Jürgen Grässlin

Jürgen Grässlin

Jürgen Grässlin (* 18. September 1957 in Lörrach) ist ein deutscher Pädagoge, Publizist und pazifistischer Friedensaktivist.[1]

Grässlin gilt seit den 1990er Jahren als „Deutschlands wohl prominentester Rüstungsgegner“[2] oder „Deutschlands bekanntester Rüstungsgegner“.[3] Reportagen beschrieben ihn auch als „Deutschlands hartnäckigsten Rüstungsgegner“,[4] der „Allein gegen die Waffenindustrie“[5] kämpfe. Er veröffentlichte zahlreiche Sachbücher über die Automobil- und Rüstungsindustrie sowie die Bundeswehr und ist Vorstand oder Sprecher mehrerer rüstungskritischer Organisationen, darunter der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK, seit 1999).

Inhaltsverzeichnis

Leben

1960 zog Grässlins Familie nach Freiburg im Breisgau, wo er nach dem Abitur an der dortigen Pädagogischen Hochschule studierte. Das Studium wurde 1978 durch den Grundwehrdienst unterbrochen, den er jedoch nach fünf Monaten abbrechen konnte. Die Bundeswehr hatte erkannt, dass sie an dem aktiven Pazifisten wenig Freude haben würde und entließ ihn aus gesundheitlichen Gründen. 1982 trat er in den Realschuldienst.

Ab 1983 engagierte sich Grässlin gegen Waffentransfers von Heckler & Koch (H&K) und anderen Rüstungsfirmen und gründete 1989 am H&K-Hauptsitz Oberndorf am Neckar das Rüstungs-Informationsbüro Oberndorf (RIO).

Mit seinem Umzug nach Freiburg ging das RIO in das 1992 von ihm mitbegründete RüstungsInformationsBüro (RIB e. V.) über. Anfangs als RIB-Vorsitzender und heute als RIB-Vorstandsmitglied tritt Grässlin für den Stopp aller Rüstungsexporte ein. Die RIB-Kampagne gegen die Einführung des H&K-Sturmgewehrs G11 bei der Bundeswehr wurde vom Ende des Kalten Krieges überholt, trug aber zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Rüstungsprojekte bei. RIB beherbergt mittlerweile ein umfangreiches Archiv zur Rüstungsproduktion und -exporten, das für die Friedensbewegung auch militärische Fachinformationen erschließt.

Seit Mitte der 1990er Jahre veröffentlichte Grässlin mehrere Bücher über die Rüstungsindustrie. „Den Tod bringen Waffen aus Deutschland“ (1994) und „Versteck dich, wenn sie schießen“ (2003) beschreiben schwerpunktmäßig Rüstungsexporte und Lizenzvergaben von H&K-Waffen in Dritte-Welt-Staaten anhand konkreter Fallbeispiele. Für seine Recherchen zu letzterem Buch folgte Grässlin dem Weg deutscher Waffen in Bürgerkriegsgebiete und führte in Somaliland und in der Türkei 220 Interviews mit Opfern deutscher Gewehrexporte.

1997 veröffentlichte er „Lizenz zum Töten? – Wie die Bundeswehr zur internationalen Eingreiftruppe gemacht wird“ und stellte darin die im gleichen Jahr von ihm ins Leben gerufene internationale Abrüstungsinitiative „Fünf für Frieden“ zur Kürzung der Rüstungsetats um jährlich um mindestens fünf Prozent vor. Dieses unter anderem vom Friedensnobelpreisträger José Ramos-Horta unterstützte Projekt findet heute seine Fortsetzung in der Kampagne „Schritte zur Abrüstung“ der DFG-VK.

2010 stellte Grässlin Strafanzeige gegen H&K, da das Unternehmen 2006 illegal Sturmgewehre des Typs HK G36 in die mexikanischen Unruheprovinzen Chiapas, Chihuahua, Guerrero und Jalisco geliefert haben soll. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart eröffnete darauf ein Ermittlungsverfahren gegen Verantwortliche bei H&K [6] und durchsuchte am 21. Dezember 2010 die Geschäftsräume der Firma wegen des Verdachts von „Verstöße[n] gegen das Kriegswaffenkontroll- und gegen das Außenwirtschaftsgesetz“.[7]. Zudem legte das Bundeswirtschaftsministerium die Exportgenehmigungen vom H&K für Mexiko vorerst auf Eis.[8]

Grässlin war Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und kandidierte 1994 und 1998 für diese bei den Bundestagswahlen. Nachdem seine Partei dem seiner Ansicht nach „grundgesetz- und völkerrechtswidrigen Kosovo-Kampfeinsatz“ und Rüstungsexporten zugestimmt hatten, trat er dort im Juli 2000 aus und ist seitdem parteilos.[9] Mit der Abkehr von der Parteipolitik verstärkte Grässlin sein Engangement in pazifistischen Organisationen. Seit 1999 ist er einer der Bundessprecher der DFG-VK.

Anfang der 1990er Jahre gründete Grässlin mit anderen den „Dachverband Kritischer AktionärInnen Daimler“ (KAD) und ist seiher einer seiner Sprecher. Beginnend mit „Daimler-Benz – Der Konzern und seine Republik“ verfasste Grässlin vier Bücher über den Daimler-Konzern. Für seine Biografie über Jürgen Schrempp, den langjährigen Daimler-Chefs, recherchierte er weltweit und führte dabei zahlreiche Interviews z.B. mit dem damaligen Weltbankpräsidenten James Wolfensohn. Schrempp autorisierte zwar die Zitate der Biografie „Jürgen E. Schrempp. Der Herr der Sterne“ (1998), empfand das Buch im Nachhinein jedoch als zu kritisch. Die bisher einzige Biografie über Schrempp wurde in mehrere Sprachen übersetzt und fand internationale Verbreitung.

Für die Biografie „Ferdinand Piëch. Techniker der Macht“ (2000) über den VW-Chef verweigerte dieser jegliche Zusammenarbeit. Grässlin kontaktierte bei seinen Recherchen daraufhin nach eigenen Angaben ehemalige VW-Vorstandsmitglieder, die wegen ihrer Ausscheidungsverträge lediglich auf vertraulicher Basis Auskunft gaben.

Im Jahr 2002 begründete Grässlin mit anderen Friedensaktivisten das „Deutsche Aktionsnetz Kleinwaffen Stoppen“ (DAKS), zu deren Bundessprechern er bis heute zählt. Das DAKS thematisiert die Unterstützung der deutschen Politik für Exporte von Kleinwaffen und die führende Rolle deutscher Kleinwaffenproduzenten. Mit den finanziellen Erlösen seiner zahlreichen Buchlesungen gründete Grässlin den DAKS-Fonds zur Unterstützung der politischen Arbeit für Opfer des Einsatzes deutscher Kleinwaffen.

DaimlerChrysler versuchte erfolglos, auf das Erscheinen von Grässlins Buch „Das Daimler-Desaster“ (2005) Einfluss zu nehmen. Das Werk erreichte im Frühjahr 2006 den ersten Platz der deutschen Bestsellerlisten für Wirtschaftssachbücher.

Schrempp und Daimler verklagten 2006 Grässlin auf Unterlassung, da dieser Zetsche mit Rüstungsgeschäften auf dem grauen Markt in Verbindung gebracht hatte. Die Klage wurde letztinstanzlich vom Bundesgerichtshof abgewiesen.[10] Im Dezember 2006 stellte Grässlin seinerseits Strafanzeige gegen Schrempps Nachfolger Dieter Zetsche und andere Daimler-Manager wegen des Verdachts der Falschaussage. Aufgrund der Anzeige wurde gegen einen der Beschuldigten Anklage erhoben,[11] die in zweiter Instanz mit einem Freispruch endete.[12]

Als 2010 einige Berliner DFG-VK-Mitglieder mit einer politischen Aktion Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Berlin auslösten und diese von Grässlin die Herausgabe der Namen forderte, gab Grässlin nach und rechtfertigte dies mit dem „Schutz der 4500 DFG-VK-Mitglieder, deren Daten im Fall einer Durchsuchung unseres Büros in die Hände der Staatsanwaltschaft gefallen wären.“[13]

Grässlin ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt in Freiburg.

Auszeichnungen

Mitgliedschaften und Funktionen

Funktionen:

  • Bundessprecher und vertretungsberechtiges Vorstandsmitglied der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen
  • Sprecher der Kritischen AktionärInnen DaimlerChrysler (KDAC)
  • Sprecher des Deutschen Aktionsnetzes „Kleinwaffen Stoppen“ (DAKS)
  • Vorstandsmitglied des RüstungsInformationsBüro e. V. (RiB e. V.)

Mitgliedschaften:

Publikationen

  • Jürgen Grässlin: Den Tod bringen Waffen aus Deutschland. Droemer Knaur, München 1994, ISBN 3-426-80029-2.
  • Jürgen Grässlin: Daimler-Benz. Der Konzern und seine Republik. Droemer Knaur, München 1995, ISBN 3-426-80064-0.
  • Jürgen Grässlin: Lizenz zum Töten? Wie die Bundeswehr zur internationalen Eingreiftruppe gemacht wird. Droemer Knaur, München 1997, ISBN 3-426-80081-0.
  • Jürgen Grässlin: Jürgen E. Schrempp. Der Herr der Sterne. Droemer, München 1998, ISBN 3-426-27075-7.
  • Jürgen Grässlin: Ferdinand Piëch. Techniker der Macht. Droemer, München 2000, ISBN 3-426-27182-6.
  • Jürgen Grässlin: Versteck dich, wenn sie schießen. Die wahre Geschichte von Samiira, Hayrettin und einem deutschen Gewehr. Droemer Knaur, München 2003, ISBN 3-426-27267-9.
  • Jürgen Grässlin: Das Daimler-Desaster. Vom Vorzeigekonzern zum Sanierungsfall?. Droemer, München 2005, ISBN 3-426-27267-9.
  • Jürgen Grässlin: Abgewirtschaftet?! Das Daimler-Desaster geht weiter. Knaur Tb., München 2007, ISBN 3-426-77977-3.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Rüstungsgegner. Gewehre im Visier. (Nicht mehr online verfügbar.) In: Stuttgarter Zeitung. 28. November 2009, ehemals im Original, abgerufen am 28. November 2009.
  2. Stefan Scheytt: Allein gegen die Waffenbauer. Ein schwäbischer Pazifist attackiert die Rüstungsindustrie. In: Spiegel Special. 1. November 1995, S. 85f., abgerufen am 14. November 2011.
  3. Roger Willemsen: Roger Willemsen fragt. „Haben Sie je eine Waffe verhindert?“ In: ZEITmagazin. 5. November 2009, abgerufen am 14. November 2011. Auch: Bernhard Walker: Grässlin fordert Verbot von Waffenexporten. Der Freiburger erhält den Aachener Friedenspreis. In: Badische Zeitung. 7. Mai 2011, abgerufen am 14. November 2011. Michael Klarmann: Viele deutsche Unternehmen profitieren vom Geschäft mit dem Waffentod. In: Telepolis. 29. August 2011, abgerufen am 14. November 2011. Vgl. Jürgen Grässlin – Waffen in alle Welt aus Baden-Württemberg. In: attac-netzwerk.de. Attac Singen, abgerufen am 14. November 2011: „Jürgen Grässlin ist wohl der prominenteste und einer der kompetentesten Rüstungsexperten in Deutschland.“
  4. Sonja Heizmann: Kampf ohne Waffen – Der Rüstungsgegner Jürgen Grässlin. In: Deutschlandradio Kultur. 12. September 2010, S. 10, abgerufen am 14. November 2011 (PDF).
  5. Informationen des WDR zum Film »Allein gegen die Waffenindustrie. Der Kampf des Jürgen Grässlin« am 25.09.2009 im Schulfernsehen. In: juergengraesslin.com. Abgerufen am 14. November 2011. Vgl. Sendung: Allein gegen die Waffenindustrie - Der Kampf des Jürgen Grässlin. In: planet-schule.de. SWR/WDR, abgerufen am 14. November 2011.
  6. Tödliche Exporte. Die Rüstungsschmiede Heckler & Koch soll illegal mexikanische Unruheprovinzen beliefert haben. In: DER SPIEGEL Nr. 33 vom 16. August 2010, S. 73.
  7. Ermittler durchsuchen Büros von Heckler & Koch. In: Spiegel Online vom 21. Dezember 2010.
  8. Mexiko: Heckler&Koch darf keine Waffen mehr liefern, Handelsblatt vom 12. Januar 2011
  9. Austrittserklärung Bündnis 90/Die Grünen. In: juergengraesslin.com, 24. Juni 2000, abgerufen am 14. November 2011.
  10. Entscheidung des Bundesgerichtshofes, Urteil des VI. Zivilsenats vom 22. September 2009 – VI ZR 19/08 –
  11. Wegen Meineids. Ex-Daimler-Manager verurteilt. (Nicht mehr online verfügbar.) In: Stuttgarter Zeitung. Ehemals im Original, abgerufen am 5. September 2010.
  12. Meineid-Prozess. Freispruch für Jürgen Fahr. In: Autohaus.de, 7. Mai 2010, abgerufen am 14. November 2011.
  13. Ein Führungsmitglied der DFG-VK denunzierte Berliner Mitglieder an die Staatsanwaltschaft. In: Junge Welt, 11. Mai 2010.
  14. Aachener Friedenspreis für Freiburger Friedensaktivisten Jürgen Grässlin, stern.de, 6. Mai 2011; Aachener Friedenspreis e.V.: Die Preisträger 2011

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