educational Research, 71, S. 43-51.

Siehe auch

Weblinks


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