Kieferorthopädie

Kieferorthopädie

Die Kieferorthopädie ist das Teilgebiet der Zahnmedizin, das sich mit der Verhütung, Erkennung und Behandlung von Fehlstellungen der Kiefer und der Zähne (Zahnfehlstellung) befasst. Der Inhalt des Fachbereichs wird besser durch die Bezeichnung Dento-Maxilläre Orthopädie (Kieferregulierung) wiedergegeben. Der Begriff Orthodontie (Zahnregulierung) wird vorwiegend in angloamerikanischen Ländern verwendet.

Die ersten systematischen Lehrbücher über Kieferorthopädie wurden von Norman Kingsley 1880 und von Edward H. Angle, dem „Vater der Kieferorthopädie“, ab 1890 veröffentlicht.

Inhaltsverzeichnis

Klassifikation

Die Klassifikation nach Angle teilt Zahnfehlstellungen in drei Klassen, je nach der Stellung der ersten Molaren zueinander. Diese Klassen werden mit römisch I bis III bezeichnet, wobei Klasse I eine eugnathe, das heißt regelrechte oder neutrale Relation, beschreibt. Klasse II beschreibt eine distale, das heißt eine dorsale (zum Rücken hin gelegen) Lage des ersten Unterkiefer Molaren zum ersten Oberkiefer Molaren. Die Klasse III nach Angle beschreibt eine mesiale Verzahnung der Backenzähne. Sie wird auch Progenie genannt.

Ausbildung (Situation in Deutschland)

Grundsätzlich steht nach der deutschen Approbationsordnung jedem Zahnarzt das gesamte Spektrum der Zahnmedizin offen. Trotzdem gibt es auf dem Gebiet der Kieferorthopädie – wie auf vielen anderen Gebieten der Zahnmedizin – verschiedene Möglichkeiten der postgraduierten Aus- und Weiterbildung.

Tätigkeitsschwerpunkt

Nach Abschluss des Zahnmedizinstudiums ist jeder Zahnarzt berechtigt – in den von der jeweiligen Landeszahnärztekammer bestimmten Grenzen – einen oder mehrere Tätigkeitsschwerpunkte zu definieren.[1]

Master of Science

Der Master of Science Kieferorthopädie kann berufsbegleitend erworben werden.

Kieferorthopäde (Fachzahnarzt für Kieferorthopädie)

Kieferorthopädie ist neben Oralchirurgie, Parodontologie und Öffentlicher Gesundheitsdienst die vierte Fachzahnarztausbildung, die in Deutschland vorgesehen ist. Die Weiterbildung zum „Fachzahnarzt für Kieferorthopädie“[2] hat ganztägig und in Vollzeit zu erfolgen und nimmt drei Jahre in Anspruch. Je nach Zahnärztekammer muss ein viertes Jahr nachgewiesen werden, in dem allgemeinzahnärztlich gearbeitet wurde. In den meisten Kammerbereichen muss mindestens ein Jahr der kieferorthopädischen Weiterbildung in einer Universitätsklinik erfolgen. Nach erfolgter Weiterbildungszeit ist vor einem Prüfungsausschuss der zuständigen Zahnärztekammer eine Fachzahnarztprüfung abzulegen. Nach bestandener Prüfung darf die Berufsbezeichnung geführt werden.[3]

Kritik des Wissenschaftsrates an der Approbationsordnung für Zahnärzte

Im Jahr 2005 hat der Wissenschaftsrat die aktuelle Approbationsordnung für Zahnärzte aus dem Jahre 1955[4] als stark veraltet eingestuft und eine „grundlegende Neuausrichtung“[4] empfohlen, um der fachlichen Weiterentwicklung und „den Anforderungen an eine moderne und interdisziplinär ausgerichtete Lehre Rechnung“ zu tragen.

In der in Arbeit befindlichen Approbationsordnung wird die Zahnmedizin, wie vom Wissenschaftsrat gefordert,[4] an die Humanmedizin angenähert, damit mehr medizinische Aspekte ins Studium einfließen.

Therapiemethoden

Die kieferorthopädische Therapie kann mit herausnehmbaren oder mit festsitzenden Geräten erfolgen. Unabhängig davon ist zwischen der Beeinflussung des Gesichtsschädels und dem Bewegen von Zähnen zu differenzieren.

Funktionskieferorthopädie

Unter Funktionskieferorthopädie, kurz FKO, versteht man die günstige Beeinflussung skelettaler Strukturen durch die gezielte Beeinflussung funktioneller Abläufe. Als Beispiel kann ein Patient mit einer Unterkieferrücklage herangezogen werden, der mit einem funktionskieferorthopädischen Gerät, beispielsweise einem Aktivator behandelt wird. Durch den Aktivator wird der Patient darauf trainiert, seinen zurückliegenden Unterkiefer nach vorn zu schieben. Wird dieser Stimulus lange genug aufrechterhalten, soll es zu einer skelettalen Manifestation kommen, also zu einem über das genetisch determinierte Maß hinausgehenden Unterkieferwachstum.[5] Klassische funktionskieferorthopädische Geräte sind herausnehmbar. Die Einordnung festsitzender Geräte mit ähnlicher Wirkung (z. B. Herbst-Scharnier) in die Gruppe der Funktionskieferorthopädie ist umstritten.

Dentofaziale Orthopädie

Durch das Ausüben von größeren Kräften, in der Regel über 500 cN, auf den Ober- oder Unterkiefer kann eine Wachstumsbeeinflussende Wirkung entfaltet werden. Beispiele stellen die Hemmung des Unterkieferwachstums mittels einer Kopf-Kinn-Kappe[6] sowie die Oberkieferprotraktion mittels einer Delaire- oder Grummons-Maske dar.[7]

Orthodontie

Unter Orthodontie ist, in Abgrenzung zur funktionskieferorthopädischen Beeinflussung skelettaler Strukturen, das Bewegen von Zähnen zu verstehen.[8] Orthodontische Zahnbewegungen können mit herausnehmbaren wie auch mit festsitzenden Apparaturen erfolgen, wobei festsitzende Apparaturen hinsichtlich der durchführbaren Bewegungen und der Behandlungsdauer sowie der Unabhängigkeit von der Mitarbeit des Patienten in der Regel vorteilhaft sind. Orthodontische Maßnahmen können auch lange nach dem Abschluss des Wachstums, also bei Erwachsenen, erfolgen.

Chirurgische Kieferorthopädie

Besteht nach Wachstumsabschluss eine Kieferfehlstellung (Dysgnathie), die nicht durch orthodontische Maßnahmen kompensiert werden kann, ist es möglich, durch eine Operation eine Verbesserung herbeizuführen. Hierbei muss der Kieferorthopäde mit einem Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen zusammenarbeiten. Häufig gliedert sich eine derartige Therapie in drei Phasen:[9]

1. kieferorthopädische Vorbehandlung mit Dekompensation

Liegt eine Kieferfehlstellung vor, so hat sich häufig eine Zahnstellung entwickelt, die diesen skelettalen Fehler zum Teil ausgleicht. Diese Kompensation muss zunächst aufgehoben werden. Dies geschieht normalerweise mit einer festsitzenden Apparatur.

2. chirurgische Intervention

Nach Abschluss der Vorbehandlung erfolgt die chirurgische Kieferverlagerung. Sie ist, je nach Notwendigkeit, für den Ober- und/oder für den Unterkiefer möglich.

3. kieferorthopädische Feineinstellung

Nach der Herstellung einer regelrechten Kieferlage ist es Aufgabe der kieferorthopädischen Therapie, eine gesicherte Okklusion herzustellen.

Stand der Wissenschaft

Das Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) hat in ihren Health Technology Assessment (HTA) – Bericht Mundgesundheit nach kieferorthopädischer Behandlung mit festsitzenden Apparaten[10] unter anderen festgestellt, dass die „Kieferorthopädie als wissenschaftlich bislang unzureichend abgesichert“ anzusehen ist und „... stößt bei der Suche nach wissenschaftlichen Belegen für die Wirksamkeit kieferorthopädischer Maßnahmen auf zahlreiche offene Fragen. Er beanstandet vor allem die dürftige Studienlage zu Auswirkungen auf Zahn- oder Mundgesundheit. Zwischen praktischer Anwendung der Kieferorthopädie und der Erforschung ihrer Wirksamkeit sehen die Autoren eine Kluft. Sie fordern daher dringend Forschungsanstrengungen, um kieferorthopädische Behandlungen zukünftig wissenschaftlich besser begründet einsetzen zu können.“[11]

Einzelnachweise

  1. Mitteilung der Bundeszahnärztekammer zur Angabe von Tätigkeitsschwerpunkten: „Lockerung des Werbeverbots bietet neue Chancen / Tätigkeitsschwerpunkte dürfen künftig auf Praxisschildern ausgewiesen werden, 2. August 2001
  2. Musterweiterbildungsordnung der Bundeszahnärztekammer
  3. Übersicht über Weiterbildungsordnungen der Landeszahnärztekammern: „Landeszahnärztekammern und Weiterbildungsordnungen
  4. a b c Pressemitteilung 05/2005 des Wissenschaftsrat: „Wissenschaftsrat empfiehlt umfassende Reformen für die Zahnmedizin an den Universitäten“, Komplette Drs. 6436/05, 31. Januar 2005 (Internet Archive)
  5. Funktionskieferorthopädie in Praxis der Zahnheilkunde, Kieferorthopädie II, Band 2. Google Buchsuche
  6. Hideo Mitani, Toshihiko Sakamoto: Chin Cap Force to a Growing Mandible – Long-term clinical reports. In: The Angle Orthodontist
  7. Artikelliste im Angle Orthodontist zum Stichwort „Maxillary Protraction“
  8. Bärbel Kahl-Nieke: Einführung in die Kieferorthopädie – Diagnostik, Behandlungsplanung, Therapie, Abschnitt 19.1. Google Buchsuche
  9. Behandlungsphasen in der chirurgischen Kieferorthopädie, Dysgnathiechirurgie
  10. Wilhelm Frank, Karin Pfaller, Brigitte Konta: Mundgesundheit nach kieferorthopädischer Behandlung mit festsitzenden Apparaten. DIMDI HTA-Studie 2008, Berichts-Nr. DAHTA066
  11. DIMDI: Neuer HTA-Bericht sieht Kieferorthopädie als wissenschaftlich bislang unzureichend abgesichert, 22. April 2008 (Internet Archive)

Siehe auch

Literatur

  • Barbara Bückmann: Kieferorthopädie, Stiftung Warentest, ISBN 3868511032.

Weblinks

 Commons: Orthodontics – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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