John/Joan-Fallstudie

John/Joan-Fallstudie

David Reimer (* 22. August 1965 in Winnipeg, Kanada als Bruce Reimer; † 4. Mai 2004 ebenda) war ein kanadischer Staatsbürger. Er ging als der John/Joan-Fall in die Wissenschaftsgeschichte ein.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Von Bruce zu Brenda

Bruce und Brian Reimer wurden als eineiige Zwillinge geboren. Im Alter von sechs Monaten stellte man bei beiden eine Vorhautverengung fest und operierte sie knapp zwei Monate später, am 27. April 1966. Die Beschneidung missglückte jedoch bei Bruce und sein Penis wurde irreparabel beschädigt. Seine Eltern entschieden sich daher auf Rat des bekannten Sexualwissenschaftlers John Money, das Kind als Mädchen aufzuziehen. Im Alter von 22 Monaten wurden Bruce die noch vorhandenen Hoden entfernt (Kastration) und aus der Haut seines Hodensacks rudimentäre Schamlippen geformt, darüber hinaus wurde das Kind mit weiblichen Hormonen behandelt. Bruce wurde ab diesem Zeitpunkt Brenda genannt.

Money war von diesem Fall besonders begeistert, da Bruces eineiiger Zwillingsbruder Brian als Vergleich für Moneys These dienen konnte, nach welcher allein die Erziehung in den frühen Lebensjahren für die Ausprägung einer sexuellen und geschlechtsspezifischen Identität eine Rolle spielt. Brenda wurde nach dieser Zuweisung von Money als „normales, glückliches Mädchen“ beschrieben. Brenda selbst sowie Familie und Freunde jedoch beschrieben sie als ein zutiefst unglückliches Kind mit großen sozialen Problemen.

Von Brenda zu David

In der Pubertät, die durch künstliche Hormone ausgelöst werden sollte, kam es zu einer Krise. Als Brenda erfuhr, dass sie als Junge geboren worden war, lebte sie ab sofort wieder als Junge und nannte sich fortan David. Später heiratete er und adoptierte die Kinder seiner Frau.

Leben als David und Tod

David Reimer beging am 4. Mai 2004, im Alter von 38 Jahren, Suizid. Seine Mutter gab gegenüber der New York Times an, David habe wohl keinen Sinn mehr in seinem Leben gesehen, nachdem er und seine Frau sich getrennt hatten und er seine Arbeitsstelle verlor. Außerdem war er über den Tod seines Zwillingsbruders Brian zwei Jahre zuvor noch nicht hinweggekommen, der am 1. Juli 2002 aufgrund einer Medikamentenvergiftung verstarb. Ob die Überdosis versehentlich oder in suizidaler Absicht genommen wurde, ist nicht eindeutig geklärt. Davids Mutter sagte aber auch, dass sie glaube, dass ihr Sohn noch am Leben wäre, wenn er nicht das Opfer jenes unglücklichen Experiments geworden wäre, das bei ihm so viel Leid verursachte.

David-Reimer-Fall

Soziale Auswirkungen und Auswirkungen auf die Medizin

Money propagierte den Fall John/Joan noch jahrelang als durchschlagenden Erfolg seiner Theorie, dass das Identitätsgeschlecht eines Menschen erst mit etwa drei Jahren entwickelt und vorher beliebig veränderbar sei, obwohl ihm bekannt war, dass das Experiment längst gescheitert war. Die Theorien Moneys waren immer umstritten, insbesondere Milton Diamond hat viele davon widerlegt.

Money hörte erst damit auf, als sich David Reimer entschloss, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, um anderen Kindern das gleiche Schicksal zu ersparen. Seine Lebensgeschichte schilderte er, zusammen mit dem Autor John Colapinto, in Der Junge, der als Mädchen aufwuchs.

Obwohl später gescheitert, feierte John Money das Experiment als einen starken Beweis dafür, dass geschlechtliche Rollenzuweisungen ein soziales Konstrukt sind. Alice Schwarzer verwendete dies 1975 in ihrem Buch Der kleine Unterschied als Beleg für ihre Thesen des Gleichheitsfeminismus und als Musterbeispiel für den „aufklärenden Auftrag der Forschung“. [1] Eva Herman nahm dazu kritisch Stellung in ihrem Buch Das Eva-Prinzip.

Aufarbeitung

Die BBC hat den Fall dokumentiert und am 7. Dezember 2000 erstmals unter dem Titel The Boy who was Turned into a Girl ausgestrahlt. Eine aktualisierte Fassung („Dr. Money and the Boy with no Penis”) zeigte der Sender VOX in deutsch unter dem Titel „BBC Exklusiv: David Reimer – der Mädchenjunge” am 7. April 2005.

In der Literatur wurde dieses Motiv im Roman Die Wespenfabrik von Iain Banks aufgegriffen, es ist jedoch nicht bekannt, ob der Roman von der Person David Reimers inspiriert wurde.[2]

John Money und frühere Anhänger seines Zwillingsexperiments wie die Feministin Alice Schwarzer und der Hamburger Sexualforscher Gunter Schmidt lehnten auch angesichts des Suizids von David Reimer und des Todes seines Bruders eine Korrektur ihrer früheren Bewertungen ab.[3]

John Money hat im Rahmen seines Konzepts „Geschlechtsneuzuweisung” eine unbekannte Anzahl weiterer Jungen psychisch und operativ zu Mädchen verwandeln lassen. Er hatte dazu als Leiter der Psychologie am Johns-Hopkins-Krankenhaus eine darauf spezialisierte Klinik errichtet, die von seinem Nachfolger 1979 geschlossen wurde. Einige der ehemaligen Patienten fanden sich in Selbsthilfegruppen zusammen.[4]

Money ging von der Grundannahme aus, ein Mensch besitze keine von Geburt an festgelegten geschlechterspezifischen Verhaltensweisen. Das biologische Geschlecht (sex) habe nichts mit dem sozialen Geschlecht (gender) zu tun. Obwohl sein Experiment an den Reimer-Zwillingen scheiterte, hielten er und seine Anhänger an der Grundthese fest. Antifeministen und andere Kritiker des „Gender Mainstreaming” führen häufig an, Gender Mainstreaming baue auch auf Moneys Thesen auf.[5]

Literatur

  • John Colapinto: Der Junge, der als Mädchen aufwuchs. Walter-Verlag, 2000, ISBN 3-53042154-5

Film

  • In einer Pseudo-Doku wurde das David Reimer-Motiv aufgegriffen. Als Täter stellt sich ein junger Mann heraus, der seit seinem 2. Lebensjahr als Mädchen erzogen wurde und mit 11 Jahren der Penis entfernt wurde. Nach dem Mord an dem (verantwortlichen) Arzt und dem (behandelnden) Psychiater begeht er Selbstmord. Zuvor wurde er als 18-Jähriger durch seine Schwester über seine Lebensgeschichte informiert, die ein Gespräch der Eltern zufällig belauscht hatte.[6]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Der kleine Unterschied, 1975, Seite 192f.
  2. In „Wespenfabrik“ geht es um den umgekehrter Fall: Eine biologisch weibliche Person wird als Junge/Mann erzogen.
  3. Bettina Röhl: „Der Sündenfall der Alice Schwarzer? Das schreckliche Schicksal der Zwillingsbrüder Reimer.”, Cicero Online Spezial
  4. Volker Zastrow, „Gender Mainstreaming – Der kleine Unterschied”, FAZ, Nr 208, 2006, Seite 8
  5. Heide Oestreich, „Vorsicht vor kastrierenden Lesben.”, TAZ am 10. Januar 2007, S. 13
  6. Nicht Fisch, nicht Fleisch Niedrig und Kuhnt – Kommissare ermitteln vom 9. Oktober 2008

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