Konstitutionalismus

Konstitutionalismus

Konstitutionalismus beschreibt

  1. Eine Gesellschaftsform, in der die Rechte und Pflichten der Staatsgewalt (besonders des Monarchen) und der Bürger in einer Verfassung festgelegt sind. Den Beginn dieses historisch-politischen Prozesses markiert die Amerikanische Unabhängigkeitsbewegung.
  2. Eine besondere Phase der deutschen Verfassungsgeschichte von 1814 bis 1918.

So kam es zu zwei Wellen zum Erlass von Verfassungen in deutschen Fürstentümern, zuerst in Süddeutschland ab 1818 (u. a. Bayern 26. Mai 1818, Baden 22. August 1818, Württemberg 25. September 1819), später auch in Norddeutschland (u. a. Hessen 5. Januar 1831, Sachsen 4. September 1831, Braunschweig 12. Oktober 1832, Hannover 26. September 1833). Die Verfassungen der ersten Welle sind als Reaktion auf die Deutsche Bundesakte von 1815 und deren Artikel 13 zu werten. Dort heißt es: „In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden“. Mit der Bundesakte wurde der Deutsche Bund gegründet und mit diesem Artikel wurde es Pflicht für jedes Mitglied, eine Verfassung zu erlassen.

Die süddeutschen Staaten, die hierdurch eine Verletzung ihrer Souveränität durch den Deutschen Bund und eine erneute Stärkung der zuvor entmachteten Landstände befürchteten, erließen daraufhin Verfassungen. Diese wurde teilweise durch die Fürsten oktroyiert, mancherorts aber auch durch Verhandlungen zwischen Fürst und den Ständen beeinflusst (Württemberg, 1819).

Für die zweite Welle ist der Einfluss der „Revolutionsversuche“ von 1830 (Julirevolution in Frankreich und dann auch in deutschen Ländern) für die neu erlassenen Verfassungen verantwortlich. Nachdem sich in England und seit der Julirevolution 1830 auch in Frankreich das parlamentarische Regierungssystem durchgesetzt hat, versuchen die Fürsten einer Revolution von unten durch eine Reform von oben zuvorzukommen. In den neu entstandenen Verfassungen finden sich dabei Zugeständnisse an das Volk (zum Teil Abschaffung der Leibeigenschaft gegen einmalige Zahlungen, Land etc.), denn diese wurden nicht oktroyiert, sondern in Vereinbarung mit den Ständen bzw. deren Vertretungen in Versammlungen erarbeitet. Allerdings gab es auch nach 1830 oktroyierte Verfassungen.

Staatstheoretisch stellt der Konstitutionalismus eine Übergangsform zwischen Absolutismus und parlamentarischer Monarchie dar. Der Konstitutionalismus unterscheidet sich vom Absolutismus durch das Vorhandensein einer Verfassung, die den Monarchen bei der Machtausübung beschränkt. Anders als in der parlamentarischen Monarchie, bei der die Regierung von der Parlamentsmehrheit bestimmt und vom König ernannt wird, ist im Konstitutionalismus der Monarch allein für die Exekutive, also die Wahrnehmung der Regierungsgeschäfte zuständig.

Der deutsche Konstitutionalismus kennzeichnet sich dabei durch fünf charakteristischen Merkmale.

Inhaltsverzeichnis

Das monarchische Prinzip

Die Herrschaft des Monarchen beruht auf dem monarchischen Prinzip. Dieses rechtfertigt die herausragende und unverletzliche Stellung des Monarchen und führt diese wie zu Zeiten des Absolutismus auf das Gottesgnadentum zurück (Friedrich Julius Stahl, 1845). Das monarchische Prinzip besagt, dass der Monarch die Rechtfertigung für sein Handeln in sich selbst trägt. Sie kommt ihm kraft seiner Stellung zuteil und ist ihm weder durch die Verfassung noch durch das Volk oder Dritte eingeräumt. Der König ist Herrscher nicht auf dem Boden der Verfassung, sondern vor der Verfassung. Die Verfassung ist daher nicht Grundlage der Herrschaftsgewalt des Königs, sondern nur deren Beschränkung. Damit ist der Monarch selbst die verfassungsgebende Gewalt (s. unten, Verfassungsgebung), also pouvoir constituant und nicht bloß verfasste Gewalt, pouvoir constitué. Im Hinblick auf die Stellung des Volkes und der Volksvertretung lässt sich zusammenfassend sagen: Während Volk und Volksvertretung für jedes politische Handeln eines verfassungsrechtlichen Titels bedürfen, trägt der Monarch diesen Titel, also die Berechtigung zum Handeln in sich selbst. Anders als jedoch im Absolutismus treten Staat und Staatsoberhaupt förmlich auseinander. Das Staatsgebiet wird der rechtsgeschäftlichen Verfügungsmacht des Herrschers entzogen, sein Privatgut wird vom Staatsgut getrennt.

Typisches Beispiel hierfür ist die Formulierung im Titel II § 1 der bayerischen Verfassung von 1818: „Der König ist Oberhaupt des Staats, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie unter den von ihm gegebenen, in der gegenwärtigen Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen aus“.

Das monarchische Prinzip, das auf die Schlussakte des Wiener Kongress zurückgeht, diente in Reaktion auf revolutionäre und liberale Bestrebungen der Abwehr von jeder Form der Volksrepräsentation.

Verfassungsgebung

Trotz der von ihm ausgehenden Staatsgewalt, unterlag der Herrscher in deren Ausübung den Bindungen der Verfassung. Diese wurde entweder von ihm selbst erlassen (oktroyierte Verfassung) oder im Einvernehmen mit den Vertretern der Stände vereinbart. Entscheidendes Kennzeichen des Konstitutionalismus war, dass die auch einseitig vom König oktroyierte Verfassung nicht mehr einseitig abänder- oder rücknehmbar war. Entsprechende Versuche, wie die Außerkraftsetzung der Verfassung durch König Ernst August von Hannover, 1837, wurden als Rechtsbruch angesehen.

Änderungen der Verfassung bedurften wie jeder Akt der Legislative der Zustimmung von Monarch und Volksvertretung. Merkwürdige Konsequenz war, dass nach Erlass einer Verfassung offenblieb, wer nunmehr Träger der verfassungsgebenden Gewalt (pouvoir constituant) war. Diese besondere Konstellation führte zum preußischen Verfassungskonflikt unter Bismarck.

Organisation der Legislative

Die Gesetzgebung konnte nur durch gemeinsame Zustimmung von König und Volksvertretung erfolgen. Dem König stand daher neben der alleinigen Inhaberschaft der Exekutive eine Teilhabe an der Legislative zu. Für den Umfang der Beteiligung der Volksvertretung war daher entscheidend, inwieweit eine Angelegenheit durch Gesetz geregelt werden musste. Nur in diesem Fall war die Zustimmung der Volksvertretung zwingende Voraussetzung, in allen anderen Fällen oblag dem König als Träger der Regierung die alleinige Zuständigkeit. Als Kriterium für die Beteiligung der Legislative wurde der Vorbehalt des Gesetzes herangezogen. Eine gesetzliche Regelung war immer dann erforderlich, wenn Eingriffe in Eigentum und Freiheit im Raum standen. Der Volksvertretung stand dabei jedoch kein Selbstversammlungsrecht zu, sie konnte auch keine Gesetzesinitiative ergreifen. An diese Stelle trat die Einberufung durch den Monarchen und die Gesetzespetition als Appell an den Monarchen, eine entsprechende gesetzliche Regelung zu erlassen.

Organisation der Exekutive

Regierung und Verwaltung waren das Reservat der Monarchie. Die Minister standen dem Monarchen nicht als Abgesandte der Volksvertretung gegenüber, sondern waren seine, von ihm ernannten Gehilfen. Die Regierung war damit personell und institutionell von der Volksvertretung unabhängig, so dass auch keine Möglichkeit für die Volksvertretung bestand, die Regierung durch Vertrauensentzug zu stürzen (Unterschied zu einer parlamentarischen Monarchie).

Außerhalb des Gesetzesvorbehalts, also insbesondere bei der Verwaltungsorganisation, der Außenpolitik und der Heeresverfassung, war die Kompetenz des Monarchen unbeschränkt. Hinzu kam das Verordnungsrecht, mit dem das oft wichtigere Detail geregelt wurde, das allein in der Hand des Monarchen lag.

Als Bindeglied zwischen Exekutive und Legislative diente allein die Ministerverantwortlichkeit. Die Minister als Ratgeber des Monarchen waren strikt an Recht und Gesetz gebunden, so dass über diesen Umweg auch eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit des monarchischen Handels möglich war. Der Volksvertretung stand dabei das Recht zu, die Anwesenheit der Minister bei Beratungen zu erzwingen (Rechenschaftspflicht). Die württembergische Verfassung kannte auch eine Anklage der Minister vor dem Staatsgerichtshof.

Oberbefehl über das Heer

Dem Monarchen steht der Oberbefehl über das Heer zu. Auf diesen - und nicht etwa die Verfassung - wurde es auch vereidigt. Akte, die aus dem Oberbefehl folgten, galten als gegenzeichnungsfrei, unterlagen also nicht der Zustimmung durch die Volksvertretung.

Siehe auch

Quellen

  • Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 5. Auflage, 2005, C.H.-Beck-Verlag, München.

Weblinks


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