Anagnorisis

Anagnorisis

Anagnorisis (griechisch „Wiedererkennung“) bezeichnet in der griechischen und römischen Literatur den Umstand, dass sich zwei Personen wiedererkennen.

Besonders häufig ist die Anagnorisis in der Tragödie (und dort vor allem bei Euripides), doch gibt es solche Szenen auch schon im Homerischen Epos (so z. B. in der Odyssee, als Odysseus von seiner Magd Eurykleia wiedererkannt wird und schließlich von seiner Gattin Penelope.) Oft haben sich die Beteiligten jahrelang nicht gesehen, was das anfängliche Nicht-Erkennen glaubhaft macht. Die Wiedererkennung gelingt schließlich durch bestimmte Erkennungszeichen (gr. gnorismata): In der Iphigenie bei den Taurern erkennt Iphigenie Orest an einem Brief. Die Wiedererkennung geschieht bisweilen an entscheidenden Stellen des Dramas und bewirkt dann eine Peripetie (einen Umschwung der Handlung) (so ist Iphigenie kurz davor, Orest zu töten, bevor sie ihn erkennt – danach flieht sie mit ihm zusammen nach Hause).

Auch in der Komödie wird die Anagnorisis verwendet, so bei Plautus z. B. in den Menaechmi (wo Zwillinge nach der Geburt an verschiedenen Orten aufgezogen werden, ohne von der Existenz des Anderen zu wissen; Einer findet den Anderen nach vielfachen komischen Verwechslungen wieder), und im Poenulus (in dem zwei karthagische Mädchen verkauft werden und von ihrem sie suchenden Vater als Hetären eines Kupplers wiedererkannt werden).

Inhaltsverzeichnis

Anagnorisis bei Aristoteles

Nach der Poetik des Aristoteles (Kap. 11) ist die Anagnorisis eines der drei Grundelemente (gr. mére, „Teile“) des komplizierten (wörtl. verflochtenen) Plots (gr. mythos peplegménos) – neben Peripetie und schwerem Leid (pathos). Er definiert sie als Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis (gr. ex ágnoias eis gnôsin metabolé). Aristoteles fasst demnach den Begriff weiter und versteht darunter auch das Wiedererkennen von Gegenständen sowie die Erkenntnis, dass jemand etwas getan hat oder nicht getan hat. Auch Ödipus' Einsicht, dass er selbst der Mörder seines Vaters war (in Sophokles' König Ödipus), sieht Aristoteles als Anagnorisis an. Am besten sei die Anagnorisis von Personen, insbesondere, wenn sie gemeinsam mit der Peripetie eintrete wie im König Ödipus). So könne sie am meisten phobos und eleos erregen.

Die Anagnorisis ist auch in der neuen Komödie beliebt; dort dient sie dazu, eine verwickelte Handlung letztlich zu einem guten Ende zu führen (z. B. in den Epitrepontes Menanders).

moderne Beispiele

Auch in der modernen Literatur und im Film wird das Motiv der Anagnorisis gelegentlich verwendet. In Stanley Kubricks Film "Clockwork Orange" beispielsweise ist der Schlüsselmoment des Films, wenn die Hauptfigur Alex von seinem früheren Opfer anhand seines Pfeifens als der Mörder seiner Frau wiedererkannt wird.

Literatur

  • Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verbesserte und erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 2001. ISBN 3-520-23108-5
  • Plautus: T. Macci Plauti Comoediae, rec. & crit. W. M. Lindsay, 2 Bde. Oxford 1905. ISBN 0-19-814629-9

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Anagnorisis – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

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  • Anagnorisis — An ag*nor i*sis, n. [Latinized fr. Gr. ?; ? + ? to recognize.] The unfolding or d[ e]nouement. [R.] De Quincey. [1913 Webster] …   The Collaborative International Dictionary of English

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  • anagnórisis — {{#}}{{LM A02255}}{{〓}} {{[}}anagnórisis{{]}} ‹a·nag·nó·ri·sis› {{◆}}(pl. anagnórisis){{◇}} {{《}}▍ s.f.{{》}} {{♂}}En una obra teatral o narrativa, especialmente en el teatro clásico,{{♀}} reconocimiento de la verdadera identidad de un personaje:… …   Diccionario de uso del español actual con sinónimos y antónimos

  • anagnorisis — noun (plural anagnorises) Etymology: Greek anagnōrisis, from anagnōrizein to recognize, from ana + gnōrizein to make known; akin to Greek gnōrimos well known, gignōskein to come to know more at know Date: circa 1800 the point in the plot… …   New Collegiate Dictionary

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