Kontinuitätstheorie (Geschichtswissenschaft)

Kontinuitätstheorie (Geschichtswissenschaft)

Kontinuitätstheorie, ein Begriff aus der Geschichtswissenschaft, bezeichnet im engeren Sinne Vorstellungen bzw. Thesen zur Kontinuität eines bestimmten Gegenstandes über einen bestimmten Zeitraum, so vor allem von kulturellen, sprachlichen oder ethnischen Erscheinungen. Sie ordnen Phänomene verschiedener Zeiten in einen Gesamtzusammenhang ein.

Inhaltsverzeichnis

Verbreitung

Kontinuitätstheorien sind in der älteren Geschichtswissenschaft weit verbreitet und oft mit national(istisch)en und ideologischen Interessen verbunden (worden).

Häufig waren/sind Kontinuitätstheorien dazu bestimmt, nationale Ansprüche zu legitimieren. So wurde die Dako-romanische Kontinuitätstheorie in Rumänien dazu verwendet, den Anspruch der Rumänen auf das ganze Rumänien historisch zu legitimieren. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde z. T. die (zeitweilige) Besiedlung des polnischen Raumes durch germanische Stämme in der Völkerwanderungszeit dazu benutzt, um den Anspruch auf diese Gebiete („alter germanischer Siedlungsboden“) zu rechtfertigen. In diesen Zusammenhang gehört auch die besondere Herausstellung der Silinger als germanisches Volk in Schlesien. In Albanien wird in jüngerer Zeit die Abstammung der Albaner von den Illyrern besonders betont, womit bisweilen, unabhängig von „zwischenzeitlichen“ Wanderungen, der Anspruch auf Teile des historischen Illyriens als „legitimes Recht“ untermauert wird. Ein anderes Beispiel von nationalwirksamer Kontinuitätsbetonung ist die Verbindung der slawomazedonischen Geschichte mit dem antiken Makedonien Phillipps und Alexanders des Großen. Bemerkenswerter Weise reagieren manche griechische Nationalisten ihrerseits darauf mit der Herausstellung des „immer schon“ griechischen Charakters Makedoniens. Ebenso ist die Kontinuitätstheorie des Serben Radivoje Pešić zu bewerten, auch er nimmt eine viel frühere Präsenz der Slawen auf dem Balkan an, als die allgemein akzeptierte. Daher rührt auch seine Behauptung, Homer müsse einen slawischen Dialekt gesprochen haben (Pešić, 1989).

In vielen Nationen spielen Kontinuitätsgedanken eine bedeutsame Rolle für den Nationalstolz. So beziehen z. B. einige türkische Historiker auch die gesamte (vortürkische) Geschichte der heutigen Türkei in die Nationalgeschichte mit ein.

Die in den letzten Jahrzehnten besonders in Asien festzustellenden Bemühungen, eine besonders alte Kulturtradition jeweils für sich zu beanspruchen, stehen in engem Zusammenhang mit der Bedeutung von Kontinuität für die jeweilige Nationalgeschichte, insoweit längst vergangene Kulturleistungen für die jeweils heutige Nation reklamiert werden, so z. B. wenn Indische Historiker die hochkulturellen Anfänge der Induskultur als einer „genuin indischen“ Kultur immer weiter zurückdatieren (mittlerweile auf bis zu 6.000 v. Chr.), oder wenn sich verschiedene südost- und ostasiatische Staaten darum streiten, wo die Anfänge des Reisanbaus zu finden seien.

In einen anderen Zusammenhang gehören Vorstellungen von Kontinuitäten innerhalb kultureller Gruppen, so z. B. die Vorstellung von einer besonderen Kontinuität der antisemitischen Ausrichtung in der deutschen Tradition bei dem Historiker Daniel Goldhagen.

Wissenschaftliche Einordnung

Die Vorstellung historischer Kontinuität allgemein ist in gewisser Hinsicht eine Grundvoraussetzung geschichtswissenschaftlichen Arbeitens, sie findet sich z. B. im Gedanken geschichtlicher Entwicklung, geschichtlicher kausaler Vorgänge wieder und bildet auch eine Voraussetzung des Verstehens vergangener Zeiten. Jedoch ist sie kaum geeignet große kulturelle Zeiträume und Lücken zu überbrücken. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist die Vorstellung historischer Kontinuität auf vielfache Weise kritisiert worden, so z. B. von Michel Foucault. Aus konstruktivistischer Sicht ist Kontinuität immer nur Produkt der Arbeit des Historikers, wenn er Zusammenhänge und Beziehungen herausarbeitet.

Siehe auch

Literatur

  • Allan A. Lund: Germanenideologie im Nationalsozialismus. Zur Rezeption der „Germania“ des Tacitus im „Dritten Reich“. Winter, Heidelberg 1995. ISBN 3-8253-0243-1
  • Jan Hirschbiegel: Die „germanische Kontinuitätstheorie“ Otto Höflers. In: ZSHG 117 (1992), S. 181–198.

Weblinks


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