Kleinasiatische Katastrophe

Kleinasiatische Katastrophe
Dieser Artikel behandelt den Griechisch-Türkischen Krieg von 1919/22, für den Türkisch-Griechischen Krieg von 1896/97 siehe dort.

Der Griechisch-Türkische Krieg bezeichnet kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Griechenland, das den Krieg begann, und dem anatolischen Teil des im Ersten Weltkrieg zerschlagenen Osmanischen Reich in den Jahren 1919-1923.

In Griechenland wurde die Niederlage gegen die Türken als Kleinasiatische Katastrophe wahrgenommen, aus türkischer Sicht handelt es sich dagegen um einen Sieg im Türkischen Befreiungskrieg, der als Angriffskrieg verschiedener Westmächte (Griechenland, Großbritannien und Frankreich) seinen Anfang nahm.

Dieser Krieg schloss sich unmittelbar an den Ersten Weltkrieg an, in dem Griechenland seit dem Regierungswechsel 1917 auf Seiten der Entente gegen das Osmanische Reich gekämpft hatte. Als sich im Winter 1918/19 der endgültige Zerfall des Osmanischen Reiches abzeichnete, schien für die griechische Regierung der Zeitpunkt gekommen, die „Megali Idea“ in die Tat umzusetzen: es sollten Teile Kleinasiens, in denen auch Griechen lebten, und auch die teilweise griechisch bewohnten europäischen Restgebiete der Türkei inklusive der Hauptstadt Konstantinopel (heute Istanbul), mit militärischen Mitteln für Griechenland erobert werden.

Am 15. Mai 1919 besetzten griechische Truppen Smyrna und stießen von hier aus weiter nach Anatolien vor. Unmittelbar nach Beginn der Invasion wurden türkische und andere muslimische Zivilisten der Region durch die griechischen Truppen massakriert. Allein am ersten Tag der Invasion wurden etwa 1.000 Zivilisten getötet. Auf Drängen der osmanischen Regierung reiste eine Untersuchungskommission der Pariser Verhandlungsdelegationen ein, die Griechenland später für schuldig befand.[1][2][3]

Mit Duldung und teilweiser Unterstützung der Entente konnte Griechenland große Teile der beanspruchten Gebiete, nicht aber Konstantinopel und die Meerengen, tatsächlich besetzen. Später gewannen die Truppen unter General Mustafa Kemal Atatürk die Oberhand. Die von ihnen geschlagenen griechischen Truppen mussten Kleinasien im Herbst 1922 fluchtartig verlassen.

Der griechische Angriffskrieg und das mit ihm verbundene Trauma zusammen mit der anschließenden Rückeroberung haben Generationen türkischer Dichter und Schriftsteller in ihren Werken beeinflusst. So wurde der von Turgut Özakman geschriebene Roman Şu Çilgin Türkler (deutsch Diese verrückten Türken) millionenfach in der Türkei verkauft.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Mit der Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen unter Mehmed II. herrschten die Osmanen von 1453 bis 1830 über die Griechen. Viele griechisch besiedelte Regionen kamen teilweise erst im Laufe dieser Zeitspanne unter osmanische Herrschaft. Mit der Schwächung des Osmanischen Reiches und dem Erstarken des griechischen Nationalbewusstseins kam es am Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer Unabhängigkeitsbewegung auf dem Gebiet des seit Jahrtausenden von Griechen bewohnten Gebietes. Die Aufstände der Griechen für Freiheit und Unabhängigkeit von der osmanischen Beherrschung konnten von der Hohen Pforte niedergeschlagen werden. 1830 setzten die europäischen Großmächte gegenüber dem Osmanischen Reich ein unabhängiges Griechenland durch. Erst im Balkankrieg von 1912/13 konnte Griechenland gegenüber dem Osmanischen Reich große Landgewinne verzeichnen. Die vorangegangenen Kriege hatte das junge Griechenland verloren.

Siehe auch: Türkisch-Griechischer Krieg

Erster Weltkrieg und Besetzung des Osmanischen Reiches

Hauptartikel: Türkischer Befreiungskrieg

Griechenland schloss sich im Ersten Weltkrieg unter dem Eindruck der Schlacht von Gallipoli erst sehr spät, am 27. Juni 1917, der Entente an. Nach dem Sieg über das Osmanische Reich und seine Verbündeten wurden große Gebiete des Osmanischen Reiches unter den Siegermächten „aufgeteilt“. Griechenland erhielt nach dem Vertrag von Sèvres das Völkerbundmandat über Smyrna (heute İzmir) und das östliche Thrakien. Nach den Plänen des Vertrages sollten daneben ein unabhängiger armenischer Staat im Nordosten und ein kurdischer Staat im Südosten entstehen. Die arabischen Besitztümer des Reiches wurden Frankreich und Großbritannien unterstellt. Italien wurde der Süden der heutigen Türkei zugesprochen. Letztlich sollte der türkische Staat auf eine kleine Region um Ankara beschränkt werden.

Dieser Vertrag wurde von der Regierung des Osmanischen Reiches unterzeichnet. Die sich abzeichnende oppositionelle Bewegung unter General Mustafa Kemal lehnte die Bedingungen des Vertrages ab. Ziel von Mustafa Kemal war die Gründung eines modernen Nationalstaates, der auf die „Kernregionen“ der türkisch besiedelten Gebiete im Osmanischen Reich begrenzt war und damit alle imperialen Gebietsansprüche in Arabien, im Kaukasus und auf dem Balkan aufgab.

In der damaligen Zeit war unter den national gesinnten Griechen die Idee der Megali Idea (Μεγάλη Ιδέα), sehr populär (vergleiche andere nationalistische Ideen wie Panturkismus, Panslawismus). Demnach sollten alle griechisch besiedelten Gebiete in Anatolien und auf dem Balkan in einem großen Nationalstaat vereinigt werden. Die griechische Regierung beschloss daher, gegen das kriegsgeschwächte Osmanische Reich einen Feldzug zu starten, weil dieses nicht bereit war, die im Vertrag von Sèvres Griechenland zugesprochenen Gebietsteile abzugeben. Ziel war die Annexion von Gebieten in Westanatolien und Thrakien mit hohen griechischen Bevölkerungsanteilen. Aber auch Konstantinopel (heute İstanbul) sollte wieder erobert und eventuell später zur neuen Hauptstadt gemacht werden.

Die Belagerung durch griechische Truppen begann am 15. Mai 1919. Zunächst waren die griechischen Soldaten, die mit Waffen und Material von Großbritannien unterstützt wurden, siegreich. Auch Zivilisten in großer Zahl fielen den griechischen Truppen zum Opfer.[4] Griechenland verpflichtete sich später in den Verträgen von Lausanne, Reparationen an die Türkei zu leisten für „Schäden, die aufgrund von gegen das Kriegsrecht verstoßenden Taten der Armee“ entstanden. Allerdings verpflichtete sich die Türkei, in Anbetracht der Umstände des Krieges und der finanziellen Situation Griechenlands, auf diese Zahlungen zu verzichten.[5] Auf Bemühung von Mustafa Kemal lösten die Invasion und das Massaker landesweit Proteste aus. (Mustafa Kemal, damals Inspektor für Anatolien, hatte Schreiben an alle Gouverneure und Armeekommandeure geschickt, landesweit Aktionen zu starten und Protestschreiben an die Alliierten und an die Istanbuler Regierung zu schicken.) [6] Zwischen dem 20. und 23. Mai 1919 kam es zu Massendemonstrationen in Istanbul. Man spielte mit dem Gedanken, das Militärgefängnis Bekirağa, in dem wegen potenzieller Kriegsverbrechen während des Ersten Weltkriegs verdächtigte Osmanen saßen, zu stürmen. Großwesir Damat Ferid, der nach der Invasion Izmirs zurückgetreten aber einige Tage später erneut zum Großwesir ernannt worden war, entließ – aus Furcht vor dieser Gefahr – mehrere Personen aus der Haft [7] und stimmte dem von den Briten lange erwünschten Plan der Verbannung der Inhaftierten nach Malta, die die Prozesse selbst durchführen wollten, zu. Am 28. Mai 1919 holten die Briten 67 Gefangene aus dem Gefängnis Bekirağa und verlegten sie nach Malta.

Es kam dann zur erbittert geführten Schlacht am Pontos im Nordwesten Anatoliens, bei der die Türken unter General Mustafa Kemal den Griechen eine vernichtende Niederlage beibrachten. Die Offensive startete am 24. August 1922 und erreichte am 30. August 1922 ihren Höhepunkt, als die griechischen Linien von den türkischen Truppen durchbrochen wurden. In der Folge dieser Niederlage mussten sich alle griechischen Truppen aus Anatolien zurückziehen. Seit diesem Tag wird der 30. August in der Türkei als „Zafer Bayrami“ („Tag des Sieges“) jedes Jahr gefeiert.

„Kleinasiatische Katastrophe“

Am 9. September 1922 geschah das, was Griechen die „kleinasiatische Katastrophe“ (Μικρασιατική καταστροφή) nennen. Mustafa Kemal Pascha, in Thessaloniki geboren, eroberte mit seinen Truppen Smyrna zurück (heute İzmir). In den ersten Tagen nach der Eroberung wurden 40.000 Einwohner umgebracht und die armenischen und griechischen Viertel der Stadt niedergebrannt. [8]Nun wurde die griechische Bevölkerung und auch der Teil der armenischen Bevölkerung, der dem Völkermord während des Ersten Weltkrieges in Kleinasien – durch die Intervention des deutschen Generals Liman von Sanders – entkommen war, vertrieben. Kurz zuvor war noch ein Teil der griechischen Bevölkerung von englischen Schiffen aus der Stadt evakuiert worden; Schriftsteller wie der Literaturnobelpreisträger Giorgos Seferis und Jeffrey Eugenides machten diese Ereignisse zum Gegenstand ihrer Dichtung.

Die Folgen des verlorenen Krieges waren schwerwiegend, es kam zu Umsiedlungen und Vertreibungen großen Ausmaßes auf beiden Seiten. Tausende von Griechen mussten auch aus dem Pontos fliehen, zehntausende starben auf der Flucht. Das Griechentum in Kleinasien mit einer über 2.500 Jahre alten Geschichte wurde beendet. Auch aus Griechenland mussten tausende von Türken fliehen wobei auch dort zehntausende auf der Flucht starben.

1923 wurde im Vertrag von Lausanne im Einvernehmen beider Regierungen ein Austausch der Bevölkerungen beschlossen. Die Zwangsumsiedlung betraf ca. 1,25 Millionen Griechen und 500.000 Türken. [9] Als ausschlaggebendes Kriterium der Volkszugehörigkeit wurde die Religion festgelegt (orthodox = griechisch, muslimisch = türkisch), die nicht immer der ethnischen Zugehörigkeit entsprach. Durch den Zuzug der Griechen aus dem anatolischen Festland und dem Pontos hatte Griechenland eine Flüchtlingsquote von ca. 25 % zu bewältigen, d.h. jeder vierte Grieche war Flüchtling.

Die meisten der 500.000 Türken, die zwangsumgesiedelt wurden, siedelten zuvor in Nord-Griechenland, Makedonien und auf den ägäischen Inseln, ca. ein Drittel der zwangsumgesiedelten Griechen in der Stadt Smyrna, dem heutigen Izmir. Ausnahmen wurden nur für die Türken im westlichen Thrakien und für die Griechen in Konstantinopel sowie auf den vorgelagerten Inseln Imbros (Gökçeada) und Tenedos (Bozcaada) gemacht. Viele der von der Umsiedlung ausgenommenen Griechen folgten jedoch später ihren vertriebenen Landsleuten, besonders nach den Pogromen an Griechen in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955 und aufgrund der staatlichen Diskriminierungspolitik, Enteignungen und dem gegen den Vertrag von Lausanne verstoßenden Entzug des Aufenthaltsrechts [10], so dass die griechische Gemeinde in Istanbul heute auf geschätzte 2.500 Mitglieder geschrumpft ist. Die Einwohnerzahl der türkischen Gemeinde im griechischen Thrakien ist aufgrund der staatlichen Diskriminierungspolitik, Enteignungen und dem gegen den Vertrag von Lausanne verstoßenden Entzug des Aufenthaltsrechts [11] und Massenausschreitungen gegenüber dieser Minderheit [12], je nach Schätzwert, seitdem ebenfalls geschrumpft oder trotzdem leicht angestiegen. Ihre Zahl wird, je nach Quelle, heute auf 80.000 bis 120.000 geschätzt. Ausländische Schätzungen tendieren dabei eher nach unten, wohingegen paradoxerweise sowohl die Vertreter der türkischen Minderheit als auch die griechische Regierung von bis zu 120.000 sprechen. [13]

Die damaligen Ereignisse bedeuten für viele Türken und Griechen bis heute ein Trauma und sind eine Hauptursache für die teils bis heute schwelenden Ressentiments zwischen beiden Völkern, etwa auf Zypern. Insbesondere litten unter diesen Ressentiments die Minderheiten in beiden Ländern. Auf die blutigen Übergriffe auf die türkischen Zyprer folgte das ebenfalls blutige Pogrom von Istanbul am 6./7. September 1955 gegen die Griechen von Istanbul und eine Diskriminierungspolitik gegen die Griechen Istanbuls, auf die wiederum auch der griechische Staat ab 1955 seine Diskriminierungspolitik gegen die Türken im griechischen Thrakien einleitete. [14]

Siehe auch: Liste der Kriege und Liste von Schlachten

Literatur

  • Louis de Bernières: "Traum aus Stein und Federn", Frankfurt am Main 2005. ISBN 3-10-007125-5
  • Marjorie Housepian Dobkin: "Smyrna 1922: The Destruction of a City", New York (Kent State University Press), 1988 (Neuausgabe). ISBN 0-571-10108-9
  • Garabed Hatscherian: Smyrna 1922, hrsg. v. Dora Sakayan, Klagenfurt-Wien, Kitab, 2006, ISBN 3-902005-87-4
  • Turgut Özakman: Şu Çilgin Türkler (dt:Diese verrückten Türken), ISBN 975-22-0127-X

Einzelnachweise

  1. Paul C. Helmreich From Paris to Sèvres. The Partition of the Ottoman Empire at the Peace Conference of 1919-1920, Ohio 1974, S. 169 ff.
  2. Cemil Bilsel Lozan, Bd. I, S. 261-272
  3. Taner Akcam Armenien und der Völkermord, Hamburg 2004, S. 108
  4. Taner Akcam Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung, Hamburg 2004, S.108; Paul C. Helmreich From Paris to Sèvres. The Partition of the Ottoman Empire at the Peace Conference of 1919-1920, Ohio 1974, S. 169 ff.; Cemil Bilsel Lozan, Bd. I, S. 261-272
  5. [1] Artikel 59
  6. Mustafa Kemal Atatürk: Nutuk (de: Die Rede), Bd. I, 1919-1920, Istanbul 1934, S. 16ff.
  7. Meldung der Zeitung Spectateur d'Orient vom 21. Mai 1919, aus: Vahakn N. Dadrian Genocide as a Problem of National and International Law: The World War I Armenian Case and its Contemporary Legal Ramifications, in: The Yale Journal of International Law, Bd. 14, 1989 S. 284f.
  8. Speros Vryonis: "Greek Labor Battalions Asia Minor", in Richard Hovannisian: The Armenian Genocide. Cultural and Ethical Legacies, New Jersey 2007
  9. Human Rights Watch-Dokument 1990, Seite 1
  10. Human Rights Watch-Dokument 1999, Seite 8
  11. Human Rights Watch-Dokument 1999, Seite 8
  12. Human Rights Watch-Dokument 1990, Seite 20f.
  13. Human Rights Watch-Dokument 1999, Seite 2, Fußnote
  14. Human Rights Watch-Dokument 1999, Seite 8

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