Karl-Heinz Gerstner

Karl-Heinz Gerstner

Karl-Heinz Gerstner (* 15. November 1912 in Charlottenburg; † 14. Dezember 2005 in Kleinmachnow) war ein deutscher Journalist.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Gerstner war der Sohn des Diplomaten Karl Ritter. Er wurde 1921 Mitglied der Bündischen Jugend und der Pfadfinder, 1931/32 der Jugendorganisation "dj 1.11". Dort gehörte er dem linken, zur KPD tendierenden Flügel an. Er begegnete in diesen Kreisen unter anderem Friedrich Wolf, Harro Schulze-Boysen, Eberhard Koebel (tusk) und Heinrich Graf von Einsiedel. Von 1931 bis 1935 studierte er Jura in Berlin. Er promovierte 1937 an der Universität Erlangen zum Dr. jur. mit einer Dissertation über Treugiroverkehr. 1931 trat er dem Roten Studentenbund bei. Am 1. Mai 1933 wurde er Mitglied der NSDAP unter der Nummer 2.673.178. 1935 war er in der Referendarausbildung am Amtsgericht Rheinsberg und in einem jüdischen Berliner Anwaltsbüro; von 1936 bis 1939 war Gerstner als Referendar an der Handelskammer in Paris tätig. Wegen spinaler Kinderlähmung war er vom Militärdienst befreit. Von 1940 bis 1944 war er Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in der Wirtschaftsabteilung der deutschen Botschaft in Paris.[1]. Gleichzeitig unterstützte er die Résistance durch Nachrichtenübermittlung und Ausstellung von Passierscheinen in die unbesetzte Zone, insbesondere für jüdische Familien. [2] 1944-45 war er Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in Berlin und leistete illegale politische Arbeit in Berlin-Wilmersdorf.

Seit April 1945 war er Stellvertretender Bürgermeister von Berlin-Wilmersdorf. Unter dem Verdacht, ein hoher NS-Beamter in der deutschen Botschaft in Paris gewesen zu sein, wurde er am 24. Juli 1945 von der britischen Militärpolizei verhaftet und der sowjetischen Besatzungsmacht übergeben. Er kam in die NKWD-Untersuchungshaftanstalt in den unterirdischen Tierkadaver-Frischhaltekellern des vormaligen Veterinärmedizinischen Instituts in der Luisenstraße in Berlin-Mitte,[3] von wo aus er am 21. September 1945 in das NKWD-Sperrgebiet in Berlin-Hohenschönhausen verlegt wurde. Es galang ihm, einen geheimen Kontakt per Kassiber mit seiner Frau herzustellen. Sie konnte zahlreiche von ihm erbetene, eidesstattliche französische Erklärungen über seine Zusammenarbeit mit Angehörigen der Résistance und die Rettung jüdischer Familien zusammenstellen. Immer wieder abgewiesen, drang sie schließlich todesverachtend im Kugelhagel der Wachposten ins Sperrgebiet Hohenschönhausen ein und beeindruckte durch ihren Mut die sowjetischen Ermittler derart, dass sie das Entlastungsmaterial zur Kenntnis nahmen. Er wurde daraufhin am 21. Januar 1946 entlassen. Gerstner resümiert: "Ich verdanke ihr mein Leben".[4] Im selben Jahr wurde er Referent in der Deutschen Zentralverwaltung für Außenhandel. Von 1948 bis Mai 1989 war Gerstner Wirtschaftsjournalist der Berliner Zeitung. 1949 zog er auf Wunsch der Redaktion nach Ostberlin, ab März 1953 lebte Gerstner in Kleinmachnow. 1957 wurde er Mitglied der SED. [5]

Von 1955 bis 1988 war er wöchentlicher Kommentator bei einer sonntäglichen Wirtschaftsbetrachtung im Rundfunk der DDR, die er stets mit den Worten „sachlich, kritisch und optimistisch wie immer“ schloss. In der Fernsehsendung Prisma gab er von 1965 bis 1978 Wirtschaftsbetrachtungen, politische Zusammenhänge sowie manche Kritik am sozialistischen Regime zum Besten. Gerstner galt in der DDR als Institution und informierte mit seinen Wirtschaftsbeiträgen in Zeitungen sowie in Rundfunk und Fernsehen ein großes Publikum. Ab 1973 war er in der Berliner Zeitung als Chefreporter tätig.

Mehrmals wurde er vom Publikum als Fernsehliebling gewählt. 1982 wurde ihm der Vaterländische Verdienstorden verliehen. 1987 erhielt er dazu noch die Ehrenspange.

Gerstner trat im Mai 1989 in den Ruhestand und veröffentlichte 1999 seine Autobiografie „Sachlich, kritisch, optimistisch“. Darin schildert er seine Motive, weshalb er in Abstimmung mit dem verbotenen Roten Studentenbund mit 21 Jahren in die NSDAP eintrat [6], ausführlich stellt er seine Tätigkeit in Paris dar [7]. Auch seine Zusammenarbeit mit der HVA des MfS, für das er hauptsächlich über Kontakte mit Diplomaten berichtete, wird beschrieben [8]. Seit 1975 war er für die Staatssicherheit als IM Ritter tätig.

In einem Leserbrief an die Berliner Zeitung widersprach Gerstner der Buchbesprechung von Götz Aly: „Aly behauptet, ich hätte im Buch meine Tätigkeit für die Stasi verschwiegen, was falsch ist... Ich war, was beide Seiten wollten und zu nutzen wussten, ein back-channel.“ [9] Gerstner erwähnt im Buch [10] auch Behauptungen von Simon Wiesenthal auf einer Pressekonferenz 1968 über Nazis in der DDR. [11], Danach habe er in seiner Zeit als Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in Paris eine Broschüre „Verniggertes Frankreich“ geschrieben. In einer Gegendarstellung schrieb Gerstner am 28. Dezember 1990 im FAZ-Magazin: "Es trifft nicht zu, daß ich eine Broschüre "Verniggertes Frankreich" geschrieben habe. Die rassistische Einstellung, die aus diesem Titel hervorgeht, widerspricht total meinen Auffassungen." Erst als Simon Wiesenthal von der Hamburger Anwaltskanzlei Senfft & Kersten mit einer Zeugenvorladung gedroht wurde[12], räumte Wiesenthal in einer schriftlichen Stellungnahme am 12. Januar 2000 ein[13], sich in seinen Äußerungen 1968 auf mündliche Überlieferungen gestützt zu haben, für deren Beleg er über keine Unterlagen verfüge. [14]

Gerstner heiratete 1945 Sibylle Boden, später Gründerin der DDR-Modezeitschrift „Sibylle” und ist Vater der Autorin Daniela Dahn und der Malerin und Schriftstellerin Sonja Gerstner.

Werke

  • Sachlich, kritisch und optimistisch. Eine sonntägliche Lebensbetrachtung, Berlin: Edition Ost, 1999, ISBN 3-932180-78-X (Zweite, veränderte und erweiterte Auflage 2002; unter derselben ISBN) (Rezension von Gerhard Leo)
  • Treugiroverkehr, Ebering, Berlin 1939, Erlangen, Jur. Diss. , [2]

Literatur

  • Götz Aly: Kritisch, optimistisch und verlogen. Vom Nazi zur Stasi, ein Fachmann für Volksaufklärung. In: Götz Aly: Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-10-000419-1.
  • Gabriele Baumgartner (Hrsg.): Biographisches Handbuch der SBZ/DDR 1945–1990. 2 Bände. Saur, München u. a. 1996–1997, ISBN 3-598-11130-4.
  • Gottfried Hamacher. Unter Mitarbeit von André Lohmar: Gegen Hitler. Deutsche in der Résistance, in den Streitkräften der Antihitlerkoalition und der Bewegung „Freies Deutschland“. Kurzbiographien. 2. korrigierte Auflage. Dietz, Berlin 2005, ISBN 3-320-02941-X (Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte 53), (PDF).
  • Maria Keipert (Red.): Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945. Herausgegeben vom Auswärtigen Amt, Historischer Dienst. Band 2: Gerhard Keiper, Martin Kröger: G–K. Schöningh, Paderborn u. a. 2005, ISBN 3-506-71841-X.
  • Gerhard Leo: „Unser Mann in Paris.“ Nachruf in antifa Sept./Okt. 2006, S. 22 online.
  • Bernd-Rainer Barth, Helmut Müller-EnbergsGerstner, Karl-Heinz. In: Wer war wer in der DDR? 5. Ausgabe. Ch. Links Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-86153-561-4, Band 1.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Lexikon: Wer war wer in der DDR, 5. akt. Auflage, März 2010, S. 386
  2. Lexikon ebenda
  3. Peter Erler: "GPU-Keller". Arrestlokale und Untersuchungsgefängnisse sowjetischer Geheimdienste in Berlin (1945-1949), Bund der Stalinistisch Verfolgten, Landesverband Berlin, Berlin 2005, S. 54f., zu Gerstner S. 55
  4. Karl-Heinz Gerstner: Sachlich, kritisch, optimistisch, Berlin 1999, S. 225-231
  5. Lexikon ebenda
  6. Karl-Heinz Gerstner: "Sachlich, kritisch, optimistisch. Eine sonntägliche Lebensbetrachtung", Berlin, 2. Aufl. 2002 S. 88-91)
  7. ebenda S. 108-178
  8. ebenda S. 407-416
  9. Leserbrief, zum Begriff back-channel siehe englische Wiki en:Track II diplomacy
  10. ebenda S. 247-248
  11. Simon Wiesenthal, Rolf Vogel, Deutschland Berichte, Die gleiche Sprache; erst für Hitler, jetzt für Ulbricht, Wien 6. September 1968, S.29 [1]
  12. Schreiben vom 10. Dezember 1999, Simon Wiesenthal-Archiv Wien, Akte Gerstner
  13. ebenda
  14. Olaf Kappelt, Braunbuch der DDR, Nazis in der DDR, Berlin 1981, S.203, zitiert nach: Michael Kubina, Von Utopie, Widerstand und Kaltem Krieg, Münster 2001, ISBN 3-8258-5361-6, S. 178

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно решить контрольную?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Gerstner — ist der Familienname folgender Personen: Anton Gerstner (1823–1898), österreichischer Konditor Franz Gerstner (1857–1937), österreichischer Eisenbahntechniker Franz Anton von Gerstner (1796–1840), böhmischer Ingenieur und Eisenbahnpionier Franz… …   Deutsch Wikipedia

  • Karl Ritter (Diplomat) — Karl Ritter (* 5. Juni 1883 in Dörflas; † 31. Juli 1968 in Murnau am Staffelsee) war deutscher Diplomat, Botschafter in Brasilien, Mitglied der NSDAP, Sonderbeauftragter beim Münchener Abkommen, leitender Beamter im Auswärtigen Amt während des… …   Deutsch Wikipedia

  • Sonja Gerstner — (* 13. Juni 1952 in Berlin; † 8. März 1971 ebenda) war eine deutsche Malerin und Schriftstellerin. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Werke 3 Bedeutung …   Deutsch Wikipedia

  • Liste der Biografien/Ger — Biografien: A B C D E F G H I J K L M N O P Q …   Deutsch Wikipedia

  • Liste von Söhnen und Töchtern Berlins — Diese Liste enthält in Berlin geborene Persönlichkeiten. Ob sie im Weiteren in Berlin gewirkt haben, ist ohne Belang. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Inhaltsverzeichnis 1 Politiker 1.1 A–K …   Deutsch Wikipedia

  • DDR-FS — Der Deutsche Fernsehfunk (DFF), von 1972 bis 1990 Fernsehen der DDR (DDR FS), war das staatliche Fernsehen der DDR. Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 1.1 1950 bis 1956 – Vom Fernsehzentrum zum DFF 1.2 1956 bis 1972 – Vom DFF zum DDR Fernsehen …   Deutsch Wikipedia

  • DDR-Fernsehen — Der Deutsche Fernsehfunk (DFF), von 1972 bis 1990 Fernsehen der DDR (DDR FS), war das staatliche Fernsehen der DDR. Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 1.1 1950 bis 1956 – Vom Fernsehzentrum zum DFF 1.2 1956 bis 1972 – Vom DFF zum DDR Fernsehen …   Deutsch Wikipedia

  • DDR F 1 — Der Deutsche Fernsehfunk (DFF), von 1972 bis 1990 Fernsehen der DDR (DDR FS), war das staatliche Fernsehen der DDR. Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 1.1 1950 bis 1956 – Vom Fernsehzentrum zum DFF 1.2 1956 bis 1972 – Vom DFF zum DDR Fernsehen …   Deutsch Wikipedia

  • DFF 1 — Der Deutsche Fernsehfunk (DFF), von 1972 bis 1990 Fernsehen der DDR (DDR FS), war das staatliche Fernsehen der DDR. Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 1.1 1950 bis 1956 – Vom Fernsehzentrum zum DFF 1.2 1956 bis 1972 – Vom DFF zum DDR Fernsehen …   Deutsch Wikipedia

  • DFF 2 — Der Deutsche Fernsehfunk (DFF), von 1972 bis 1990 Fernsehen der DDR (DDR FS), war das staatliche Fernsehen der DDR. Inhaltsverzeichnis 1 Geschichte 1.1 1950 bis 1956 – Vom Fernsehzentrum zum DFF 1.2 1956 bis 1972 – Vom DFF zum DDR Fernsehen …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”